glossen: rezension


 Hans Joachim Schädlich, Trivialroman, Rowohlt Verlag, 1998.

Nach Tallhover (1987) und Schott (1992) legt Hans Joachim Schädlich, seinen dritten Roman, den Trivialroman, vor. Nun ist das Thema dieses Textes alles andere als trivial: Es geht um Verhaltensmuster von Menschen beim Aufstieg und Fall ihrer Organisation, die man sich wahlweise als ausbeuterische Sekte, politische Seilschaft oder als Gangsterbande vorzustellen hat — nach zwei deutschen Kriegen, nach dem Untergang diverser staatlicher Systeme, deren Lebensdauer viele auf mindestens 1000 Jahre berechnet hatten, verschiedenen Umsturzversuchen und subversiven Aktionen von Sekten, Politgangstern und militanten Sekten eine Grunderfahrung unserer Zeit. Der Trivialroman ist ein modernes Märchen: Der Held überwindet unüberwindlich scheinende Hindernisse — den Fall der Organisation — und am Ende wird alles gut. Es ist ein modernes Märchen, weil es sich um einen kollektiven Helden handelt, nämlich die Mitglieder dieser Organisation, und weil das gute Ende ein schlechtes ist, denn diese Helden sind tatsächlich üble Gestalten.

Während in besseren Zeiten die ganze Stadt zu ihrem Operationsfeld gehörte, sitzen nun vier Bandenmitglieder darunter der ehemalige Autor und jetzige Propagandachef, Chronist der Bande und Erzähler des Textes, Feder, und ein Barkeeper in einer Art Kellerbunker oder -bar fest und warten wechselweise auf ihre Verhaftung und auf ihren Chef, der längst mit den Geldkoffern getürmt ist, weil etwas schief gegangen ist. Andere von ihnen sind draußen erst einmal irgendwo abgetaucht. Plötzlich “schneit Clarissa herein”, eine ehemalige Striptease-Tänzerin, die sich wegen ihrer künstlerischen Karriere sowohl an den Chef als auch an Dogge herangemacht hatte. Dann stößt Natter zu ihnen. Die Lage im Bunker wird brenzlich. Unter dem Druck der Gefahr, wendet sich jeder gegen jeden. Alte Rechnungen werden beglichen. Das Geld in Dogges Tresor interessiert alle.

Doch die Dinge stehen nicht so schlimm wie befürchtet. Nach der Verhaftung kommt nicht der große Prozeß, sondern die Auflage, sich am nächsten Morgen bei der Polizei zu melden. Man kann unter neuen Bedingungen weitermachen. Selbst Feder, der als Modell des verführten und verführenden Intellektuellen sich schon seine Rechtfertigung für sein Mitmachen bei der Bande zurechtgelegt hatte und bereit war ihr in den Rücken zu fallen, muß das nicht tun und profitiert weiter. Man beschafft ihm eine gute Wohnung, und er bekommt von den alten Genossen eine monatliche finanzielle Geldzuweisungen.

Schädlichs Sprache ist, wie auch in früheren Texten, von äußerster Präzision: kein Wort zu viel oder zu wenig, keine Bedeutungsschattierung, die durch Wortwahl, Wortstellung oder Syntax nicht gewollt wäre. Schlafwandlerisch genau trifft der Trivialroman die Gangster- und Nuttensprache der Protagonisten, ihre Brutalität, ihren Zynismus, ihre falsche Sentimentalität und ihre auf den eigenen Vorteil bedachte Schläue. Es ist die Sprache der Nattern, Biber, Ratten, Wanzen und Doggen — die Spitznamen der Protagonisten sprechen Bände. Die Dialoge im Text schlagen manchmal überraschenden Haken — man könnte sich den Trivialroman auch sehr gut als Theaterstück vorstellen.

Schädlich baut an verschiedenen Stellen sprachliche Sicherungen ein, die es den Lesern verweigern sollen, den Text unmittelbar mit den politischen Veruanderungen nach 1989 in Verbindung zu bringen. Man versteht, es geht um Sekten und Gangster in einer typischen Situation, nicht etwa um die untergehende DDR nach dem Fall der Mauer. Doch sind entstehende Ähnlichkeiten gerade mit diesem Ereignis nicht rein zufällig. Deshalb wird der Zeitgenosse die Mielkes, Ulbrichts, Honeckers, Naumanns, Oelschlägels, Hermlins, Bechers und Gysis u. a. und sich selbst in diesem Trivialroman wiedererkennen.

Die gegenwärtige Literaturkritik hat lange auf einen Wenderoman gewartet. Obwohl es wahrscheinlich nicht in Schädlichs Absicht gelegen hat, einen Wenderoman zu schreiben, Trivialroman ist einer, und zwar von der Qualität von Texten wie Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, wie Animal Farm oder 1984.

Wolfgang Müller


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