glossen: interview


"Lebensstationen"Heinz Blumensath im Gespräch mit Hans-Ulrich Treichel


Heinz Blumensath

Gibt es für Dich so etwas wie Lebensstationen?

Hans-Ulrich Treichel

Na ja. Markanteste Station ist für mich natürlich der Kindheitsort Versmold, wo ich geboren wurde und 16 Jahre gelebt habe. Markant deshalb, weil es eine nachdrücklich provinzielle Erfahrung war, dort aufzuwachsen, für mich, in einer Art geographischem Niemandsland, was sich durch wenig auszeichnete, eigentlich durch Abwesenheit von besonderen Eigenschaften. Eine gewisse Leere ist eigentlich die markanteste Erfahrung, was verstärkt wurde durch die Herkunft der Eltern, die Flüchtlinge waren und also nicht von dort stammten, dort keine Wurzeln hatten, deren Wurzeln historisch verloren gegangen sind, so daß es auch in der Familiengeschichte und Legende eigentlich ein Niemandsland war. Und das hat dann natürlich in mir gearbeitet, denn es ist wahrscheinlich, wenn man jung, vielleicht ist es auch das Leben lang, daß man sich zu versichern sucht über Herkunft und Bezüge sucht. Und ich konnte das eigentlich nur ex negativo für mich erarbeiten. - aber das Schreiben ist z.T. daraus überhaupt motiviert worden, aus dieser Orientierung im leeren Raum.


Ich war ein etwas problematischer Schüler, mit vielen Pubertätsunsicherheiten, die sich auf den Notendurchschnitt auswirkten und bin dann nach der Mittleren Reife aufs Internat gegangen, nach Hessen, Schlüchtern; hab dort anderthalb Jahre weitergemacht und bin dann noch einmal...nochmal die Schule gewechselt...und bin...hab mein Abitur in Hanau an der Hohen Landesschule gemacht; hab also einen etwas unregelmäßigen Ausbildungsweg...ich weiß nicht mehr, wie die Frage war.

H.B
. Wie ging es dann weiter?

H.U.T. Ich bin dann in Hanau gewesen, hab dort dann unter guten Umständen, auch für mich guten Umständen, ein ganz gutes Abitur hingekriegt, denn...man muß dazu sagen, es war auch in dem Ort Versmold, wo ich aufgewachsen bin...für Flüchtlingskinder immer noch eine Stufe schwieriger, zu gymnasialen Würden zu gelangen, als für andere. Man war eigentlich nicht dafür vorgesehen, sozusagen, ins akademische Milieu aufgenommen zu werden. Und das hat man schon als Schüler gespürt. Von daher war es für mich in dem sozialdemokratischen Reformland Hessen angenehmer und da spielte es keine Rolle, woher man kam...welchen Hintergrund man hatte.

Und dann hab ich dort Abitur gemacht und bin dann, wie einige meiner Freunde auch, nach Berlin gegangen, um zu studieren. Das war das Entscheidende...
Es war eigentlich immer klar, daß Berlin nur der Ort sein kann, wo ich studieren will, wo ich hingehen will und da bin ich dann auch geblieben, bis Staatsexamen, Promotion, Habilitation....mit einigen Unterbrechungen, aber der Ausbildungsgang hat sich in Berlin abgespielt. Die Unterbrechungen waren Arbeitsaufenthalte in Italien, ein Lektorat ein Jahr in Palermo, in Süditalien und ein Lektorat in Pisa, an der Scuola normale superior, und das war natürlich auch eine schöne Zeit, wenngleich man immer nicht wußte, wo genau das perspektivisch hinführt, wenn man dann dort in Italien hockt, aber es war natürlich für die Lebenserfahrung, auch für das Schreiben, für die Motivsuche ganz wichtig. Ein bißchen gehörte ich auch zur Toskana-Fraktion und war also froh, in Italien gelandet zu sein.

H.B. Wie ging es von Berlin nach Leipzig?

H.U.T. Von Berlin nach Leipzig...Das hat sich relativ organisch gefügt...Nach der Habilitation habe ich nicht allzu lange warten müssen, bis ich die Ausschreibung gesehen habe für eine Stelle am Deutschen Literaturinstitut und...habe mich beworben und bin dann auch berufen worden,...fünfundneunzig...
Es hat sich deshalb gut gefügt, weil eigentlich diese Stelle ziemlich genau zu dem gepaßt hat, was ich bisher gemacht hab. Einerseits Germanistik betrieben, andererseits selber geschrieben habe und auch ein bißchen schon Werkstattseminare und kreatives Schreiben unterrichtet habe, parallel zur Germanistik. Insofern war es wirklich eine glückliche Fügung und paßte sehr genau auch zu meinen Wünschen, daß dieses Institut gegründet wurde als...man kann nicht sagen, als Nachfolgeinstitut des Johannes R. Becher-Institutes, aber doch...im Zuge der Diskussion, was geschehen soll mit diesem Bereich Kreatives Schreiben, wenn das Becher-Institut abgeriegelt wird. Und die politische Entscheidung, sowas beizubehalten unter anderen Voraussetzungen, nämlich als Universitätsinstitut..., hat dann eben auch dazu geführt, daß es besetzt wurde mit Leuten, die zum Teil Autoren sind, zum Teil aber auch beides machen, Literaturwissenschaftler und Autoren.

Und ich war natürlich sehr froh, diese Arbeit übernehmen zu können, um so bald beruflich weiterzutreiben, was ich auch bisher gemacht hatte.

Man könnte ja denken, für einen Autor ist es das beste, absolut frei zu sein...für mich hat sich eigentlich immer gezeigt, daß es ganz gut war, nicht völlig frei zu sein, sondern....Stand- und Spielbein immer ein bißchen auszutarieren, selbst wenn es auf Kosten der Schreibzeit manchmal geht...aber es ist...ist für mich produktiver, sozusagen auch Verpflichtungen im pädagogischen Bereich zu haben und nicht nur zu Hause zu hocken und zu schreiben.

H.B. Was bedeuten denn die beiden Städte für Dich? Berlin und Leipzig?

H.U.T. Na, ich bin von Berlin...ich hab immer sehr an Berlin gehangen, besonders an der geteilten Stadt, was vielleicht politisch nicht korrekt ist...wenn man daran gehangen hat, aber die Situation der geteilten und eingezäunten Stadt hat irgendetwas in meinem Inneren entsprochen...Das war..., da hatte ich immer ein starkes Heimatgefühl zu Westberlin. Das hat sich ein bißchen gegeben, dieses Heimatgefühl, durch die Wende...Die Stadt hat sich für mich sehr verändert. Also Westberlin ist damit vorbei, glaube ich schon. Und dadurch hat sich auch meine Bindung ein bißchen gelockert. Meine Frau lebt noch dort, und wir haben natürlich Freunde da...Von daher gibt es noch Bindungen. Aber die spezifische Bindung zur Stadt ist eine andere geworden. Die ist nicht mehr so stark. Und von daher konnte ich ohne Problem für mich auch eine Bindung zu Leipzig aufbauen. Leipzig war mir absolut fremd, und ich bin froh, daß ich in Leipzig gelandet bin, weil ich es genieße, eine nicht so große Stadt zu haben...eine Stadt, die kulturell sehr lebendig ist; und ich fange an, mich hier langsam zu binden an diese Stadt. Entdecke Orte...die mir wichtig sind...

H.B. Was denn so?

H.U.T. Ach, bestimmte Wege...das sind keine besonders schönen oder spektakulären Orte...Das sind einfach bestimmte Gänge, der Weg zum Institut durch den Zetkin - Park; den mag ich gerne, speziell im Sommer...gehe gern am Carl-Heyne-Kanal entlang...oder fahre entlang. Also so ein paar Dinge, die ich sehr schön finde und die ich vorher nicht kannte.

H.B. Kommen wir mal zu Deiner Arbeit hier...Du hast ja Studenten hier, die selber Autoren werden wollen. Wie ist denn das mit der Lehrbarkeit der Literatur?

H.U.T. Also lehrbar ist sehr vieles, glaube ich. Also was wir machen, ist ein künstlerisches Autorenstudium, wissenschaftlich begleitet...aber das Ziel ist schon...parallel auch zu der Arbeit an Kunsthochschulen, Leute im Bereich der Literatur auszubilden...zu Schriftstellern auszubilden. Das ist in Deutschland etwas sehr Ungewöhnliches, wird auch immer noch von einigen Leuten mit Skepsis betrachtet, obwohl sich insgesamt die Öffentlichkeit eher offener zeigt diesem Phänomen gegenüber...und es doch an vielen Orten immer mehr Initiativen gibt und Unterstützung gibt, was kreatives Schreiben angeht.

Was die Frage der Lehrbarkeit und Lernbarkeit angeht, das ist glaube ich klar, daß man Voraussetzungen mitbringen muß, wie, glaube ich, in jedem Beruf. Auch ein Jurist muß gewisse Voraussetzungen haben. Das ist das, was wir so Talent nennen, wobei nicht unbedingt klar ist, was das eigentlich genau ist...und ob das eine fixe Größe ist, die man einmal hat und die man eben nicht hat.

Aber Voraussetzungen muß man mitbringen, und wir versuchen, bei den Studenten, die müssen sich bewerben mit Texten, diese Voraussetzungen in den Texten zu erkennen, und wenn die da sind, dazu gehört ein bestimmtes musikalisches Gefühl, Möglichkeiten auch der literarischen Phantasie, auch Möglichkeiten, mit Stoffen umzugehen, auch mit dem eigenen Lebensstoff — das sind, glaube ich, schon Voraussetzungen, die man haben muß — wenn das gegeben ist, ist meine Erfahrung, kann man sehr viel machen. Man kann also dann in einer dreijährigen konzentrierten Laborsituation den Studierenden Erfahrungen vermitteln, die man als Autor sonst in vielen Jahren aufmacht.

Also ich habe immer nur dann richtig intensiv gelernt, wenn ich Manuskripte mit dem Lektor besprochen habe. Das war dann immer so die konzentrierte Phase, wo ich wirklich mich mit meinen Fehlern und Problemen auseinandersetzen mußte und wirklich hart darangehen mußte.


Und das passiert aber eben immer nur, wenn ein Manuskript da ist, in dieser konzentrierten Form. Am Institut machen wir das eigentlich jede Woche, und die Studenten sind eigentlich jede Woche mit eigenen Texten in einer lektoratsähnlichen Situation. Sie haben auch immer eine kleine Öffentlichkeit, die Institutsöffentlichkeit, die Seminaröffentlichkeit, gelegentlich auch Lesungen, so daß es nicht nur ein ganz geschlossenes Labor ist, sondern auch ein Stück Hinaustragen in die Welt schon von Texten.

Aber das Entscheidende ist, glaube ich, das kontinuierliche Aufgefordertsein, gemeinsam mit anderen und für andere, stilistisch zu korrigieren, zu kritisieren, zu überarbeiten.

Ich bin natürlich als Lehrender nicht nur Germanist dort und Literaturwissenschaftler, sondern ich bin ja auch Autor und insofern gibt es eine gewisse Identifikation über das Metier auch mit den Studierenden, aber gelegentlich kann man auch als Dozent eigene Texte diskutieren und thematisieren, aber das ist eigentlich nicht die Hauptaufgabe, die wir haben, sondern es geht schon darum, die Arbeiten der Studenten zu motivieren, also auch ein Stück...eine Übertragung herzustellen, ein...eine Schreibspannung mit aufzubauen und dann natürlich auch eine Diskussion zu organisieren, die produktiv laufen soll.

Denn es gehört zu den Aufgaben der Studierenden, nicht nur, daß sie Eigenes produzieren und vorlegen, sondern daß sie auch herangeführt werden an die Fähigkeit, genau und auch verantwortungsbewußt andere Texte zu lesen. Und da ist natürlich unsere Aufgabe auch wichtig, daß wir das einigermaßen mit auf den Weg bringen, daß wir eine Kultur des Lesens und Kritisierens dort entwickeln.

H.B. Geht die Förderung des Institutes soweit, daß sie auch, sozusagen, erste Schritte in das berufliche Leben des Autors fördern, also Vermittlungen von Sendeanstalten usw.?

H.U.T. Also ein bißchen versuchen wir auch schon, neben den klassischen Gattungen Lyrik, Prosa, Dramatik, die so unsere Fächer eigentlich ausmachen, auch sogenannte pragmatische Textgattungen mit zu berücksichtigen. Also wir haben Gastdozenten, die Drehbuchseminare anbieten oder wir werden auch Hörspielseminare und andere Dinge machen oder Rezensionsseminare. Und dort soll natürlich auch, wenn möglich, ein Kontakt hergestellt werden zu den Medien, die das entprechend verarbeiten. Und wo wir das können, versuchen wir natürlich auch, diese Kontakte zu unterstützen und wünschen uns, daß die Studierenden, wenn sie dort ihr Studium abgeschlossen haben, auch irgendwo schon ein Fuß vielleicht in der Tür haben, denn als freie Autoren werden sie in der Regel nicht leben können.

Unser erster Diplomant hat schon eine Stelle gefunden als Lektor in einem Verlag und nicht unbedingt, weil wir ihm das vermittelt haben, sondern, weil es sich ergeben hat, aber es ist sozusagen ein gutes Zeichen, und ich hoffe, daß sich das auch in der Richtung entwickeln wird.

H.B. Du hast in irgendeinem Gedicht gesagt, daß wie bei jedem echten Radikalen im bestimmten Alter die Liebe zur Oper sich gesellt und Du hast ja mit einem Komponisten in den letzten Jahren zusammen gearbeitet. Wie sah denn eigentlich diese Zusammenarbeit mit Hans-Werner Henze aus? Handwerklich, praktisch, menschlich....

H.U.T. Also was die Tätigkeit als Librettist angeht, wird man manchmal von Leuten gefragt, die sich nicht so gut auskennen,“Gibt es erst die Musik oder erst den Text...?“ , es ist natürlich klar, daß es erst den Text geben muß, und das ist sozusagen die Grundvoraussetzung, daß man sich zusammensetzt mit dem Komponisten und sich über ein bestimmtes Sujet verständigt. Dann wird der Text geschrieben, dann wird komponiert, und während der Arbeit an der Komposition gibt es in der Regel Rückmeldungen von Seiten des Komponisten. Und so war es in der Zusammenarbeit mit H.W. H. auch. Wir haben uns über ein Sujet verständigt...

...und nun hängt es immer ein bißchen vom Temperament des einzelnen Komponisten ab, wie genau er schon, bevor er irgendeine Note geschrieben hat, schon Phantasien hat über sein eigenes Stück. Bei Henze war es so, daß er relativ genau wußte, was er wollte, musikalisch, und so konnten wir uns schon über Textstrukturen unterhalten, ohne daß er komponiert hatte.

Also er hatte Längenvorstellungen, er hatte dramaturgische Vorstellungen, er wußte ungefähr, wieviele Arien und Ensembles er haben wollte und an welchen Stellen, wieviel Personal...was alles über musikalische Phantasien ging.

Oder aber jetzt bei der 9. Sinfonie Henzes, die wir zusammen gemacht haben, hat er gewußt, wieviel Sätze er haben möchte und es kam auch von ihm die Idee, die Sache textlich an einer literarischen Vorlage aufzuhängen, an dem Roman Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Darüber literarische, dichterische Phantasien zu schreiben für eine siebensätzige Chorsinfonie. Und dieses... Die Struktur ...siebensätzige Chorsinfonie, war für ihn vorgegeben. Das heißt, er wußte, er macht sieben Sätze, und in jedem Satz ist ein Chor, und er wollte eine Auseinandersetzung mit diesem Stoff, den Seghers, als Roman bearbeitet hat.

Also insofern sind die Grenzen schon für den Autor gesteckt, aber innerhalb dessen muß man sich natürlich was einfallen lassen.

H.B. War das eine anstrengende Arbeit?

H.U.T. Na beides. Einerseits ist es ein Stück Unfreiheit natürlich, wenn man was geschrieben hat und es heißt dann: Ich brauch aber noch acht Zeilen. Dann muß man den Text wieder aufbrechen. Das ist manchmal anstrengend, aber mir ist klar, daß das wirklich ‘ne Funktion für den Komponisten haben muß. Das Angenehme ist natürlich, daß man nicht allein ist bei der Arbeit. Ansonsten beim Gedichteschreiben und beim Prosaschreiben ist man allein, für alles selbst verantwortlich. Niemand gibt einem irgendeinen Rahmen, einen Halt. Und das macht natürlich dann Spaß, zumal man auch einiges lernen kann über Musik.

H.B. Hättest Du die Vorstellung, in anderen Zusammenhängen, auch mit Musik und Komponisten weiterzuarbeiten?

H.U.T. Nein, ich habe eigentlich ein bißchen, sozusagen, exclusiv, mit Henze gearbeitet, auch weil es, über einen persönlichen Kontakt ging. Ich bin von Hause aus kein Opernfreund gewesen, sondern Oper war mir, wie vielen meiner Generation, glaube ich, erstmal fremd. Sie galt ja auch in den siebziger Jahren unter den Intellektuellen eigentlich als eine bourgeoise, bürgerliche Kunst, als eine Kunstgattung, der man sich nicht zugewandt hat.

Das hat sich geändert. Und ich bin schon über die kontinuierliche Zusammenarbeit herangeführt worden. Wir haben ja auch in verschiedenen Musikwerkstätten zusammengearbeitet. Es gab also einen Vorlauf, und darüber war das für mich eigentlich auch sinnvoll. Ich bin nicht jemand, der jetzt sozusagen laufend Libretti produzieren will. Da ist es schon wichtig gewesen, mit einer bestimmten Person in einem bestimmten Kontext zusammenzuarbeiten.

H.B. Was heißt eigentlich Natur für Dich?

H.U.T. Ja, die Natur spielt eine große Rolle. Aber in meiner naiven, subjektiven Wahrnehmung gibt es nicht hier die Stadt und dort die Natur...Ich bin ja auch kein Bergsteiger und weiß schon zwischen einem Wald und einer Einkaufszone zu unterscheiden, aber für mich, in meiner Erfahrung, verwischt sich das.

Ich liebe eigentlich die Stadtnatur, die städtische Natur und das, was sich dann möglicherweise anfügt. Ich bin nicht jemand, der jetzt wochenlang durch Wälder wandert. Ich kann das auch genießen, aber innerliche Auseinandersetzungen finden eher statt bei mir mit städtischer Natur, die für mich auch ein Stück wirklicher Natur ist...und nicht nur ein gemachtes, steinernes Produkt.

Daher kommt es wahrscheinlich, daß das auch in der lyrischen Arbeit viel öfter Stadterfahrungen thematisiert sind. Da ist Berlin für mich zum Beispiel die ideale Stadt, weil sie eine große Naturseite integriert hat in die...in die Urbanität. Natur als solche macht mir immer etwas Angst nach einiger Zeit. Wenn ich an der Nordsee bin oder auf einer Insel, dann setzt ein gewisser Sog ein, diese wahrscheinlich aus der Kindheit kommende Leere setzt dann ein, und ich flüchte dann doch gern in die Stadträume zurück...

Das wäre vielleicht mal ein Thema, diese Art Naturerfahrung, diese etwas panische Naturerfahrung genauer unter die Lupe zu nehmen, was das eigentlich ist. Aber Natur als solche beunruhigt mich. Und die Stadt mit ihrem Lärm beruhigt mich dann eher.

H.B. Zum Handwerklichen des Schreibens, also ganz pauschal gefragt, wie schreibst Du eigentlich? Gibt es ‘ne Idee, hast Du einen Vorsatz, was benutzt Du als Instrumente zum Schreiben usw?

H.U.T. Also die handwerkliche Seite...Ich war früher Linkshänder, habe auch mit links Schreiben gelernt, in der ersten Klasse, glaube ich...bin dann in der zweiten oder dritten Klasse umgepolt worden auf rechts...mußte dadurch noch mal Schreiben lernen, habe dadurch eine ziemlich zerfahrene Handschrift. Ich habe heute oft Probleme, wenn ich einen Euroscheck unterschreibe. Das entspricht nicht der Unterschrift auf der Karte, und ich muß dann immer meinen Paß vorzeigen. Und das hängt damit zusammen.

Ich habe eigentlich keine feste Handschrift mehr für mich gefunden nach dieser Umerziehung und habe deswegen fast immer mit mechanischen Hilfsmitteln geschrieben...ganz selten, daß ich mit dem Notizbuch irgendwo sitze...sondern meistens mit der Schreibmaschine...von der Olympia Traveller über die Kugelkopfmaschinen...und es gab noch so ein anderes System...Typenradmaschinen bis hin zu dem erlösenden Laptop, und das ist eigentlich das Medium, mit dem ich am besten arbeiten kann.

H.B. Was ist daran so gut?

H.U.T. Ich glaube, es ist das Mechanische an der Tastatur, das ist, glaube ich, das Entscheidende. Also selbst ein kleines Gedicht entwerfe ich am liebsten über so eine Tastatur. Also Laptop oder Schreibmaschine ist eigentlich egal, Laptop ist etwas leiser. Man kann nachts schreiben und kriegt mit den Nachbarn keinen Ärger. Aber das Mechanische der Tastatur, ist, glaube ich, das Entscheidende dabei. Warum das so ist, weiß ich nicht. Aber ich glaube, da gibt es zwei Schriftstellertypen, es gibt die einen, die sich stärker an diese Mechanik anlehnen und andere, die sehr stark aus dem Handgelenk heraus...das Organische sozusagen, brauchen, die organische Verlängerung, um zu schreiben.

H.B. Es gibt ja auch ‘nen richtigen Kult der Stifte und...des Federzeugs undsoweiter. Ja, was brauchst Du denn?

H.U.T. Naja, ist vielleicht ein bißchen sexualneurotisch, dieser Kult der Stifte.

H.B. Machen nur die Männer?

H.U.T. Man liest das auch, Robert Walser und andere, die haben da diesen Kult gepflegt. Sie hatten auch Schreibblockaden, mit bestimmten...weil da die Tinte stockte und sowas , sind dann zum Bleistift übergegangen...Robert Walser zum Beispiel hat das richtig für sich mal dokumentiert, eine Schreibkrise, die er mit der stockenden Tinte in Verbindung gebracht hat, und dann hat er so eine Art regressive Rückkehr zum Bleistift vollzogen, das ist ja das kindlichere Instrument vielleicht...und hat dann wieder zum Schreiben zurückgefunden. Also da gibt es Geheimnisse in der Seele der Menschen.

H.B. Also ich erinnere mich an Jürgen Becker, der sagte, es gibt einen bestimmten Ort, einen bestimmten Geruch, eine bestimmte Stimmung und erst dann einen bestimmten Stift und bestimmtes Papier. und erst dann könne er schreiben. Was brauchst Du, um Dich neben Deiner beruflichen Tätigkeit überhaupt wohlzufühlen? Also ich denke auch, daß Du Sport siehst oder treibst...

H.U.T. Also gelegentlich tu’ ich das. Also ich meine, um mich wohlzufühlen...die ganzen elementaren Dinge, die jeder Schreibtischarbeiter braucht, sind irgendwie, die eigene Physis in Bewegung zu halten und Fahrrad zu fahren und wenn möglich, Schwimmen zu gehen und Sport zu machen und vielleicht auch mal ins Fitneßcenter zu gehen, das ist klar...Aber neben der, sozusagen...physischen Reproduktion ist es für mich schon wichtig, immer in einer irgendwie produktiven Spannung mit mir selbst zu sein. Ich fühle mich nicht lange wohl, wenn ich nicht an irgendetwas arbeite oder nicht innerlich irgendwas schon vorbereite. Das kann manchmal auch etwas zwanghaft sein, weil man dann nicht so recht genießt, wenn man was fertig hat. Aber das ist eigentlich die Bedingung, immer wieder die größenwahnsinnige Illusion im Kopf zu haben, man könnte wieder irgendwas herstellen. Wenn das ausbleibt, dann fühle ich mich sehr unwohl mit der Zeit.

H.B. Ich meine, Du bist ja jetzt, wenn man das so pathetisch sagt, so in der Mitte des Lebens.

H.U.T. Genau...

H.B. Was gibt es denn noch für die Zukunft zu träumen?

H.U.T. Ach, das kann ich gar nicht so genau sagen. Ich will vernünftig leben mit dem Eigenen und vernünftig arbeiten. Also.ich glaube, es gibt so eine ganz kurze Antwort von Siegmund Freud, WAS MACHT DAS GLÜCK AUS...nämlich Liebe und Arbeit, und ich glaube, das ist das Entscheidende, wenn es funktioniert.

H.B. Wie hat die Familie auf Deine Schreibbeginne und Deine ersten Erfolge reagiert?

H.U.T. Naja, einerseits natürlich schon erfreut, weil man ja ein Stück eigene schöpferische Tätigkeit darstellt und repräsentiert. Ich habe auch meine ersten Bücher in meinem Heimatort gelesen, aber manchmal auch mit einer gewissen Irritation, wenn biographische Dinge thematisiert worden sind, wobei ich nicht glaube, daß ich da eine Indiskretion ausgeplaudert habe, aber man muß bedenken, wenn man das eigene Leben zum Teil zum Stoff macht, man einen kalten Blick auf sich selber als Voraussetzung dafür braucht, und das kann manchmal wie eine gewisse Härte wirken, daß man plötzlich die eigenen Lebensumstände zum Gegenstand macht.

Ich hab aber viele Dinge für mich auch erst schreiben können, zum Beispiel nach dem Tod der Eltern, die mir sozusagen historisch geworden sind. Aber entscheidend ist glaube ich, dieses, auch im Umgang mit sich selbst, daß man einen gewissen Spaltungsprozeß mit sich selber macht, um bestimmte Dinge autobiographisch zu verarbeiten. Und das ist für andere einerseits interessant, andererseits auch irritierend.


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