glossen: rezension


 Ingo Schulze, Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (Berlin: Berlin Verlag, 1998).

Für seinen 1995 erschienenen Debütroman 33 Augenblicke des Glücks erhielt Ingo Schulze (1962 in Dresden geboren) mehrere Preise, darunter den Alfred-Döblin-Förderpreis und den Aspekte-Literaturpreis. Auch sein zweiter Roman, Simple Storys, war ein großer Erfolg, stand monatelang auf der Bestsellerliste des Spiegel. Mit Recht kann man also sagen, daß Schulze als einer der wichtigsten deutschen Nachwuchsautoren gilt.

Der absichtsvoll unkorrekte Titel Simple Storys und die ihm innewohnende reiche Symbolik suggerieren, worum es hier geht: um ganz gewöhnliche, fast naive Menschen auf Glückssuche nach den Umwälzungen von 1989. Auf verfremdeter Folie der amerikanischen short story im Stile Raymond Carvers und des Montagefilmkunstwerkes Short Cuts von Robert Altman projiziert Schulze eine Welt der Desorientierung und der Fremdheit, in der die aus der Bahn geworfenen Glücksritter sich tapfer immer wieder neu aufrappeln. “Eigentlich sind wir Glückskinder”, hört man von einem der überrumpelten Charaktere. Das doppelbödige Adverb “eigentlich” sagt alles: die Inkongruenz zwischen Ost und West ist trostlos, nur sehen es die Menschen nicht so. Ohne jedes Pathos, ohne Moralisieren und mit feinem Humor läßt Schulze seine Charaktere für sich selbst sprechen.

Schulze führt dem Leser ein riesiges Figurenensemble vor Augen. Mosaikartig vernetzt er 29 Einzelepisoden wie Puzzleteile zu einem Mikrokosmos der ostdeutschen Provinz auf gesamtdeutschen Boden. Kaleidoskopartig gleiten die Figuren von Szene zu Szene, sie verschwinden temporär oder ganz, oder sie werden zu Randfiguren. Erzählt wird aus der Perspektive der Personen, die von Kapitel zu Kapitel wechselt. Die Sprache ist sparsam und knapp, jedoch reich an Leerstellen, die der Leser füllen muß. Ohne Psychologisierung wird gezeigt, wie die Menschen auf neue, ihnen fremde Notwendigkeiten reagieren. Da ist zum Beispiel der abgehalfterte parteitreue Schulleiter Ernst Meurer, der auf einer Italienreise auf den ehemaligen Lehrer Dieter Schubert trifft, den er um seine Stellung gebracht hat und der bei dem Wiedersehen durchdreht. Aber auch Meurer selbst verliert den Verstand. Sein arbeitsloser Sohn Martin wiederum, von Beruf Kunsthistoriker, verliert seine fahrradfahrende Frau, die bei einem Unfall ums Leben kommt. Das führt Frau Doktor Barbara Holitzschek ein, die die Fahrerflucht ergriffen hat und vorgibt, einen Dachs überfahren zu haben. Marianne Schubert, die Frau des am Herzinfarkt verstorbenen Lehrers Dieter Schubert, trifft in einem Berliner Krankenhaus die Schwesternschülerin Jenny, mit der ihr Mann ein Verhältnis hatte. Diese macht in der letzten Episode des Romans im Taucheranzug und mit Schwimmflossen mit dem jobsuchenden Kunsthistoriker Martin Meurer Reklame für ein Fischrestaurant. Und so fließen die Figuren in immer wieder neue Konstellationen. Es wimmelt in diesen Miniaturen von Namen wie Martin, Patrick, Maik, Jan, Alex, Jenny, Enrico usw., die in enger oder lockerer Beziehung stehen, deren Zusammenhang der Leser erst allmählich, manchmal gar nicht erkennt. Wenn man Ingo Schulze einen Vorwurf machen will, so ist es der des Wirrwarrs im Figurengeflecht. Oft fühlt sich der Leser verloren, und wie die Personen der Handlung verliert er den Halt. So ist die Entscheidung, ob es sich um eine erzähltechnische Schwäche oder einen geschickten Kunstgriff handelt, letztlich ihm selbst überlassen.

Schulzes literarische Momentaufnahmen des Alltags aus der Kleinstadt Altenburg sind schwierige, anspruchsvolle Lektüre. Wer sich jedoch eingelesen hat, erlebt Momente von traurig-rührender Komik und Menschlichkeit. In ihrer grotesken Aufmachung bringen es die beiden fehlplazierten Reklamemacher für das Fischrestaurant auf den Punkt: “Wir halten uns an der Hand, weil die Brille das Blickfeld einengt und man nie weiß, ob der andere wirklich noch neben einem geht.”

Christine Cosentino
Rutgers University


zurück zum inhaltsverzeichnis