glossen: interview


  Heinz Blumensath in Gespräch mit Bernd Wagner

H.B.: Wir sind heute, 1998, in Kreuzberg. Wie und wann bist du nach Kreuzberg gekommen?

B.W.: Ja, ich sitze an meinem Schreibtisch in der Kreuzbergstrasse 22. Gerade rüber, das ist der Kreuzberg, Viktoria-Park und ich lebe hier seit 1985. Es war nicht die allererste Station nach meinem Wechsel aus Ostberlin, aber die erste, wo ich mich heimisch gefühlt habe. Ich bin im Herbst 85 rüber gekommen, zuerst nach Neukölln, dann nach Friedenau, aber mit beiden Stadtteilen hatte ich mich schwer getan, so dass ich mir lange Zeit wie im falschen Film vorkam. Bis ich schließlich das Viertel gefunden hatte, von dem ich dachte, dass es mir am meisten entspricht, und das ist hier die Gegend zwischen Südstern auf der einen Seite und Potsdamer Straße auf der anderen und mitten drin diese Wohnung, wo ich es also zum Leben auf der Straße nicht weit habe, aber es trotzdem still genug ist, um arbeiten zu können.

H.B.: Was muss dir die Gegend bieten, damit du dich wohl fühlst?

B.W.: Merkwürdigerweise macht es mich ruhiger, wenn relativ viel Leben um mich ist. Ein Grund für meine Unruhe z.B. in Weißensee war, dass so eine Totenstille herrschte. Ich hab auch auf dem Land gelebt und gearbeitet, und das ging durchaus, aber wenn ich in der Stadt bin, und in einem Villenviertel lebe, oder wie in Weißensee in so einem kleinbürgerlichen, ruhigen Vorort, fühle ich mich aufgerufen, dem Leben hinterher zu rennen. Wenn ich dagegen mitten drin bin, fühle ich mich gesichert und kann mich zurückziehen. Unter Leben verstehe ich allerdings nicht, dass es ein Touristenviertel sein muss oder der Kottbusser Damm, eher doch eine so durchmischte Gesellschaft, wie sie in diesem Teil von Berlin anzutreffen ist.

H.B.: Als wir uns kennen lernten, warst du ein junger Autor in Weißensee, der mehrere kleine Bändchen veröffentlicht hatte, die eines alle gemeinsam hatten. Sie integrierten Werke der Bildenden Kunst. Hast du das aufgegeben oder lebst du auf andere Weise mit Kunst heute?

B.W.: Es ist wahr, dass in meinen ersten Büchern bewusst Abbildungen von Malerei verwendet wurden. Es wäre aber zu viel gesagt, wenn damit eine Integration von Bildern beabsichtigt gewesen wäre. Ich selbst habe ja Kunsterziehung studiert und Deutsch und lebte mit einer Malerin zusammen. Auf der anderen Seite war auch das Miteinander der verschiedenen Kunstgattungen im Osten ausgeprägter, einfach aus dem Grund, weil es nicht einen so riesigen Kunstmarkt gab und man untereinander mehr Kontakte suchte, um sich gegenseitig zu stützen oder gemeinsam zu arbeiten. Das, was schon in den 20er und 30er-Jahren in Berlin üblich war, nämlich Bild und Wort in bibliophilen Bänden zu vereinigen, das wurde in der DDR häufig praktiziert, um die Zensurgrenze zu unterlaufen, die bei 100 gedruckten Exemplaren einsetzte. Deshalb gab es auch ein viel engeres Zusammenleben zwischen bildenden Künstlern und Schreibern. Das hat sich jetzt im Westen naturgemäß gelockert. Zum einen, weil jeder, viel stärker in seiner eigene Sparte arbeiten muss um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Zum anderen ist es eine ganz normale Entwicklung, dass man sich im Laufe der Zeit immer mehr auf sein eigenen Gebiet konzentriert, um da zu einem Ergebnis zu kommen, während man in der Jugend erst einmal die gesamte Breite des menschlichen Sich-Äußerns auszuloten versucht.

H.B.: In der Lebenspraxis gibt es diese Verbindung immer noch für dich?

B.W.: Das heißt nicht, dass die Verbindung zwischen Malern und Schriftstellern völlig abgebrochen ist. Die Freunde oder Kollegen, mit denen ich mich am engsten verbunden fühle, haben ein ähnliches Schicksal wie ich gehabt, sind also irgendwann aus dem Osten in den Westen gegangen und haben hier eine ähnliche Zwangs- oder Solidargemeinschaft gebildet, wie sie es früher auch im Osten getan haben. Es sind also Freundschaften entstanden, die die verschiedenen historischen Wechsel überdauert haben. Und es ist auch nicht so, dass eine Zusammenarbeit völlig abgebrochen ist; ich schreibe noch Texte für Ausstellungskataloge oder mit Peter Herrmann habe ich kürzlich einen Band gemacht, in dem seine Holzschnitte und Prosatexte von mir eine Einheit bilden. Nur hat es inzwischen eher den Charakter einer freudvollen Nebenbeschäftigung als eines strikten Kunstprogrammes, wie es zum Teil im Osten der Fall war.

H.B.: Hat es bei deinem Wechsel von Ost nach West etwas gegeben, was schließlich das Fass zum Überlaufen gebracht hat?

B.W.: So ein Wechsel aus einer Welt in die andere bereitet sich sehr lange vor, bei mir zumindestens. Und es musste eines zum anderen kommen, bis der Punkt wirklich erreicht war, um zu sagen, ich verlasse jetzt das Land und die Gesellschaft, in der ich groß geworden bin und 35 Jahre gelebt habe. Entscheidend war, dass es sich auf die Frage zuspitzte, wie kannst du hier überhaupt noch leben? Kannst du noch normal - in Anführungszeichen "normal" - als Schriftsteller leben, oder wirst du zwangsläufig, damit du dir noch im Spiegel ins Gesicht sehen kannst, wirst du zu einer politischen Figur ? Und das war der Fall in den Jahren 1983 bis 1985. Ich hatte eine illegale Zeitschrift mit herausgegeben, die Konfrontationen mit den Staatsorganen wurden immer härter. Es gab dann die Sprengung der Gasometer im Prenzlauer Berg, wo ich mich engagiert hatte und verhaftet wurde. All das hat zu so einer Situation geführt, dass ich den Eindruck hatte, ich kann hier nicht mehr in Ruhe arbeiten, sondern werde jetzt zu einer vor allem politisch determinierten Person. Und ich muss, um mein inneres Leben wieder mit dem äußeren in ein Gleichgewicht zu bringen, dass ich beide ausdrücken kann, mir einen neuen Standort suchen.

H.B.: Wie lief das konkret?

B.W.: Ich habe für meinen Wechsel den gleichen Weg gesucht, den auch die anderen DDR-Bürger gehen mussten mit dem Unterschied, dass man natürlich als Schriftsteller eine öffentliche Figur ist und damit einen gewissen Schutz genießt. - Bei mir kam hinzu, dass die Aversionen gegenseitig waren. Schon vor meinem Antrag wurden von Staatsseite Gerüchte gestreut, dass ich ausreisen will. Ich habe Ablehnungen bekommen von Zeitschriften, von denen ich später hörte, auf der Redaktionssitzung ist gesagt worden, ich hätte einen Ausreiseantrag gestellt, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht der Fall war. Ich formulierte dann meinen Antrag so scharf, dass keine Missverständnisse aufkommen konnten, was sich aber die Staatsorgane nur so vorstellen konnten, dass ich damit eine Provokation beabsichtige. Es gab damals einen Schriftstellerkongress in Budapest, von dem ich erst erfahren habe, als ich den ganzen Fall in den Stasi-Akten nachgelesen habe. Damals befürchtete man, ich würde meinen Antrag öffentlich machen und ihn zu einem Politikum erklären, was überhaupt nicht meine Absicht war. Ich wollte nur so schnell wie möglich weg und so deutlich wie möglich machen, dass es für mich kein Zurück gibt. Tatsächlich war dann auch der Zeitraum von der Antragstellung bis zu meiner endgültigen Ausreise relativ kurz, etwa ein viertel Jahr.

H.B.: Weißt du noch mit welchen Formulierungen du gearbeitet hast?

B.W.: Die genauen Formulierungen in dem Antrag habe ich nicht mehr im Kopf. Ich weiß aber noch, dass ich ihn in der Form eines stark komprimierten Thesenpapiers geschrieben habe. Also: Da in diesem Land die Zustände so und so sind, 1., 2., 3., 4., 5., 6., wird es mir unmöglich, hier eine Sekunde länger zu bleiben. Und da man als Schriftsteller gar nicht anders schreiben kann als in einer gewissen literarischen Zuspitzung, hat das wahrscheinlich die Behörden auf den Gedanken gebracht, der Antrag könne nur für eine literarische oder andere Öffentlichkeit bestimmt sein.

H.B.: 4 - 5 Jahre später fiel ja die Mauer - hast du noch eine Erinnerung, wie du den Mauerfall erlebt hast?
B.W.: Natürlich habe ich eine deutliche Erinnerung an die Situation, als der Mauerfall bekannt gegeben wurde. Ich habe das auch literarisch verarbeitet, weil ich während dieser Zeit zu anderen Formen der Kommunikation unfähig war. Hinzu kam, dass ich in dieser Zeit in einem Archiv gearbeitet habe, ich konnte also nicht viel mit meinen engeren Freunden sprechen und habe in dieser Situation angefangen, statt dessen ein Buch zu schreiben. Ich hatte die Vision, statt mit Menschen, mit denen ich auch deshalb nicht sprechen konnte, weil ich mich sofort mit ihnen gestritten hätte, aus meinem Fenster hinaus mit den Spatzen von Kreuzberg zu reden.

Zurück zu der Situation, als mich die Nachricht vom Mauerfall erreichte. Es ist die gleiche Situation, die sich, wenn ich nicht unterwegs bin, an den meisten Abenden ergibt. Ich sitze im Nebenzimmer, ich sehe fern, oder höre Radio, und erhalte also eine Nachricht von draußen. So eine Wohnung ist ja auch eine Klause, in die man sich zurückzieht, und die Nachrichten aus der Außenwelt erreichen dich über Telefon oder Fernsehen. So, ich sitze da und im Fernseher kommt diese Meldung, die Mauer ist offen. Als Nächstes klingelt natürlich das Telefon und die Ersten sagen: "Wir sind hier!" "Wer wir?" "Ja, deine Freunde aus Weissensee, wir sind jetzt rübergekommen." - Ich freute mich natürlich, aber gleichzeitig war ich unfähig, die Wohnung zu verlassen, und mich in dieses Getümmel zu stürzen, sondern ich habe es von Position, die ich als Einzelner in dieser Wohnung immer inne habe, weiter wahrgenommen, habe also die Nachrichten gehört, telefoniert und habe mich, das kommt hinzu, auf meine Reise nach Paris vorbereitet, die am nächsten Tag statt fand. Am nächsten Morgen stieg ich also in die U-Bahn und traf dort eine Menge aufgeregter Leute, die die Fahrpläne und das Streckennetz studierten und überlegten, an welcher Station sie aussteigen sollten. Es war schon ein Kribbeln in der Stadt, wie in einem Ameisenhaufen. Ich bin erst einmal nach Paris gefahren, weil ich dort zu tun hatte, und war eigentlich recht froh, dass ich diese erste Woche aus der Ferne erlebte und sich die Lage etwas beruhigt hatte, als ich zurück kam.

H.B.: Was hat dich so sprachlos gemacht?

B.W.: Das Leben nicht nur in der DDR, sondern überhaupt in Europa war ja 40 Jahre lang auf Stillstand programmiert gewesen. Es herrschte ein ewiger Status quo, es gab zwar Wellenbewegungen innerhalb bestimmter Grenzen, aber eine wirklich historische Umwälzung zu erleben, war man nicht gewohnt. - Dass die erste Hälfte dieses Jahrhunderts voll davon war, wussten wir zwar aus Erzählungen, aber wir haben sie am eigenen Leibe nie erfahren. Der Herbst '89 war also das erste Mal, wo plötzlich wir selbst Teil einer solchen epochalen Wende wurden. Mir selbst wurde das klar, als ich die ersten Bilder von den Montagsdemonstrationen in Leipzig sah. Und wenn mich danach immer mein Freund aus Leipzig anrief und mir erzählte, wie dieser Montag verlaufen ist. Dieses Mal waren es 50.000, nächstes Mal waren es 100.000. Die Transparente sahen so aus, morgen lauteten die Lösungen so. Gottseidank kam kein Militär, Gottseidank ist es ruhig geblieben usw. Von diesem Moment an war man plötzlich Beteiligter in einem historischen Prozess, der mich sprachlos machte, weil man nur aus der Ferne, am Fernseher beteiligt war. Sprachlos auch in diesem Sinne, dass man seine ganze eigene Haltung gegenüber der Realität, gegenüber Geschichte und politischer Wirklichkeit auf dem Prüfstand befindlich sah. Es war eine Zeit, in der jede Woche die Intensität zumindest eines Jahres hatte. Es geschahen tausend Dinge, die ich verarbeiten musste. Zwar habe ich den größten Teil meines Lebens schreibend zugebracht, aber es war das erste Mal, dass ich mich eindeutig als Privilegierten empfand; privilegiert anderen Menschen gegenüber, die nicht das Vokabular, oder die gleiche Möglichkeit einer sprachlichen und damit geistigen Auseinandersetzung haben und sie nicht in gleicher Weise auf den Punkt bringen können. Egal, ob dieser Punkt in diesem Moment stimmte, ich hatte zumindest die Möglichkeit, durch die schriftliche Sprache, im mündlichen Gespräch zerfaserte das, diesen Wandlungsprozess in mir festzuhalten und nach außen zu bringen. Nichts anderes habe ich in jenem Jahr gemacht und daraus ist ein Buch entstanden "Die Wut im Koffer".

H.B.: Was bedeutet Reisen für dich?

B.W.: Das Reisen ist erst einmal das Verlassen dieser Welt, dieser Klause, von der ich hier gesprochen habe. Es ist für ein Schriftsteller vielleicht von besonderer Bedeutung, weil er ansonsten wenig mit anderen Menschen zu tun hat. Bei mir ist die Regel, ich sitze am Schreibtisch und muss außer Haus gehen, in die Kneipe oder zum Billard, um andere Menschen zu treffen. Wenn die Arbeit hoch konzentriert ist, sehe ich so gut wie niemanden. Insofern ist Reisen ein Ersatz für das andere normale Leben, was noch den Vorteil hat, dass mich selbst unter fremden Bedingungen erfahre. Im Grunde genommen ist das Schreiben etwas dem Reisen verwandtes. Ein Buch von mir hieß ja "Reisen im Kopf", was natürlich in der DDR eine besondere Note hatte, und der Titel auch ein Zeichen dafür war, wie das Reisen in einem Land, das du nicht länger als drei Wochen und nur in eine bestimmte Richtung verlassen darfst, zu einer Zwangsvorstellung werden kann. Nachdem ich die Mauer überwunden hatte, war natürlich als erstes der Wunsch da, möglichst große Entfernungen hinter sich zu bringen und Dinge kennenzulernen, von denen man früher geträumt oder nicht einmal geträumt hat. - Dieses Bedürfnis hat sich reduziert, weil die Welt so groß und so vielfältig ist, dass es eine Illusion ist, sie erschöpfend kennenlernen zu wollen. Es reicht, wenn man das Gefühl kriegt, dass es jenseits der eigenen gekannten Lebenswelt eine völlig andere gibt, die ziemlich unbegrenzt ist.

Ich musste ein bestimmtes Bedürfnis erst einmal sättigen, um mich danach ruhiger auf meine Arbeit konzentrieren zu können. Im Laufe der Zeit wird dieses Arbeiten, also das innere Reisen wieder das eigentliche Unterwegssein. Aber, wenn man dann, wie ich im Moment, vier Jahre Arbeit an einem Roman hinter sich hat, muss man endlich mal wieder raus. Ich kann nicht ständig nur aus dem Inneren heraus leben und das auf das Papier bringen, sondern bedarf in gewissen Abständen des Auftankens durch fremde Lebensumstände. Ich hoffe, im nächsten Jahr endlich für einen längeren Zeitraum, das Land zu verlassen und für ein halbes Jahr in die Vereinigten Staaten zu gehen. Reisen und Reisen ist allerdings ein Unterschied. Mir geht es weniger darum Urlaub zu machen, sondern ich habe das Gefühl, dass ich noch eine Lebenswelt außerhalb der deutschen kennenlernen sollte, in der ich mich aufhalten kann, in der ich vielleicht auch Arbeitsmöglichkeiten habe und nicht nur als Tourist unterwegs bin.

H.B.: Warum gerade Amerika?

B.W.: Meine erste Bewegung, nachdem ich in den Westen gekommen war, war sonderbarerweise die in Richtung Osten. Griechenland ist nicht nur Süden, sondern ist auch südöstlich, nahe am Orient dran. Die nächste Reise hatte mich nach Indonesien geführt, also noch weiter in Richtung Asien, in Richtung Osten. Ich weiß nicht, ob ich die Welt, die ich verlassen hatte, tiefer kennenlernen wollte und mich ihrer wie einer Art von Herkunft versichern. Ich behaupte nicht, dass ich diese Welt sehr intensiv kennengelernt habe, aber jetzt scheint mir der Punkt erreicht, wo ich hier auf diesem alten Kontinent sehr fest sitze und gen Westen gehen sollte, um die sogenannte Neue Welt kennenzulernen.

H.B.: Was bedeutet das Älterwerden für dich?

B.W: May West hat über das Älterwerden gesagt, es ist nichts für Feiglinge! Ich begreife sie. Wenn du gesagt hast, 50, Mitte des Lebens, das hatte ich mir, als der 50. Geburtstag näher rückte, auch gedacht: Mach doch kein Drama, das ist die Mitte des Lebens. Aber es ist wenig wahrscheinlich, dass ich 100 Jahre alt werde, es ist also weit über die Mitte des Lebens. Vielleicht markieren die 50 die Mitte meines Erwachsenen-, meines Schriftstellerlebens, und ich fühle mich nicht befugt, ein Resümee darüber zu ziehen, aber man kann der Tatsache nicht ausweichen. Natürlich habe ich nie gedacht, dass ich einmal 50 werde, immer nur die anderen. Als junger Mann reichten die Orientierungspunkte über Kleist bis zu Büchner. Die sind zwischen 20 und 30 gestorben oder haben sich auf andere Weise vom Leben verabschiedet. Man ist also älter als sie, und kein Mensch sagt einem, dass man seine Kraft über das ganze Leben hinweg speichern kann, dann wäre man ja ein Ökonom oder Geizhals. Kein Mensch sagt einem, dass, wie etwa bei Fontane, der Höhepunkt der Produktivität am Schluss kommt. Das sind Dinge, die man mit bekommen muss, die einen das Leben lehrt. Es gibt ja zweierlei, einmal der Beruf des Schriftstellers, der mir meinen Lebensunterhalt bringen muss, nicht muss, aber wenn er es tut, ist es gut, und zum anderen das Reservoir an dem, was ich zu sagen habe, was ich wirklich sagen muss. Das Älterwerden ist unter anderem eine Schule darin, diese Balance zu finden. Ist es möglich, einen Weg zu gehen zwischen Professionalität auf der einen Seite und wirklicher Authentizität des Sprechens auf der anderen. Und mitten in diesem Prozess bin ich drin.

Inzwischen befürchte ich, dass ich als Tourist gar nicht mehr unterwegs sein kann, zumindest kein halbes Jahr. Also habe ich mir vorgenommen, einfach, um ein sinnvolles Dasein zu führen, während dieser Reise zu schreiben. Ich las neulich in Mark Twains "Bummel durch Europa", der vor über 100 Jahren durch Europa gereist ist mit dem Blick eines schlauen Kinds sagen wir mal. Und ich denke, dass es an der Zeit wäre und mir liegen würde, eine Art Erwiderung zu schreiben, wie einer aus dem alten Kontinent kommt in den neuen und beschreibt einen Bummel durch Amerika. Nicht unbedingt aus einem UFO ausgestiegen, worauf die Amerikaner immer hoffen, aber durchaus mit einem fremden Blick das Land betrachtend.

Wie in jedem Buch gibt es im Paradies authentisches und Phantastisches. Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe des Schriftstellers ist, im Nachhinein dieses Verhältnis deutlich zu klären. Wichtig ist für mich, das eigene Erleben oder das Erleben Fremder so zu schildern, dass es über das Persönliche hinausgeht und andererseits das Phantastische so realistisch wie möglich zu gestalten. Was das "Paradies" und die Hauptfigur besonders anbetrifft.: Aus der Widmung "Für Bruni" geht hervor, dass eine tatsächliche Frau existiert, die mit der Heldin in Bezug gebracht werden kann. Im Prolog und in der Rahmenhandlung wird geschildert, wie diese Frau dem Autor ihre Geschichte erzählt. Ich finde das muss dem Leser und auch dem Kritiker reichen.

Wenn ich jetzt im Nachhinein das genaue Verhältnis und den genauen Anteil von ihrem Erleben und von meinem Erleben oder von meiner Phantasiearbeit dabei schildern würde, würde es sein, als gäbe ein Koch seine geheimsten Rezepte preis

H. B: Ist es ein Zufall, dass mehrere DDR-Autoren Identitätsrekonstruktionen in der Form von Reiseliteratur darstellen?

Ich weiss nicht, ob diese Frage in der Reiseliteratur besonders abgearbeitet wird. Ich selber hatte überhaupt nicht vor, eine Identitätsrekonstruktion zu veranstalten. Es gibt zwei ganz klar umrissene Figuren. Das ist der Autor, dem die Geschichte erzählt wird und der sie dem Leser weiter erzählt, und es ist eine Frau aus dem Osten, also die eine so starke Identität hat, dass sie sie äußern muss. Sie ist also in keiner Krise auch in keiner Identitätskrise, sondern ihr ganzes Leben besteht darin, ihre Identität zu verteidigen, sie muss sie nicht suchen, sondern verteidigen gegenüber der Umwelt. Der Nachdenkliche und Zweifelnde, das ist der Autor, der mit dieser Frau konfrontiert wird, sie ertragen muss und sozusagen das ganze Problem, die von der Frau geschilderten Erlebnisse, an den Leser weitergibt.

H. B:Gibt es da Ähnlichkeiten zu Kerstin Jentzsch?

Ich kenne nicht die Autorin Kerstin Jentzsch, und ich kenne nicht ihre Romane. Natürlich hat man sich beschäftigt, als ich anfing in der Rolle einer Frau zu schreiben. Geht das überhaupt und was haben andere vor dir gemacht? Und das Problem, was in der ersten Frage angedeutet wurde, was daran ist Realität und was daran ist daran Eigenes. Das existiert ja genau so bei Effie Briest oder Madame Bovary. Aber auch diese Figuren haben für mich keine Vorbildfunktionen gehabt. Die einzige Frau in der Literatur, die wirklich einen Maßstab darstellte, dem ich mich stellen wollte, das war die Courage bei Grimmelshausen. Das ist aber die einzige Frauenfigur die mir ab und zu durch den Hinterkopf geisterte.

H. B:Schluss im Paradies: Lösbarkeit einer östlichen Identitätsrekonstruktion in nächster Zeit. Was soll dabei Kreta?

Da ich die bewusste Identitätsrekonstruktion vorhatte, möchte ich auch nicht, dass Kreta als Symbol überstrapaziert wird. Natürlich ist Kreta im Zusammenhang mit einer Frau als Heldin eines Romans nie frei von Symbolik. Es ist nun einmal die Insel in Europa gewesen, die für immer mit einem Reich des Friedens und des Matriarchats verbunden ist. Es bedeutet auf der einen Seite durchaus zeitliche und räumliche Ferne, die andererseits durchaus erreichbar ist, denn nach Kreta fliegen alle Stunden von Berlin Tegel Flugzeuge. Sicher hat der Gedanke eine Rolle gespielt, dass die Heldin sozusagen eine Frauenheimat außerhalb Deutschlands sucht, doch nur in einem ganz geheimen Winkel ihres Denkens. Die Reise und das Buch enden ja damit, dass sie Kreta wieder verlässt und weiter in Lichtenberg oder ins Nirgendwo entfleucht. Es hat also vor allem die Funktion gehabt, die Enge einer rein deutsch-deutschen Geschichte zu erweitern und noch andere Lebensmöglichkeiten in das Buch einzuführen.


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