glossen: romanauszug


  Bernd Wagner: Zwei Augen (qut.- video 10 MB)
Für Peter Herrmann

Die Flut steigt, ich ersaufe in Bildern. Kein Grund mehr unter den Füßen, kein Ufer, das meinen Blick hält, um mich her nichts als Bilder ohne Wesen. Alles sind Bilder und alles ist mit ihnen besetzt. Jedes ist neu und erschreckend, eine Gefahr, weil es die alten töten muß. Sie schießen auf mich, sie schlagen nach mir, sie blenden und vergiften mich.

Auch wenn ich das Lid herunterlasse und nach innen blicke, sehe ich nur Fremdes. Wo sind meine Erinnerungen, Visionen,der schwarze Abgrund meines Lichts? -Gefressen- -von Büdem,die sich rasant vermehren in Selbst- befruchtung und Zellteilung. Deren Hunger auf alles Atmende, auf alles, was noch nicht Bild geworden, unersättlich ist.

Sie sind Drogen, sie machen süchtig. Immer nur muß ich sehen und schon längst spielt die Verwechslung ihr höhnisches Spiel mit mir: ist es Traum, ist es ein Film oder lebt es, was ich sehe? Ist die Schaufensterpuppe ein Mensch oder umgekehrt? Oder sind wir alles Gespenster? Was ist die Kulisse: das, was auf der Plakatwand ist oder das, was dahinter? Ziehen die Wolken dort tatsächlich am Himmel entlang oder ist es eine Störung auf dem Bildschirm? Sind wir, deren Schuhe noch das Straßenpflaster berühren, die Schatten der farbigeren Menschheit auf Postern und Leinwänden?

Ich dürste nach Ödnis. Ich sehne mich nach einem abgeernteten Feld, nach dem ruhigen Grau einer Häuserfront, die nichts von mir will, nach der Leere, die Poesie zuläßt. Mich töten die Bilder.

Was zeterst du, kannst du nicht schwirnmen? Es gibt nur eine Rettung, wenn du dich den Bildern auslieferst und dich treiben läßt. Erst wenn du deinen Widerstand gegen sie aufgibst, die Urteile und deine Angst, wirst du selbst sehen lemen.

Ich liebe die Bilder; wenn sie als Illustrierte die Kioske überschwemmen: die neuen Lebkuchenschindeln auf den Dächem der Hexenhäuser. Die Gesänge und Debatten der Plakate auf der blaugelb gestrichenen Ruine hinter den York-Brücken. Ich liebe es übersättigt zu sein, erfüllt von Bildern: dann kann ich von innen sehen. Es ist als ob mich die anderen S inne bei der Hand nähmen und eine zartere und sicherere Wahrmehmung lehrten.

Ich sehe die Farben als Farben. Das rostige Rot am Eisentor der Autolackiererei verschmilzt mit dem auf der Kastanie. Das abendliche Violett des Berliner Himmels fand ich wieder bei de Chirico. Tiefbraun ist die Haut der Negerin in der Chicken-and Chips-Bude in London-Hockney. Kalkweiß die Farbe der Mauer wie das Gesicht, das sich davon abwendet.

Ich sehe Bewegungen als Bewegungen. Es gibt keine geronnenen Bilder mehr, denn alle sind lebend und in ununterbrochenem Gespräch und Austausch miteinander. Häuser drängen sich zusammen, stoßen und reiben sich wie Tiere aus versprengten Herden. Blitze wollen die Erde mit dem Himmel vemähen. Und durch alles weht der Wind der Zeit seine beschriebenen, zerrissenen Zettel, biegt Birken und läßt Fahnen fliegen. Und nicht nur bisher fremde Orte treten in Beziehung, werden verknüpfbar durch Bilder, ich durchstoße auch die Grenzen der Zeit: das Silvesterfeuerwerk am Kreuzberg wird unter Flugzeugdröhnen zur Dresdener Bombennacht von 1945.

Ich sehe Situationen, ich sehe Gebärden. Ich sehe Gesichter und Hände, deren Haut nur anders grau ist als jene, die du gewöhnt bist. Sieh ohne zu werten und laß die Dinge für sich existieren. Sie werden nicht gut durch diesen Blick, aber sie werden anschaubar und vermenschlicht. Achte auf die Anklänge und Beziehungen zwischen dem Sichtbaren, versuche zu sehen, was unter der Oberfläche ist, ihr Dahinter, die Tiefe. Die Poesie, die du vergeblich in der Leere suchst, wächst aus dem, was existiert.


Aus: Bernd Wagner: Der Griff ins Leere, Transit Buchverlag, Berlin 1988, S. 135 - 137


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