glossen: heft 8 — kurzbiographie


Rainer Stollmann: Kurzbiographie Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief ist Christoph Schlingensief. Das jedenfalls kann man mit Bestimmtheit sagen, ob es sich nun um Filme („Das Deutsche Kettensägemassaker“, „Terror 2000“ - noch bevor in Deutschland die ersten Skinheads Häuser anzündeten und Ausländer umbrachten, ahnte dieser Film etwas von dem prekären politischen Klima), Theater („Bring mir den Kopf von Adolf Hitler!“, „Rocky Dutschke, `68“), Fernsehen (Schlingensief: „Talkmaster kann jeder sein“), eine Wahlkampagne mit abschließendem Bad von 6 Millionen Arbeitslosen im Wolfgangsee am Feriendomizil Helmut Kohls („Chance 2000“) oder um Bücher handelt. Ein Freund Schlingensiefs, Helge Schneider, mittlerweile in Deutschland sehr prominent, nennt sich „die singende Herrentorte“, um den Klassifizierungsfallen der Presse („Komiker“, „Kabarettist“) zu entgehen. „Die eine Hälfte eines Menschen ist sein Wesen, die andere sein Ausdruck“, sagt Ralph Waldo Emerson. Diese zweite Hälfte eines einzelnen Menschen aber ist heute, anders als zu Emersons Zeiten, ein David, der von einer Horde von Goliaths umstellt ist, wenn doch die öffentlichen, gesellschaftlichen Ausdrucksformen schematisiert (Theater), in Genres eingesperrt (Film und Fernsehen), von mächtigen Companies beherrscht (Film- und Fernsehkonzerne) und verdorrt sind (Politik). Insofern sind Schlingensiefs Arbeiten Kieselsteine, geschleudert gegen wirkliche Monster, die anders als im biblischen Märchen, davon nicht umkippen. Heute besteht vielleicht die größere Kunst darin, sich nicht integrieren, aussaugen und wegwerfen zu lassen. Schlingensief bekam vor 10 Jahren als junger Mann (*1960) die Chance einer Fernsehkarriere. Das Fernsehspiel „Schafe in Wales“ wurde unter Konflikten von ihm als Regisseur fertiggestellt, dann zog er aber vor der Erstausstrahlung (1988) seinen Namen zurück. Dazu gehört, solange man noch fast unbekannt ist, Courage und Unbestechlichkeit.

Die Kunst ist übrigens wirklich tot – wenn auch nicht von den rebellierenden Sozialisten der 60er Jahre, sondern vom Kapitalismus selbst gekillt. Wenn Adorno aus dem Himmel der Philosophen auf die westlichen Gesellschaften blickt, dann sieht er nur noch gelegentlich einen Kopf zum Luftschnappen aus der Kloake der Kulturindustrie auftauchen. Es geht also gar nicht anders als „sich zu verkaufen, ohne sich zu verkaufen“, wie das Helge Schneider sagt. Man kann nicht mit Kunst anfangen, wenn man Künstler (= sich authentisch ausdrücken) sein will, sondern muß da beginnen, wo man wirklich sich befindet, dh man muß mit Schrott, Dreck, Abfall, Resten usw. arbeiten. So muß man Schlingensiefs Produkte verstehen. Das knüpft an die Aktionskunst der 60er Jahre an, man kann es auch für Neo-neo-Dadaismus halten, aber realistisch im Sinne von: sich von der sogenannten Realität nicht unterkriegen lassen, ist es auf jeden Fall. Im Film, auf der Bühne, im Fernsehen und in Aktionen wie Chance 2000 hat es Schlingensief zwar zu nationalem Ruhm gebracht (vgl. Produktographie), aber geheuer ist er nicht.

Christoph Schlingensief – Produktographie

Filme und TV

Abfall, ein kostbarer Rohstoff (1982) (17‘)
Tunguska – Die Kisten sind da (1984) (71‘)
Menu total (1986) (81‘)
Egomania – Insel ohne Hoffnung (1986) (84‘)
Mutters Maske (1988) (85‘)
100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker (1989) (60‘)
Das Deutsche Kettensägemassaker (1990) (60‘)
Tod eines Weltstars. Porträt Udo Kier (1992) (42‘)
Terror 2000 (1992) (80‘)
United Trash (1993) (29‘)
Die 120 Tage von Bottrop – Der letzte Neue Deutsche Film (1996) (62‘)
Talk 2000. Achtteilige Talkshow (1997)

Theater und Kunstaktionen

100 Jahre CDU (1993, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin)
Kühnen 94. Bring mir den Kopf von Adolf Hitler! (1993, Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin)
Volles Karacho-Rohr. Erste große sozialistische Butterfahrt der M.S. Clara Zetkin (1995, Volksbühne)
Hurra, Jesus! (1995, steirischer herbst, Graz)
Rocky Dutschke, ’68 (1996, Volksbühne)
Zweites Surrealistisches Manifest von André Breton (1996, Volksbühne)
Begnadete Nazis (1996, Remise, Wien)
Schlacht um Europa I-XLII, Ufokrise ’97: Raumpatrouille Schlingensief (1997, Volksbühne)
Mensch vs. Maschine (1997, Volksbühne)
Die letzten Tage der Rosa Luxemburg (1997, Berliner Ensemble)
Mein Filz, mein Fett, mein Hase. 48 Stunden Überleben für Deutschland (documenta X, Kassel)
Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission (1997, Deutsches Schauspielhaus Hamburg)
Chance 2000. Wahlkampfzirkus ’98 (1998)

Bücher

Chance 2000. Wähle Dich selbst. Köln 1998
Schlingensief! Notruf für Deutschland, hg. V. Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg 1998



Dr. Dietrich Kuhlbrodt (s. Rezension zu Helge Schneider, in glossen 2), Schauspieler, Mitbegründer der Zs filmkritik und äußerst produktiver Filmkritiker sowie „Mitglied“ der „Schlingensief-Familie“ hat im Winter 98/99 ein Seminar zu Schlingensief an der Universität Bremen gehalten und das folgende Interview (1.2.99), bei dem Kuhlbrodt anwesend war, zustande gebracht. Dafür dankt ihm glossen herzlich.


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