glossen: rezensionen
  Bernd Wagner, Paradies. Roman (Berlin: Ullstein Verlag, 1997), 440 Seiten.

Wie der vom Feuilleton nach wie vor angemahnte "große" Wenderoman auszusehen hat und was man sich denn nun eigentlich unter einem solchen opus magnum vorstellen soll, darüber nachzudenken hat diese Rezensentin längst aufgegeben. Auf alle Fälle gibt es eine Wenderomanliteratur mit guten künstlerischen Beiträgen. Man denke u.a. an Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen, Thomas Brussigs Helden wie wir und Ingo Schulzes Simple Storys. Auch Bernd Wagners Deutschlandroman Paradies gehört in diese Gruppe gelungener Zeitdokumente, ist ein weiteres Beispiel eines mit Humor gestalteten deutsch-deutschen Abenteuerromans, dessen Komik aus der Froschperspektive des Narrenblicks "von unten" schöpft.

Das, was auf den ersten Blick Langatmiges zu sein scheint, nämlich der schier nicht enden wollende Redeschwall einer berichtenden, durch Tablettenentzug kranken und entrückten “Verrückten” aus der ehemaligen DDR, erweist sich bei langsamerem Lesen bzw. beim Sich Einlesen als ein Sammelsurium feinsinnig präziser Einzelbeobachtungen, die zu ordnen dem Leser obliegt. Das wird in einem "Prolog" sofort klar gemacht. So will es der fiktive Erzähler William, der an der Wortmasse der Tonbandprotokolle, aus der er einen Roman herausschälen soll, achselzuckend scheitert und dieses Projekt dann mit kaum ernst zu nehmender Resignation an den Leser zur Bearbeitung weiterreicht. Der Leser ist also mit den nun folgenden sechs “Nachtgeschichten” des Reiseberichtes der Judith Mehlhorn konfrontiert, den gebrochenen Erzählperspektiven, dem Wirrwarr, den Täuschungen, Enttäuschungen, deutsch deutschen Mißverständnissen, dem (noch nicht) Zusammenpassen der beiden deutschen Teile. Doch auch all das kann man letztlich nicht allzu ernst nehmen, denn Humor distanziert, neutralisiert. Lachen zielt auf deutsch-deutsche Toleranz, die auf Unterschieden fußt. Das Konzept eines paradiesischen Utopia, das der Titel suggeriert, wird durch die auf dem Umschlag dargestellten Bananen -- stereotypes Wunschobjekt der Ostler -- von Anfang an satirisch auf den Boden der Realität zurückgeholt.

Judith, eine Geräuscharchivarin beim ehemaligen DDR-Rundfunk, im weiteren ausgeprägte Individualistin und Exzentrikerin, steigt aus der DDR aus. Ihr schweres Rheumaleiden dürfte mit Absicht falsch behandelt worden sein, um die Unangepaßte im wahrsten Sinne des Wortes lahmzulegen. Die sehr persönlichen DDR-Erlebnisse der Heldin sind Teil einer Erfahrungssphäre, in der mit überzogener Wucht auch die alternative Künstlerszene am Prenzlauer Berg parodiert wird. Das wirkt forciert; weniger wäre besser, dem Roman bekömmlicher gewesen. Der wirklich komische und unterhaltsame Teil beginnt mit der Erkundungsreise der wissensdurstigen Heldin in den Westen. Nach der Wende endlich schmerzfrei, macht Judith Mehlhorn sich im Jahre 1992 mit ihrem westdeutschen Freund Konrad, einem Sozialhilfeempfänger, in einem Kleinbus auf eine Entdeckungsreise in die alte Bundesrepublik auf, ins “Altzehnland”, wie sie diese nennt. Und hier beginnen die seltsamen Abenteuer der staunenden DDR-Törin, der man bereits in jungen Jahren von schulischer Seite einen “Hang zum Niederen” attestiert hat. In dem für sie neuen “Altzehnland” ist sie nun allerdings genauso unangepaßt wie sie es “Neufünfland,” der alten DDR, war. Die Reise führt zu den Körneressern einer Kommune nach Hamburg, und dann weiter nach Osnabrück, ins Ruhrgebiet und, mit einem neuen Begleiter, nach Lothringen, in die Rheinpfalz und nach Bayern. Die seltsamen Abenteuer sind durchzogen von Reflexionen der klugen Närrin, deren Blick scharf und deren Urteil sachlich und unbestechlich, auf Fairneß ausgerichtet ist. Und doch reagiert sie letztlich ganz im Sinne ihrer DDR-Prägung, nämlich abgestoßen vom “Leiden an äußerem Überfluß und innerlicher Leere” so vieler “Altzehnländler”. Sie wird dann auch wieder vom Verfolgungswahn gepeinigt. Ihre Vergangenheit holt sie ein. Auf Rat des Erzählers William entflieht sie auf die Insel Kreta, weit weg von deutschen Landen. Hier fühlt sie sich wohl, und doch könnte die Reise weitergehen nach Ägypten, möglicherweise aber auch wieder zurück nach Deutschland, denn -- so lauten die letzten Worte -- “Vielleicht sehen wir uns wieder”. Wäre letzteres der Fall, dann, so darf der Leser spekulieren, käme eine gesunde, vom Wahn befreite Frau zurück, die neben ihrer starken Identität zusätzlich noch den Vorteil des Abstands, der zeitlichen und geographischen Distanzierung, ins neu vereinigte Deutschland einbringen würde.

Dieser Roman ist ein Buch mit offenem Ende. Judith, die falschen Etiketten gegenüber allergisch ist, begreift sich im weiterhin unausgegorenen deutsch-deutschen Klima als “noch nichts Benennbares” (39). Wann diese Benennbarkeit eintreten wird, darüber nachzudenken wagt der Erzähler/Autor nicht. Er scheitert ja am Romanprojekt, so heißt es im “Prolog”. Wird der Leser, der deutsche Leser, der Deutsche sich dem Fragenkomplex stellen? Der Roman sei als guter, vergnüglicher Deutschlandroman empfohlen.

Christine Cosentino
Rutgers University


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