glossen: rezension


Annett Gröschner: ybbotaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ. sex. DDRbürg. gthierkatt. ausgewählte essays, fließ- & endnotentexte 1989-98, Berlin: Edition Kontext 1999


Hinter dem unaussprechlichen Titel verbirgt sich nicht nur eine missglückte Textkonvertierung, sondern ein ungewöhnliches Archiv deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Der kleine aber feine Berliner Kontextverlag wagt, was für Suhrkamp unmöglich wäre: Das Buchinnere nach aussen zu kehren und Provisorisches herauszustellen. So erhält, wer das Buch in Händen hält, nebenbei gleich noch eine kleine Einführung in den Prozess des Büchermachens: Schmutztitel, Vakatseite, Impressum werden erklärt und sozusagen im Vorstadium abgedruckt. Die avantgardistische Geste lässt sich durchaus als gegenkulturelles Statement lesen: Der herrschenden Dominanz der Bilder und des Häppchenjournalismus wird Widerstand entgegengesetzt. Die Lektüre wird statt erleichtert zusätzlich erschwert, die "Fließtexte" sind sperrig und verweigern sich dem schnellen Überfliegen. Hier wird auf LeserInnen gesetzt, die bereit sind, sich intensiv einzulassen.

Die Texte, zu denen man sich erst vorarbeiten muss, halten eine solche Verfremdung aus. Die dokumentarische Prosa Annett Gröschners ist so dicht und vielschichtig, dass man auf geologische Termini zurückgreifen muss, um ihre originäre Schreibweise charakterisieren zu können. Gröschner gräbt und bohrt und schichtet um, dass es eine Freude ist. Ob die Eisherstellerin porträtiert wird oder die Kleinstadt Jericho, ob der Abzug der Roten Armee kommentiert oder die Geschichte des Prenzlauer Berger Wasserturms, der Gleimstrasse oder der Veteranenstrasse erzählt wird, die Autorin legt Schichten frei, von denen man gar nicht ahnte, dass sie existieren.

Dabei artet die Recherche (trotz der vielen Fussnoten) nie in Bildungshuberei aus, wie nebenei wird eine Vielfalt an historischen Quellen eingeflochten, mit beeindruckender Leichtigkeit verschränken sich aktuelle zeitgenössische Vorgänge mit unterschiedlichen geschichtlichen Ebenen. Auf der Reise ins Mecklenburgische durchdringen verschiedenste Perspektiven einander: die der Johnsonschen Romanfigur von 1931 steht neben der ihres Autors in den 70er Jahren, die des RAF-Mitglieds Birgit Hogefeld 1993 neben derjenigen der Reisenden, die sich wiederum von Kindheitserinnerungen eingeholt sieht.

Schriftliche, landschaftliche, städtebauliche Zeichen der Gegenwart liest die Archäologin des Alltags als Palimpsest, als Fragment vielfacher Überschreibungen, dessen Subtext noch freizulegen ist, nicht zuletzt um Gegenwärtiges zu verstehen. Dazu sind Spuren zu sichern und Strukturen zu rekonstruieren, fehlende Glieder manchmal auch durch Spekulationen über mögliche Zusammenhänge zu ersetzen. Nie behauptet sie, etwas wäre genau so geschehen wie sie es erzählt, aber: so hätte es sein können....

Ein solcher Erzählstandort der beteiligten Chronistin weist auf Verwandtschaften hin, nicht zufällig widmet sich ein Essay Uwe Johnson. Die Leichtigkeit der dokumentarischen Prosa ergibt sich aus dem Humor der Autorin, die einen Blick für Skurriles und Banales hat, Schäbiges und Schwäche nicht denunziert und Stärke nicht glorifiziert. Die Abwesenheit von Pathos ermöglicht, auch über bewegende Momente zu schreiben wie z.B. den letzten Arbeitstag der Margot Siedow nach dreissig Jahren in ein und demselben DDR-Betrieb.

Annett Gröschner guckt immer genau da hin, wo der erste schnelle Blick abgleiten würde: auf das überklebte Ortsschild, die geflickte Jacke, die Lücke im Adressbuch. Wenn sie auf den Dolmetscher zu sprechen kommt, der russische und deutsche Soldaten 1995 bei medienwirksam-gemeinsamen Ausgrabungen im Oderbruch begleiten soll, so heisst es: "Er ist hier für die Kommunikation zuständig. Aber es sind nicht nur die fehlenden Sprachkenntnisse, die kein Gespräch aufkommen lassen." "Hier soll ein Schlußstrich unter die Geschichte gezogen werden. Die Summe unter dem Strich ist unbekannt. Weil hier der Rest liegt." Ein Satz Heiner Müllers kommt ihr in den Sinn und rückt seltsam konkret ins Realgeschehen ein: "Die Befreiung der Toten findet in der Zeitlupe statt."

Wo die Banalität des Alltags zu zynischen oder sarkastischen Sätzen verleiten könnte, lässt die Autorin Dokumente und Archivmaterialien sprechen: Grenzakten, Spruchbänder, Betriebsanweisungen, Schreibtischkalender, Merkblätter für Arbeitslose, Speisekarten, Adress-, Grund- und Totenbücher. Die literarische Historikerin hütet sich vor Verklärung und Moralisieren, stattdessen ruft sie unliebsame Erinnerungen auf: Den Lärmkrieg zwischen dem Westberliner "Studio am Stacheldraht" und dem Ostberliner "Studio 13. August" im September 1961, den Zweiklassen-Abzug der Alliierten 1994, das Verschwinden sowjetischer Kulturoffiziere in Stalins Lagern, die vergessene Autorin Christa Reinig.
Die scheinbar zufällige assoziative Aneinanderreihung von Beobachtungen, Erinnerungen und recherchierten Fakten hat Methode. Personen, Häuser, Strassen bekommen ein Gesicht. "Die Häuser allein erzählen Geschichten. Es sind Klopfzeichen aus einer vergangenen Zeit, die nur aufmerksame Betrachter zu deuten wissen."

Gröschner stellt die sowjetische Kulturoffizierin und spätere Literaturkritikerin Kazewa vor, lässt BewohnerInnen der Berliner Gleimstrasse zu Wort kommen, befragt Frauen in Trebbin und Magdeburg oder den Bauleiter eines zum Hotel gewordenen Schlosses in Thüringen.

Die essayistischen Reportagen und literarischen Porträts taugen selbst als Dokumente der Zeitgeschichte, manche waren zwischen 1990 und 1993 in aufregenden Nachwendepublikationen wie die andere, Ypsilon oder später Sklaven zu lesen. Alles Zeitschriften, die inzwischen auch schon Fussnoten zu ihrer Erklärung brauchen. So ist die Beobachterin bei aller Zurückhaltung doch stets präsent und in ihren Texten aufzufinden. Selbstbewusst, neugierig, sachlich, verspielt, selbstironisch und das eine oder andere Mal auch auf angenehme Weise sentimental. "Und die Wehmut hat ihre Gründe".

 Birgit Dahlke

Humboldt Universität Berlin


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