glossen: rezension


Jens-Fietje Dwars, Abgrund des Widerspruchs: Das Leben des Johannes R. Becher (Berlin: Aufbau-Verlag, 1998), 861 Seiten

In dieser umfangreichen Biographie des Dichters und ersten Ministers für Kultur der DDR, Johannes R. Becher, hat Jens-Fietje Dwars die schwierige, aber wichtige Aufgabe auf sich genommen, den Lebenslauf dieses Mannes, der Jahrzehnte lang entweder zum größten deutschen Dichter seiner Zeit oder zum Inbegriff des ‘Verrates an dem Geist’ hochstilisiert wurde, aus diesem Sumpf zu retten und vom angesammelten Dreck zu reinigen. Daß Dwars bei dieser Arbeit selber mit ein wenig Dreck um sich werfen muß, versteht sich von selbst: Er muß mit vielem wissenschaftlichem Unsinn aufräumen, an dem noch ein Hauch vom Kalten Krieg haftet. Zwar ist das Resultat nicht immer schön, und das Buch ist daher stilistisch etwas gebrochen, aber ich glaube, es war eine notwendige Arbeit, die Dwars größtenteils glänzend gelungen ist.

Als wissenschaftlich anspruchsvolle biographische Darstellung läßt sich ‘Abgrund des Widerspruchs’ als Plädoyer lesen nicht nur für eine neue, weniger voreingenommene Sicht auf Leben und Werk Bechers, sondern auch für eine Aufwertung des Genres an sich. Die biographische Methode kann als Korrektur zu einer Arbeitsweise dienen, die sich ausschließlich mit ‘objektiven’ Herrschaftsstrukturen und Kontrollmechanismen im Literaturbetrieb der DDR beschäftigt, als ob sich das Gebilde ‘Macht’ einfach auf Begriffe wie ‘Gewalt’ oder ‘Kontrolle’ reduzieren ließe. So entstehen gefährliche Totalitarismustheorien, die in der Rückschau schwierigen Fragen von Intention und Wirkung der Handelnden ausweichen und weder der Vielfalt von individuellen Motivationen noch der Eigenart literarischer Texte gerecht werden können. Gegen eine solche Einseitigkeit schreibt Dwars an, indem er sorgfältige Quellenkritik mit einfühlsamer Lektüre vernachlässigter Texte und Zeugnisse und mit notwendigen, wenn auch manchmal zu ausführlichen Kommentaren zum politischen bzw. Kulturellen Hintergrund verbindet.

Wirklich spannend wird die Erzählung aber erst 1933. Das erste Drittel der Biographie stöhnt leicht unter der Last von überflüssigem Material, wie etwa seitenlangen Auslegungen der Philosophie Nietzsches oder was Becher bei Marx hätte lesen können. Obwohl Bechers Nietzsche-Rezeption für seine weitere literarische Entwicklung sehr wichtig ist, lenken solche Passagen manchmal von den Stationen im Leben des Dichters ab, indem sie Lücken im Quellenmaterial stopfen. Überzeugend ist dagegen Dwars’ Analyse der lebenslangen Folgen von Bechers gestörtem Verhältnis zu seinem Vater und von dem ersten Selbstmordversuch 1910, der Narben hinterließ, hinter denen 48 Jahre später, vor Röntgenstrahlen geschützt, der tödliche Tumor unbemerkt wuchern konnte. Eine Symbolik, die Becher, der sich in seinem Werk symbolisch zum repräsentativen Dichter seiner Zeit stilisieren wollte, um seinem Leben Sinn und Form zu verleihen, nicht hätte überbieten können.

Hier liegt, glaube ich, der Kern der Sache: In seinem ständigen Bestreben, als abtrünniger Bürgerssohn seinen Lebenslauf im Sinne der kommunistischen Partei umzuschreiben, sich in einen ‘proletarischen’ Dichter zu verwandeln, und in der Aneignung klassischer Formen in seiner Dichtng als ‘Rettung vor dem Chaos’ hat Becher Form mit Sinn verwechselt. Aber auch nach den furchtbaren Jahren im sowjetischen Exil, wo hautnahe Erfahrungen mit den ‘Säuberungen’ nur durch den Glauben verdrängt werden konnten, daß der Kommunismus dennoch die einzige Alternative zum Faschismus sei, ist es Becher nie ganz gelungen, seine Persönlichkeit völlig in die Muster hineinzuzwingen, die Ulbricht ihm vorfertigte. Der autobiographische Roman ‘Abschied’ etwa kann daher als wiederholter Versuch gelesen werden, sein Leben nach den ‘korrekten’ Mustern zu deuten, indem die Verwirrungen und Gewissensqualen des Autors auf eine platte Spaltung in der Persönlichkeit des Romanhelden reduziert werden, was dem Helden dann doch ermöglicht, seine böse, bürgerliche Seite utopisch zu überwinden. Bei Becher selbst was es nie so einfach, und daß jeder seiner Versuche, absolut linientreu zu agieren und zu schreiben, am Ende scheitern mußte, lag, wie Dwars überzeugend zeigt, nicht zuletzt an der literarischen Begabung des Autors.

Am beeindruckendsten ist die Darstellung der Jahre im sowjetischen Exil. Die Geschichte dieser Jahre ist immer noch weitgehend unerforscht, trotz einiger Teildarstellungen des literarischen Exils, die Materiallücken oft durch einen betont anklägerischen Ton übertünchen (Methode der Kalten Krieger seit eh und je). Auch in dieser Hinsicht ist Dwars’ Arbeit verdienstvoll: Bei einer genaueren Untersuchung der Haltung eines Einzelnen, die Handlungen sorgfältig gegen Handlungsmöglichkeiten abwägt, entsteht ein spannendes, sehr differenziertes Bild der Umstände des Exils und der Atmosphäre von Angst und gegenseitigem Mißtrauen im kleinen Kreis der Exilierten. Dwars’ Lektüre von Bechers Exildichtung veranschaulicht die Ängste, Zweifel und Träume, die den Dichter innerlich zerrissen, und es entsteht ein Bild von einem Leben als Gratwanderung am Rande des Renegatentums. Vielleicht war es nur das Bewußtsein des nahen Todes, das Becher Jahre später den Mut gab, seinen Bruch mit der Partei zu vollziehen. Jedenfalls ist es Dwars’ Verdienst zu zeigen, daß dieser Bruch keine Folge später Einsicht war, sondern schon lange in Bechers Dichtung und in seiner politischen Haltung vorweggenommen wurde.

Becher flüchtete in eine innere Welt von Wunschträumen von dem ‘anderen Deutschland’ und von bangem Hoffen nach einer nationalen Wiedergeburt, die er nach 1945 in die Tat umzusetzen versuchte. Aber die Utopie blieb aus, und Bechers Konzept von einer offenen, demokratischen Kulturpolitik (die ja viel mehr war als bloße rhetorische Tarnung für den Machtanspruch der SED) ging in den tagespolitischen Kleinkämpfen des Kalten Krieges unter. Die Literatur bleibt danach für Becher das letzte Schlupfloch für eine ganz kleine, persönliche Utopie der Selbstheilung, des immer wieder scheiternden ‘Zu-sich-Kommens-eines Menschen’. Trotzdem war sein Einfluß auf das literarische Leben der frühen DDR enorm und dauerhaft: Er hat Institutionen mit geprägt, wie z.B. die Akademie der Künste oder die Zeitschrift ‘Sinn und Form’, deren Strukturen die Pflege von Literatur ermöglichten, die sich nicht ohne weiteres von wütenden Dogmatikern wie Alfred Kurella oder Kurt Hager platt schlagen ließ.

Allerdings war die Bindung an eine Partei zu stark, die dem Intellektuellen einen Lebenssinn und eine Öffentlichkeit (was ja für einen Intellektuellen auf das Gleiche hinauskommt) anzubieten schien, und Becher hat oft auch bei einer Politik mitgemacht, die sich gegen ausgerechnet diese Institutionen richtete. Kein ‘Dissident’ also, obwohl Dwars’ Deutung manchmal in diese Richtung geht. Hier stoßen wir an die Grenzen der Möglichkeiten der biographischen Methode: Die Erzählung eines Lebens bleibt eine Erzählung, das heißt eine literarische Konstruktion, deren Struktur trotz Materialfülle von den Konturen der zentralen Figur bestimmt wird. Dwars’ Anliegen, den Menschen Becher vor dem herablassenden Blick einer westlich-triumphalen Geschichtsschreibung zu retten, bringt mit sich die Gefahr einer Überbetonung des Positiven. Das erzählte Leben erscheint zwangsläufig als Mittelkurs zwischen Konstellationen von Figuren, die, wie in einem Roman, bestimmte Aspekte der Persönlichkeit oder Haltung des ‘Helden’ erhellen sollen: Er ist kein Dogmatiker wie Ulbricht; er ist kein Zyniker wie Brecht, usw. Vielleicht sollte man die Erzählung, die sich Becher als Mensch und Dichter über sich selbst erzählte, parallel lesen mit der Erzählung nach Parteimustern, die die SED-Führung vor und nach seinem Tod über sich selbst erzählte. So ließe sich sein Bruch mit der Partei auch als letzte Behauptung der eigenen Individualität lesen, seine späte Dichtung als Plädoyer dafür, daß ihm wenigstens die Autorschaft über das eigene Leben zurückgegeben wird. Ein letzter Wunsch nach einem unauffälligen Begräbnis wird ihm aber verweigert, und die Legende von dem Parteidichter lebt weiter. In ‘Abgrund des Widerspruchs’ hat Dwars gezeigt, wie sehr auch das westliche Becher-Bild von dieser SED-Legende abhängig war.

Peter Davies
University of Manchester
UK

 


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