Mittel der (Selbst-)Erkenntnis in Günter de Bruyns zweiteiliger Autobiographie Zwischenbilanz und Vierzig Jahre Reinhard Andress Autobiographisches Schreiben erhebt einen mimetischen Anspruch: Ein gelebtes Leben soll in sprachlicher Form wiedergegeben werden. Am radikalsten haben die Verfechter der literaturkritischen Dekonstruktion den autobiographischen Vorgang in Frage gestellt, so Paul de Man in seinem Aufsatz "Autobiography as De-Facement." Für ihn ist Prosopopöie der bevorzugte Tropus autobiographischen Schreibens, indem Autoren versuchen, mit Worten ihr "Gesicht" (zu griechisch prosopon) zu "machen" (poiein).[1] Dieser Aufgabe der ausmalenden Darstellung wird die Sprache aber nicht gerecht: "To the extent that language is figure (or metaphor, or prosopopeia) it is indeed not the thing itself but the representation, the picture of the thing and, as such, it is silent, mute as pictures are mute. Language, as trope, is always privative" (80). Da die Verbindung zwischen gelebtem und beschriebenem Leben im autobiographischen Text besonders eng ist, ergibt sich aus de Mans Gedankengang, daß ein solcher Text auseinanderfällt und die Unzulänglichkeit der Sprache dort besonders augenfällig wird (vgl. 68-69). In Anspielung auf den erwähnten Tropus autobiographischen Schreibens resümiert er: "Autobiography veils a defacement of the mind of which it is itself the cause" (81). Selbsterkenntnis durch autobiographisches Schreiben beruht demnach auf Entstellung durch metaphorische Repräsentation, folglich ist auch Erkenntnis über die Zeit, in der die Autobiographen gelebt haben, eine Verunstaltung der wahren Verhältnisse. Die so behauptete grundlegende Unfähigkeit der Sprache ist aber undifferenziert. Weiterhelfen kann uns hier Philippe Lejeune, ein führender Theoretiker auf dem Gebiet der Autobiographie in Frankreich. In L'Autobiographie en France (1971) spricht er von "le pacte autobiographique" zwischen Autoren und Lesern, der jene zu einer historischen Genauigkeit verpflichtet und dazu auffordert, sich aufrichtig mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen.[2] Aufrichtigkeit als Schreibintention bleibt Lejeune aber suspekt, und er kommt immer wieder darauf zurück, so auch in seinem Essay "Le Pacte autobiographique (bis)" (1982). Dort verbeugte er sich gewissermaßen vor Roland Barthes und der literaturkritischen Dekonstruktion, betonte aber anderes: So gesehen greifen Autoren trotz der Schwierigkeit, das Wahre mitzuteilen, immer wieder zur autobiographischen Form aus einem Verlangen nach Selbsterkenntnis. Die Leser haben wiederum ein Verlangen nach der Aneignung von Erkenntnissen oder nach "cognitive satisfactions," wie es der Literaturtheoretiker John Sturrock formuliert hat.[4] Wenn man nun Lejeunes und Sturrocks Gedankengang weiterführt, kann man aus dem beschriebenen Schreib- bzw. Leseverhalten folgern, daß das Schreiben oder die Lektüre eines autobiographischen Werkes mit Erkenntnisgewinn verbunden sein muß, sonst würden sich Autoren und Leser nicht immer wieder dieser Form zuwenden. So wäre im Gegensatz zu de Man, der vom Verstummen der Sprache spricht, viel eher zu fragen, was die geeignetsten Mittel sind, um Selbsterkenntnis und überhaupt Erkenntnis an die Leser heranzutragen. In seiner zweiteiligen Autobiographie Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996) ist Günter de Bruyn solche (Selbst-)Erkenntnis gelungen. Sie liegt in einer Erzählhaltung begründet, die zunächst einmal von einem zeitlich distanzierten Epochenüberblick auf die zu erzählende Zeit geprägt ist, einem Blick, der viel Atmosphäre einfängt, geschichtlichen Hintergrund vermittelt und auf eine Vielzahl anderer Personen fällt. Hinzu kommt eine selbstkritische Erzählhaltung, die skeptisch eigene Positionen hinterfragt und dabei konsequent eigene Verwicklungen und Verdrängungen aufdeckt. De Bruyns Erzählhaltung soll im folgenden im Hinblick auf Erkenntnissuche untersucht werden, was insofern gerechtfertigt erscheint, als die durchwegs positive Rezeption der beiden Autobiographieteile zwar immer wieder einzelne Aspekte von de Bruyns erzählerischem Können hervorhebt, sie aber weder insgesamt erfaßt noch beide Bände der Lebensbeschreibung einbezieht.[5] De Bruyn ist 1926 in Berlin geboren; die in Zwischenbilanz erzählten Stationen seines Lebens umfassen die geborgene Kindheit während der letzten Zerfallsphase der Weimarer Republik, die Erfahrung des nationalsozialistischen Staates (Kinderlandverschickung, Hitlerjugend, Luftwaffenhelfer-Einsatz, Reichsarbeits- und Wehrmachtsdienst) und die Zeit als Dorfschullehrer kurz nach der Gründung der DDR. Vierzig Jahre bezieht sich schon, wie der Titel andeutet, auf die zeitliche Existenz der DDR und behandelt diese Epoche als Abschnitt von de Bruyns Leben: den Besuch der Bibliothekarschule in Ostberlin, die Bibliothekarszeit, die ersten Schreibversuche, die Arbeit am Zentralinstitut für Bibliothekswesen der DDR und die Zeit ab 1961 als freiberuflicher Schriftsteller. Wie oben erwähnt, ist zeitliche Distanz der erzählten Zeit gegenüber ein erster wesentlicher Aspekt von de Bruyns Erzählhaltung, die zu (Selbst )Erkenntnis führt. In einem Essay zum autobiographischen Schreiben mit dem Titel "Das erzählte Ich" ist sich de Bruyn der Gefahr bewußt, die ein "Mangel an Distanz" mit sich bringt: In Zwischenbilanz hat der Autor diese Gefahr insofern gebannt, als er etwa bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr wartete, bevor er auf seine Jugend zurückblickte, seinen Lebensbericht begann und die erste Autobiographiehälfte kurz nach der Gründung der DDR ausklingen ließ.[7] In der Fortsetzung Vierzig Jahre war die zeitliche Distanz zwar wesentlich geringer, doch immerhin größer als in anderen Autobiographien ehemaliger DDR-Schriftsteller, so Stefan Heyms Nachruf (1988), Hermann Kants Abspann (1991) oder Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht (1992).[8] Da Heym während der Existenz der DDR schrieb, besaß er nicht den Abstand, um zu Selbsterkenntnissen über sein Verhalten in der DDR zu gelangen, ganz abgesehen vom Mangel an allgemeinen Erkenntnissen zum Ende seines Landes. Kant und Müller schrieben zwar nach der Auflösung der DDR, doch nur unmittelbar danach, womit ihnen der sachlich abwägende Blick auch kaum möglich war. Im Sinne von de Bruyns Ausführungen ist der Mangel an Distanz ein besonders augenfälliges Problem in Kants Erinnerungsbuch, das als Rechtfertigungswerk eines umstrittenen DDR-Schriftstellers interpretiert werden kann und der Legendenbildung dient.[9] Dahingegen ist die Pause, die de Bruyn einlegte, bevor er sich seinem DDR-Leben in der zweiten Autobiographiehälfte näherte und diese 1996 veröffentlichte, für die Suche nach Erkenntnis in dem Stoff dieses Lebens von Vorteil gewesen. Weniger um Selbsterkenntnisse als um allgemeine Erkenntnisse geht es de Bruyn, wenn er die Vergangenheit als Epoche überschauen möchte. Natürlich steht der Autor selbst im Mittelpunkt des Erzählens, doch auffallend ist, daß er oft seine eigene Person zugunsten vignetteartiger Schilderungen zurückzieht. Dieser Blick fängt einerseits viel Atmosphärisches ein, so in Zwischenbilanz bei der Beschreibung der Britzer Wohnungssiedlung in Berlin, in der der Autor geboren ist und die ersten siebzehn Jahre seines Lebens verbrachte: Solche Stimmungsbilder dienen ebenfalls dazu, plastisch unvergeßlich Grauenvolles hektisch vor Augen zu führen. Die letzten Atemzüge des Dritten Reiches erlebt de Bruyn als junger Frontsoldat in einem österreichischen Dorf, dessen Name ihm zwar entfallen ist, doch sind die Erinnerungsbilder klar geblieben: "Mit ihnen, denke ich manchmal, rächt sich der Tod dafür, daß ich ihm damals entkam" (Zb 225). Das Dorf gerät unter Beschuß der heranrückenden russischen Truppen: Der Gebrauch des Präsens in diesem Textabschnitt läßt uns den chaotischen Zustand umso intensiver nachempfinden. Was dem Epochenüberblick ebenfalls unterliegt, ist de Bruyns Absicht, mit seiner Autobiographie "eine Chronik der Zeit" (Ich 48) zu schaffen. Wie er in dem erwähnten Essay zum Ausdruck bringt, mußte er in diesem Zusammenhang beim Schreiben von Zwischenbilanz eine bestimmte Erzählstrategie anwenden: So gibt es im ersten Teil der Autobiographie immer wieder "kulturgeschichtliche Momentaufnahmen,"[11] wie sie Ursula Reinhold bezeichnet, wobei der Bezug zur eigenen Person nicht verlorengeht: Die Rundfunkübertragung dieser Rede hörte ich schon in einer der Wehrmachtsbaracken, die nun für mehr als zwei Jahre meine Unterkunft sein sollten. Da die Lautsprecher im Mittelflur des langgestreckten Holzbaus montiert waren, mußten wir die Rede bei geöffneten Türen in den Stuben anhören, wo Skat gespielt und gegessen wurde; denn das Interesse an politischen Verlautbarungen war gering. Niemand von uns begriff, daß der Krieg sich gewendet hatte und wir die Uniform der sieggewohnten Armee genau in dem Moment hatten anziehen müssen, von dem an es nur noch Rückzüge gab. (Zb 140) Andererseits geht nicht der persönliche Bezug zu anderen Menschen verloren. Im Sinne eines Überblicks ist die Vielzahl von Menschen, die de Bruyn in Zwischenbilanz beschreibt, seien sie seine Verwandten, Freunde, Lehrer oder Mitsoldaten (z.B. die Eltern und Brüder, die Tante Friedel, Jörn, den Assessor Krättge, H. oder Long Pat). Durch den Panoramablick entsteht das Bild einer "Jugend in Berlin" - so der Untertitel der ersten Autobiographiehälfte. In Vierzig Jahren ändert sich der erzählerische Blickwinkel insofern, als der Altersabstand zwischen dem "Erzähler von heute" und dem beschriebenen Ich immer geringer, die "Kurzsicht" des Kindes und jungen Mannes zunehmend einem umfassenderen Blick weicht. Das Resultat ist, daß sich "aus dem erzählten Leben mit weniger Kommentierung ein Zeitbild ergibt" (Ich 56), wie es de Bruyn für die zweite Hälfte seiner Autobiographie angekündigt hatte. Das bedeutet, daß der Autor etwa den 17. Juni 1953, den Mauerbau am 13. August 1961, die Biermann-Affäre im November 1976 oder den Mauerfall am 9. November 1989 mit vollem Bewußtsein miterlebt und aus den Ereignissen heraus erzählt.[12] Geht de Bruyn dennoch kommentierend auf den geschichtlichen Hintergrund ein, so leitet das schnell zu Stimmungsbildern über, wie wir sie schon aus Zwischenbilanz kennen. Ein Beispiel aus Vierzig Jahren ist die Ausmalung vom Nachkriegsberlin: Dieser Epochenüberblick wird dann wie schon in Zwischenbilanz durch eine Reihe von Begegnungen mit Menschen ergänzt, z.B. mit den Bibliothekaren Lotte Bergtel, Fräulein Schumann, Helene Nathan und Gotthard, den Freunden Mara, Herbert und Hans-Werner, den Schriftstellern Arnold Zweig, Heinrich Böll, Christa und Gerhard Wolf sowie dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Harich. Während beispielsweise Heyms Nachruf von einer starken Egozentrik gekennzeichnet ist,[13] sich Kant in Abspann aus seinem Rechfertigungsdrang heraus nicht von seiner eigenen Person lösen kann und sich Müller in Krieg ohne Schlacht auf die eigene Arbeit fixiert,[14] kann man bei de Bruyn zusammenfassend behaupten, daß weniger Egoismus vorherrscht. Das zeigt sich im oben beschriebenen Epochenüberblick, der Atmosphäre und Geschichte einfängt, auf viele andere Personen fällt und garantiert, daß die Zeit an sich zwischen dem Ende der 20er Jahre und dem Mauerfall breiteren Raum gewinnt. Das umfassendere Bild ist eine günstige Voraussetzung für Erkenntnis über die Zeit, die de Bruyn schildert. Was die DDR betrifft, hängen solche Erkenntnisse mit dem "Märchen von den edlen Anfängen des sozialistischen deutschen Staates" (vgl. VJ 231ff.), dem Leben im Schatten der Mauer (vgl. VJ 108ff.), nach der Ära Ulbricht (vgl. VJ 185-86) oder mit dem Ende der DDR (vgl. VJ 253) zusammen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR bei de Bruyn verhindert aber keinesweg die Selbsterkenntnis. Auf der Suche danach ist in erster Linie die selbstkritische Erzählhaltung des Autors wesentlich. Die Ursache liegt sicher in der in Zwischenbilanz angesprochenen "Unfähigkeit zum Leben im Kollektiv" (27). Bedingt ist diese Qualität z.T. durch die Rolle des Katholizismus in seiner Jugend, der, wie der Autor ausführt, "das nötige Glaubenspotential" (Zb 376) bereits abdeckte. Aus der Hitler-Zeit bringt de Bruyn dann folgenden Grundsatz mit: Dieser Grundsatz wird durch die Freundschaft mit dem intellektuell vielseitigen und gleichaltrigen Jörn gefördert, der in de Bruyn "die Sehnsucht nach einem bunten, vielgestaltigen Geistesleben" erweckte: "Sie bewahrte mich später vor der Versuchung, an neuer Dürre Genüge zu finden, und hielt meine Skepsis wach" (Zb 189). Als er und sein Freund H. später nach dem Krieg Thomas Manns Tonio Kröger lesen, wird diese Figur zum Vorbild: Auf diese Weise mit Skepsis gewappnet, war es nur eine Frage der Zeit, bevor de Bruyn mit dem ideologisierten Kollektivgeist des frühen DDR Sozialismus in Konflikt geriet.[15] Als Dorfschullehrer wird er denunziert, weil er im Deutschunterricht eine von Schillers Xenien verwendet, "die besagt, daß ein jeder, sei er für sich auch klug und verständig, wenn er in Corpore wäre, zum Dummkopf würde" (Zb 367). Diese Art Konflikt mit der neuen Staatsmacht ist dann der Anlaß, den Schuldienst zu quittieren und in Berlin das Studium an einer Bibliotheksschule aufzunehmen, bei dem er aber auch nicht der neuen Ideologie entkommt. Doch dient ihm dort das Pflichtstudium der Grundlagen des Leninismus als "hartes Training im Umgang mit der Macht der Einheitspartei": Es ist kein Wunder, daß de Bruyn bald die Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem Sozialismus in der DDR erkennt: Das erste Zitat spricht schon andeutend von eigener Unterordnung, aber auch das zweite Zitat, das die "Angst" de Bruyns andeutet, macht klar, daß der zwar damals schon die Dinge skeptisch sah, nicht aber über den Dingen stand; der kritische Rückblick ist auch selbstkritisch gemeint.[16] Das ist auch an anderen Stellen zu beobachten: Als Gasthörer an der Humboldt-Universität ist der Autor von Wolfgang Harichs staatstreuen Vorlesungen zum Marxismus enttäuscht, die ihm eher als abschreckendes Beispiel dafür dienen, "lieber den Schierlingsbecher als Unterwerfung zu wählen, doch wenn man täglich von Verhaftungen und Verschleppungen hörte, verging bald der Mut" (Zb 366). Nach seiner Ausbildung als Lehrer in der Sowjetischen Besatzungszone wird de Bruyn in ein havelländisches Dorf geschickt, wo er unwillkommenerweise einen Lehrer ersetzen soll, der der NSDAP angehört hatte, und wo er von der politisch renitenten Dorfbevölkerung argwöhnisch als Vertreter der neuen Macht gesehen wird. Rückblickend überlegt er: "Was mich hier, und später noch oft, nachdenklich hätte machen sollen, war die Problematik einer politischen Stellvertretung, die man auch antritt, wenn man sich mit der Macht, in deren Dienst man seine Tätigkeit ausübt, in Konflikten befindet oder sich von ihr innerlich distanziert" (Zb 329). Das ist der Blick des älteren Erzählers, der die eigene Verstrickung in die Macht erkennt. In Vierzig Jahren ist dieser Blick dann besonders schonungslos; immer wieder sieht de Bruyn sein Verhalten in einem kritischen Licht.[17] So wird er kurz nach dem Bibliotheksstudium in ein Gremium berufen, "eine Art Volksgerichtshof für Bücher," der die Aufgabe hatte, die Bücherbestände zu reduzieren, die unter "Lenins, Stalins, Shdanows und Ulbrichts Bannflüche" (VJ 34) fielen. Zwar versuchte der Autor, den "Vernichtungselan" (VJ 35) zu bremsen, doch ist der Rückblick auf diese Arbeit "ein Grund zur Beschämung" (VJ 35). Der Autor erkannte damals nicht, "daß Mitmachen Mitverschulden bedeutet, sondern hielt an der Meinung [fest], daß man, um Schlimmeres zu verhüten, schlimme Posten wenn möglich besetzten sollte" (VJ 35-36). Diese klare Sicht läßt de Bruyn ebenfalls erkennen, daß er in der DDR nur Schriftsteller werden konnte, wenn er "zu Kompromissen bereit" (VJ 71) war, und zwar einerseits zu Textänderungen, um gedruckt zu werden (vgl. VJ 95-96), andererseits durch die Bereitwilligkeit zur Selbstzensur, indem er z.B. in seinem ersten Roman Der Hohlweg (1963) unangenehme Realitäten verschwieg. Heute bezeichnet er den Roman als "Holzweg" (vgl. VJ 115ff.).[18] Allerdings muß aus der Sicht der Literaturhistoriker hinzugefügt werden, daß es de Bruyn in seinem Romanwerk zunehmend gelang, erzählerisch virtuos mit dem real existierenden Sozialismus der DDR umzugehen. Bei dem gesellschaftskritischen Roman Buridans Esel (1968) war das schon der Fall, und mit dem Roman Neue Herrlichkeit (1984), dessen Veröffentlichung sich in der DDR verzögerte, wurde ohnehin sein "Mißverhältnis zum Staat ... offenkundig" (VJ 250).[19] In Vierzig Jahren erfahren wir, daß der Plan der Behörden, de Bruyn als Spitzel zu werben, im Sommer 1973 entstand (vgl. VJ 190ff.). Dabei fälschte die Stasi sogar Briefe, um den Autor in eine scheinbare westliche Agentengeschichte hereinzuziehen, was dem Zweck diente, den Autor bei der Anwerbung gefügiger zu machen. Er sollte vor allem über den DDR Schriftstellerverband berichten. Aus gegenwärtiger Perspektive läßt es de Bruyn nicht ruhen, daß er anfangs auf die Stasi-Intrige hereinfiel. Wiederholt spricht er von seiner "Schmach" (VJ 192, 199), "Scham" (VJ 192, 199), "Beschämung" (VJ 198) und seinem "Versagen" (VJ 201): "[Ich hatte] mich dabei in beschämender Weise als willfährig erwiesen. Ich war mir untreu geworden aus Angst" (VJ 198). Es waren Stasi-Kontakte, die de Bruyn erst bei der Akteneinsicht in ihrem vollen Ausmaße bewußt wurden: Indem de Bruyn konsequent die Verdrängung aufdeckt, ist er einer Maxime autobiographischen Schreibens treu geblieben, wie er sie in seinem Essay zu diesem Thema darlegt: Wichtig bleibt aber auch das "endgültige Nein" de Bruyns der Stasi gegenüber. Ohnehin kam die Staatssicherheit bald zur Ansicht, daß der Autor nicht - so de Bruyn - ihrem "Wunschbild" (VJ 199) eines Spitzels entsprach. In den Akten wurde aus staatlicher Sicht viel Negatives zu de Bruyn vermerkt, und im Februar 1976 entstand ein "Operativplan," weil der Autor - so die Stasi - als "Mitorganisator von feindlichen Handlungen im politischen Untergrund" galt (VJ 200). Der nächste Schritt war dann eine "Operative Personenkontrolle" (VJ 202); der Autor wurde von der Stasi direkt überwacht. Daß die Stasi-Tätigkeit letzten Endes geringfügig war, und zwar aufgrund der späteren Überwachung, ist ein Urteil, das zu bilden de Bruyn den Lesern überläßt. Die selbstkritische Erzählhaltung bedeutet hier, daß der Autor keinen Einfluß auf sie ausüben will. Insgesamt sieht de Bruyn sein Verhalten in der DDR als ein "Taktieren" mit einem "dauernden Wechsel von Mitlaufen und Distanzhalten" (VJ 204). Das wertet der Autor heute als "Halbherzigkeit" (VJ 228), doch siegte bei ihm "das Ruhebedürfnis" (VJ 228), um ungestört schreiben zu können. Für sein indifferentes Verhalten wird de Bruyn auch belohnt: "Man nahm an, daß einer, den man in Ruhe ließ, auch keine Neigung hatte, die Ruhe zu stören" (VJ 251). Auch hier gibt es bei de Bruyn den klaren Blick auf eigene Verstrickung in die Macht: "Störend war nur der Gedanke, daß Gewährenlassen auch Vereinnahmen bedeuten konnte" (VJ 251). Zwar habe er es vermieden, "[a]uf Verlangen von oben in der Öffentlichkeit Erwünschtes zu sagen," oft habe er aber "auch geschwiegen, wenn Unerwünschtes hätte gesagt werden müssen" (VJ 222). Dieses Urteil über die 70er Jahre wirkt sehr streng, denn immerhin war es de Bruyn, der 1987 auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR sehr kritische Worte gegen die Zensur in der DDR wagte: "Eine Gesellschaft, die diese Praxis, die in ihrer Frühzeit einmal sinnvoll gewesen sein mag, nicht zur rechten Zeit abschafft, schädigt ihr Ansehen, nährt Zweifel an ihrer Reformfähigkeit und beraubt sich der Antriebskraft der Kritik."[23] Doch auch diesen Auftritt sieht de Bruyn sehr selbstkritisch: Am selben Abend seiner Rede wird eine Gruppe von Bürgerrechtlern in der Berliner Zions-Kirche verhaftet, eine Tat, die er wiederum nicht öffentlich anprangerte. De Bruyn äußert sich auch über seine Ablehnung des Nationalpreises erster Klasse, den er im Sommer 1989 verliehen bekommen sollte. Zwar fühlt er sich "glänzend" bei diesem Entschluß, doch kurz danach kündigte sich das Ende des DDR-Staates sowieso an, seine "Geste, die Halbheiten, Feigheiten und Versäumnisse von Jahrzehnten gutmachen sollte, [ging] ins Leere" (VJ 253). Nach dem Mauerfall wirft er sich dann insgesamt "mangelnde Aktivität im Befreiungsprozeß" (VJ 255) vor. Bei solchen Selbstvorwürfen beläßt es de Bruyn aber nicht, da er auch die möglichen Ursachen seines Verhaltens aufdecken und auf diese Weise zu einer grundlegenden Selbsterkenntnis vordringen will. Auf den letzten Seiten von Vierzig Jahren spricht er von den einander vielfach widersprechenden religiösen und historischen Gestalten, die er im Laufe der Jahre verehrt hatte. Dabei kamen ihm damals keine Skrupel, "neben der Jungfrau Maria auch die von Orléans gelten zu lassen, ... und der Heilige Martin, der mit dem Bettler den Mantel teilte," blieb ihm "nicht weniger nahe als Winnetou oder Dietrich von Bern" (VJ 263). Weiter schreibt de Bruyn dazu: Das kann einerseits als Erklärung dafür dienen, warum er sich nicht voll für den aufklärerischen Anspruch des Sozialismus einsetzte, sich aber andrerseits auch nicht absolut dagegen wandte. Es ist eine mögliche Erklärung für seine Toleranz, die Bevorzugung eines mittleren Weges, das Lavieren, den Mangel an Konsequenz oder Radikalität. Letzten Endes ist es eine Erklärung, die umso stichhaltiger wirkt, wenn der Blick zurück skeptisch und frei von einem Rechfertigungsdrang ist. De Bruyns behutsame Schlußfolgerungen zur eigenen Person machen deutlich, daß er in beiden Teilen seiner Autobiographie, wie Sibylle Cramer in ihrer Rezension zu Vierzig Jahren schreibt, "ein offenes Gespräch mit sich selbst" führt.[24] Hier konnte nur zu einem geringen Teil auf die vielen Selbsterkenntnisse eingegangen werden, zu denen de Bruyn auf seine zurückhaltende Weise gelangt. Anfangs ist auf das Argument der literaturkritischen Dekonstruktion hingewiesen worden, daß die Sprache ein gelebtes Leben nur figürlich, in Metaphern erfassen kann. Selbsterkenntnis und Erkenntnis zur Zeit, in der die Autobiographen gelebt haben, sind nicht möglich. In seinem Essay zum autobiographischen Schreiben weist selbst de Bruyn auf diese Problematik hin: "Diese Echtheitsfrage, also der Zweifel, ob die Wirklichkeit in der Sprache adäquat Ausdruck findet, ist in Autobiographien stets gegenwärtig ..." (Ich 23). Trotz dieser Zweifel gelingt es ihm aber, ein schlüssiges Bild seines Lebens in einer bestimmten Zeit zu zeichnen. Ein Mittel der Reproduktion von Wahrheit ist der zeitlich distanzierte Epochenüberblick der zu erzählenden Zeit, der über das eigene Ich hinaus zu atmosphärischen Stimmungsbildern ausholt, das Ich in geschichtliche Ereignisse hineinstellt und auch das Bild vieler anderen Personen zeichnet. Was Selbsterkenntnis betrifft, ist ein weiteres Mittel die selbstkritische Erzählhaltung, die eigene Verwicklungen und Verdrängungen aufdeckt. Dabei müssen tiefere Schichten des Gedächtnisses freigelegt werden, ein Prozeß, der, wie de Bruyn in seinem Essay zum autobiographischen Schreiben ausführt, mit der sprachlichen "Echtheitsfrage" verwandt ist, aber letzten Endes "mit der Möglichkeit falschen oder lückenhaften Erinnerns" (Ich 39) zu tun hat. In Vierzig Jahren gibt der Autor auch unumwunden eine "Erinnerungslücke" (VJ 48) zu, wenn sie ihm bewußt ist (vgl. a. VJ 11, 12 u. 86). Hinzu kommt, daß Schriftsteller Meister im Erfinden sind, was zu der Frage führt, ob sie überhaupt wirklich am besten geeignet sind, aufrichtig und unverblümt über sich selbst in einer bestimmten Zeit zu schreiben. Im Hinblick auf (Selbst-)Erkenntnis zu einem Leben in der DDR oder zu diesem Land überhaupt mag die Lektüre von de Bruyns zweiteiliger Autobiographie durchaus produktiv sein, doch ist auch sie trotz der erfolgreich eingesetzten Mittel mit Vorsicht zu genießen. Das würde sich de Bruyn sicher auch wünschen. Seine Autobiographie ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erbe, letzten Endes bildet sie aber lediglich ein Beispiel der Schriften, die nicht nur von Literaten zu erbringen sind und die miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden müssen, bevor ein Bild der vierzigjährigen Existenz der DDR und ihrer Bürger entsteht, das Bestand haben wird. [1]Paul de Man, "Autobiography as De-Facement," The Rhetoric of Romanticism (New York: Columbia University Press, 1984) 76. Alle weiteren Angaben nach diesem Text in Klammern. |