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Jörg Richard
Die deutsche Wende und der Wandel des Theaters (1989-1999)


Darf ich Sie zu einer Zeitreise einladen?

Es ist der 25. März 1989. Es ist ein Samstag. Sie sind in diesem Moment aus den USA kommend in Deutschland gelandet. Morgens. Heute auf den Tag genau vor genau zehn Jahren. Sie sind angekommen in der Stadt Frankfurt am Main: Germanisten wissen: In dieser Stadt ist Johann Wolfgang von Goethe geboren. Sie passieren die Paßkontrolle der Bundesrepublik Deutschland. Sie betreten Westdeutschland.
Und Sie denken wohl kaum an ein anderes Frankfurt, eine Stadt die Frankfurt an der Oder heißt, die die Geburtsstadt eines anderen großen deutschen Dichters aus der Goethezeit ist, des Dramatikers Heinrich von Kleist. Frankfurt an der Oder liegt zwar auch in Deutschland, aber in einem anderen Staat, in Ostdeuschland, offiziell genannt die "Deutsche Demokratische Republik", die DDR (GDR).

Beide "Deutschländer" trennt der berühmteste Vorhang der Welt: der eiserne Vorhang.

In der Tat: Sie sind im deutschen Theater angekommen. Das deutsche Theater: Sie können diesen Begriff ganz wörtlich nehmen für das "Kulturinstitut Theater". Zugleich steht diese Bezeichnung metaphorisch für "deutsche Politikgeschichte". Denn vieles verbindet Theater und deutsche Geschichte:

Erstens: Wo ein eiserner Vorhang ist, da ist auch ein deutsches Theater. Das ist Vorschrift - ein Gesetz der Feuerpolizei, um das Publikum vor einem Theaterbrand zu schützen.

Zweitens: Es gibt nahezu keine deutsche Stadt ohne Theater.

Drittens: Deutschland, die deutsche Frage und das Theater gehören "irgendwie" zusammen. Es ist die uralte Frage nach deutschem Wesen und deutscher Nation. Zum Beispiel: Welches andere Land in Europa hatte jemals einen eisernen Vorhang 40 Jahre lang mitten durchs ganze Land?

Und schließlich historisch : Ob klitzeklein, ob mittel- oder riesengroß: Wo eine deutsche Stadt mit einem Theater ist, da residierte je ein deutscher Fürst, früher zur Feudalzeit. Denn nahezu jeder deutsche Fürst hatte sein eigenes Theater. Zur Stadt gehörte nicht nur das Theater und die Residenz (Schloß und Kirche), sondern drumherum immer ein eigener Kleinstaat. Im 18. Jahrhundert - zur Goethezeit - gab es über 300 Staaten (314 Territorien, 1475 freie Rittertümer). Gewissermaßen hatten die Deutschen für jeden Tag im Jahr einen Staat.

Von dieser Zeit her haben heute, im Jahr 1999, die Deutschen ihre vielen staatlich subventionierten Stadttheater. Seit wenigen Jahren sogar alle zusammen in einem einzigen Staat, der neuen Bundesrepublik Deutschland. Der bekannteste deutsche "Fürsten-Theater-Staat" ist die kleine Stadt Weimar (das Land Sachsen-Weimar). Der Fürst hieß Herzog August, sein Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe.

Seit 1919 heißt das Weimarer Theater "Nationaltheater". In diesem Theater fand nach dem ersten Weltkrieg die konstituierende Sitzung des Parlaments der ersten deutschen Republik statt. Diese Republik heißt deshalb "Weimarer Republik". Aber der Regierungssitz war und blieb Berlin.

Weimar liegt heute vor zehn Jahren, im März 1989 - wo Sie gerade in Westdeutschland angekommen sind - in dem Land Thüringen. Und Thüringen liegt seit dem Ende des 2. Weltkrieg in einem anderen deutschen Staat, in der DDR. Deshalb beansprucht die Regierung der DDR Goethe mindestens zur Hälfte. So haben Westdeutschland wie Ostdeutschland jeder seinen Goethe.

Freie Bürgerstädte, Städte ohne Fürstenherrschaft, wie Frankfurt am Main, die Hansestädte Bremen oder Hamburg taten es übrigens den Fürsten gleich. Die Bürger von Hamburg gründeten im Jahr 1767 sogar das erste deutsche Nationaltheater. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing war sein Dramaturg und schrieb dort die für die Poetik-Diskussion wichtige Theaterschrift die "Hamburgische Dramaturgie". Nachdem das Hamburger Nationaltheater bald aufhörte zu bestehen, wurde im Jahr 1779 in Mannheim sofort wieder ein Nationaltheater gegründet. Friedrich Schiller, neben Goethe der zweite Geistesfürst der Deutschen, wurde sein bekanntester Dramatiker. In seinem zum gültigen Theater-Manifest erhobenen Aufsatz "Die Schaubühne als moralische Anstalt" verkündet er die politisch-sittliche Bedeutung des Theaters für die Deutschen: "Wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation."

Spätestens seit dieser Zeit war es Sache der Deutschen geworden, im Theater seine nationale Identität zu suchen. Alle deutschen Stämme, die Sachsen, die Thüringer, die Schwaben, die Hessen, die Anhalthiner, die Holsteiner, die Preußen usw. beteiligten sich daran. Überall wurde das Theater zur politischen Plattform, auf dessen Brettern deutsches Streben nach einem Nationalstaat, das deutsche Wesen (Faust, die Nibelungen), die Angelegenheiten der deutschen Nation (Der Prinz von Homburg) verhandelt wurden.


Vor der Wende

An diesem Samstag am 25. März 1989 reisen sie gleich nach Ihrer Ankunft in Frankfurt a.M. weiter nach Bremen und kommen dort mittags mit dem Zug an. Allen Jetlags zum Trotz werden Sie abends um 20.00 Uhr bereits im Theater sitzen und darauf warten, daß der Vorhang, der Theater-Vorhang hochgeht. Denn - so wurde Ihnen geraten -, das sollten Sie sich nicht entgehen lassen: ein Gastspiel des Maxim-Gorki Theaters aus Ost-Berlin, DDR. An diesem Abend werden Sie einen Blick hinter den eisernen Vorhang werfen können, ganz ohne Visum und komplizierte Grenzkontrollen. Sie sehen ein hochbrisantes Stück über die DDR: Die Komödie Übergangsgesellschaft von Volker Braun, Schriftsteller aus Ost-Berlin, DDR.

Uraufgeführt wurde es nicht dort, in der DDR, sondern in Westdeutschland ein Jahr zuvor, im April 1987, und zwar in Bremen vom Stadttheater, in dem Sie jetzt sitzen. Politisch bedeutsam jedoch wird das Stück mit seiner DDR-Erstaufführung durch das Maxim-Gorki-Theater in Ost-Berlin, und zwar ein Jahr später im März 1988. Denn für das Leben in der DDR ist es geschrieben worden.

Das Stück hatte bereits seine politische Konflikt-Geschichte in der DDR erlebt, bevor es 1988 überhaupt zur Erstaufführung dort kam. Volker Braun hatte es schon im Jahr 1982 verfaßt. Aber es durfte nicht gespielt werden, befahl die Zensur. Eiszeit beherrschte die Weltpolitik. In der DDR regierte der Stillstand. Auch nach dem Tod des Staatsoberhaupts der Sowjetunion, Leonid Breschnew, im Jahr 1982 zeichnet sich in der Nachfolge von Andropopow keine Veränderung des Kalten Krieges ab. Erst die Politik von Gorbatschow seit 1985 brachte mit Glasnost (= Durchlässigkeit) und Perestroika (= Umbau der Gesellschaft) Bewegung in den Ostblock. Schließlich auf Druck der Bevölkerung geschah dies auch in der DDR, allerdings in äußerst kleinen Schritten. Aufführungsverbote konnten von der Parteiführung nicht mehr überall widerspruchslos durchgesetzt werden. Das Stück von Christoph Hein "Ritter der Tafelrunde", in Dresden (DDR) dort vom Staatstheater im April 1989 uraufgeführt, kündigte zum Beispiel unverhohlen das Ende der DDR an.

Wenn sich radikal die Weltgeschichte verändert, kann ein kleines Land wie die DDR sich davon nicht ausschließen. Die Staatsführung versuchte es dennoch. Die politische Situation im Land begann daher, sich bereits1988 zuzuspitzen. Einige wenige Stichworte dazu sind:

- Zwischen der Sowjetunion und den USA (Gorbatschow und Reagan) kommt es zur Annäherung in Abrüstungsfragen (Abrüstungsvertrag über Mittelstreckenraketen/IFN-Vertrag).

- Das Zentralkommitee der DDR unter Leitung des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker lehnt den Reformkurs von Gorbatschow ab. Perestroika, der Umbau der Gesellschaft, ist nicht erwünscht. Oppositionelle Gruppen und Ausreisewillige werden verfolgt. Unerlaubte Demonstrationen (bei einer offiziellen Rosa-Luxemburg-Demonstration) lösen eine Verfolgungswelle aus, die zu Verhaftungen, Verurteilungen und Ausweisungen führt.

- 6 DDR-Bürger versuchen - vergeblich - in Ostberlin in die Botschaft der Bundesrepublik (Ständige Vertretung) zu fliehen. Ein Jahr später, 1989, werden Tausende über Ungarn und die Tschecheslowakei ( Länder für die es leichter möglich war, eine Reiseerlaubnis zu erhalten) in die Bundesrepublik fliehen; u.a. auch durch Zuflucht in die Botschaften der Bundesrepublik dort. In der DDR bleibt die Stagnation verordnet. Stillstand herrscht in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Stagnation ist auch das Thema des Stücks Übergangsgesellschaft. Die aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung des Stücks drückt die Stagnation bereits in seiner Bauform aus. Von Stagnation und Übergang reden seine Personen. Aber Übergang wohin? Die politische Botschaft ist deutlich. Der Autor Volker Braun ist nicht einverstanden mit dem staatlich verfügten Stillstand. Er wendet sich gegen die landesübliche Praxis der Resignation und des gesellschaftlichen Rückzugs ins Private. Es sollte möglich werden, Wünsche nach einem anderen, einem selbstbestimmten Leben konkret zu äußern und zu realisieren. Die sozialistische Frage wird nicht entschieden. Doch sicher ist: "Die Gegenwart ist widerwärtig."

Dieser Satz fällt gleich zum Stückbeginn. Währenddessen wickeln sich aus Plastikhüllen die handelnden Personen langsam heraus. Menschen in Plastikhüllen verpackt: Symbol für die Sterilität und Gefangenennahme des Lebens in der DDR, für die Selbstverpuppung der Menschen in diesem Staatswesen.

Dieser Satz kommt aus einer vergangenen, vorsozialistischen Zeit. Aus dem alten Rußland der Jahrhundertwende, ebenfalls eine Zeit der Leere und des Stillstands. Die Personen der Übergangsgesellschaft tragen die Namen des Personals von Anton Tschechows Stück Die drei Schwestern. Sie sprechen anfangs auch deren Sätze aus, nicht als Zitate, sondern als eigene Erkenntnisse, ganz auf ihre Zeit bezogen. Die zaristische Vergangenheit wird zur bedrückenden Gegenwart der DDR. Als ob es die sowjetische Epoche mit ihren großen Revolutionszielen gar nicht gegeben hat; als ob die staatlich verordnete "unverbrüchlicher Freundschaft mit dem großen sozialistischen Bruder" nie beschworen wurde.

Mit wenigen, resignierenden Worten charakterisiert der alte sozialistische Aktivist Wilhelm diesen Zustand:

"Übriggebliebene Personen... Mumien, Theaterleichen. Die Bühne voll. Das Stück, das die Zensur überlebt hat... und sich nun selbst verbietet. Das Elend. Die Hoffnung. Das Elend.(Hält sich die Augen zu)."

Diese "übriggebliebenen Personen" kommen als Familienangehörige auf dem Lande in einer Villa zu einer Geburtstagsfeier zusammen. Außerdem soll die Villa verkauft werden. Sie verbringen ihr Beisammensein damit, daß sie über Staat und Revolution, über Ökologie, Ökonomie und Kultur, vor allem aber über ihr darin verwickeltes eigenes Leben räsonnieren. Schon schicksalhaft für die DDR selber provoziert die Schauspielerin Mette in einem Traumspiel, das die Geburtstagsgesellschaft aus Langeweile sich selber vorspielt: "Ich will über die Grenze gehen." Dieser Wunsch - wie auch die Wünsche der anderen im Traumspiel - bleibt Desiderat. Die Realität sieht zum Stückschluß anders aus: Das Haus ihres Aufenthalts ist abgebrannnt. Angezündet von Irina, deren 18. Geburtstag gefeiert wird. Und schließlich: Wilhelm, der alte kommunistische Aktivist, er ist, von allen unbemerkt, verstorben. Nach diesem traurigen Ende der Feier variiert Mette die Bedeutung ihres Selbstbefreiungsziels : "Ich will über die Grenze gehen". Sie sagt über den Toten: "Er ist über die Grenze gegangen."

Ist es Resignation der Person Mette? Oder hören wir - sozusagen außerhalb der Rolle des Bühnenspiels - eine ironische Botschaft des Stücks an die Partei und Staatsführung, etwa derart: "Müssen wir erst sterben, um über die Grenze gehen zu können?" Dann endet das Stück mit dem Satz, der schon am Anfang gefallen war, jetzt geradezu in Form des fröhlich erlösend gesprochenen Bekenntnisses, für all das nicht verantwortlich zu sein. Der letzte Satz heißt mit der Bühnenanweisung:
Franz (heiter): Ich wars nicht. Ich wars nicht."

Dieses Stück, das im Westen auf seiner Gastspielreise während der Wiener Festwochen, in den Kammerspielen in München und auch in Bremen so viel Aufmerksamkeit erregte, das vorher sein ostdeutsches Publikum bereits seit einem Jahre begeisternd in politische Erregung und Diskussion versetzte, verliert sechs Monate nach diesem Bremer Abend, am 9. November 1989, plötzlich seine Aktualität und daher bald sein Publikum: Die Mauer ist offen: Alle können über die Grenze gehen. Hinüber und herüber. Die Wende ist eingeleitet. Der Fall der Mauer kommt völlig überraschend - trotz aller politischen Spannungen und Brüchigkeiten. Die Wende war - im Osten wie im Westen - von niemandem vorhergesehen.

Wende - dieses alte, wenig gebräuchliche deutsche Wort für "Umkehr" wird plötzlich, in Ost wie West, zum Schlüsselwort. Es markiert die Zeiten der Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft der DDR mit ihren Auswirkungen auf die westliche Bundesrepublik. Davon ist auch das Theater betroffen.

Die historische Zeit eilt in Riesenschritten. Bereits sieben Monate später übernimmt die DDR die Währung der Bundesrepublik (die "DM") und binnen eines Jahres nach dem Fall der Mauer ist die Vereinigung von BRD und DDR zu einem gemeinsamen Staat, der heutigen "Bundesrepublik Deutschland", besiegelt. Zukünftig gelten die Verfassung (das Grundgesetz) und die Gesetze der alten, der westlichen Bundesrepublik. Wir schreiben den 3. Oktober 1990.

Das ist seitdem der nationale Feiertag aller Deutschen. Doch die euphorische Hochstimmung des Tags der Maueröffnung ist zu diesem Zeitpunkt längst verflogen. Die Menschen tun sich schwer mit der Wende. Neue böse Begriffe prägen die Nachwendezeit, alle emotional hoch aufgeladen: aus Wessis und Ossis werden 'Besserwessis' und "Jammerossis"; es gibt "Wendegewinnler" aus dem Westen und "Wendehälse" im Osten; aus "Wende" wird "Anschluß", ein Wort, das an den Anschluß Österreichs unter Hitler zum Großdeutschland erinnern soll - oder die Vereinigung wird einfach als "feindliche Übernahme" bezeichnet.


Theater und Öffentlichkeit
1
Das Theater in der DDR verliert mit dem Ende der DDR seine einzigartige gesellschaftliche Bedeutung als Ort öffentlicher Kommunikation. Theater machen hieß damals vor allem: Öffentlichkeit herstellen. Oder wenigstens ein Gefühl davon. Unter dem Begriff "Öffentlichkeit" verstehe ich eine selbständig sich entwickelnde gesellschaftliche Sphäre der öffentlichen Äußerung und Darstellung, eine Sphäre des streitbaren, grenzenlosen Diskurses und der sozialen wie kulturellen Bewegung aller mit allen.

Nur noch in den Kirchen hatten sich beherzte Bürger und Gläubige einen kleinen Spielraum für das öffentliche freie Zusammenkommen ertrotzt. Der typische DDR-Bürger lebte sich aus im Privaten, verpuppte sich in seinen Sommerhäusern (Datschen). Öffentlich trat er nur auf gemäß seiner Staatspflichten als Mitglied in diversen Kollektiven: dem Wohnkollektiv, Sportkollektiv, Lernkollektiv, der Arbeitsbrigade usw. Alles exakt parteiamtlich vorgezeichnet. Wie in einem theatrum mundi waren die Rollen der Menschen in diesem Staat genau festgelegt, wurden sie autoritär von einer Hand, der der Partei, geführt. Ein Rollenwechsel wurde nicht geduldet. Es galten die Regeln von geschlossenen Gesellschaften.

In dieser Situation ermöglichte das 'Theater als ein öffentlicher Raum" den Menschen, gemeinsame, selbstbestimmte Erfahrungen: Sie konnten als Publikum eigene Rollenspiele ihrer Zuschaukunst (Brecht) entwickeln. Was nicht in der Zeitung stand, was die Nachrichten des DDR-Fernsehens nicht brachten, was nicht am Arbeitsplatz gesagt oder in Schule und Universität diskutiert werden konnte, vermochte auf der Bühne mit den Mitteln der Kunst dargestellt werden. Denn die Bühne vermag Wahrheiten aufzudecken, ohne sie aussprechen zu müssen: als Theater der Anspielungen und Verschlüsselungen. Die metaphorische und symbolische Sprache der Bühne transformierte sich in der Rezeption des Publikums zur selbständigen, vom Stück losgelösten politischen Aussage.

Zum Beispiel: Ein vieldeutiger Satz der menschlicher Selbstäußerung, Willensbekundung und Entschlußkraft wie der aus der Übergangsgesellschaft: "Ich will über die Grenze gehen " wurde in dieser komplexen persönlichen Bedeutung sehr wohl verstanden und angenommen. Aber er bekam im Publikum zusätzlich die eindeutige politische Zuweisung im Kopf: "Die Mauer muß weg!" "Über die Grenze gehen", das bedeutetete schließlich auch "Freiheit", "freies Handeln", "freies Reisen" usw.. Daher bekamen das Persönliche und Private im Theater immer wieder schnell eine politische, eine öffentliche Dimension.

Als Foren der Öffentlichkeit wurden die Theater in der Vorwendezeit - wie man nachträglich die letzten Monate der DDR bezeichnete - auch zum Ort für politisches Handeln. Viele Theater bezogen Stellung zum ökonomischen Niedergang, zu den Verhaftungen und Ausweisungen von Oppositionellen und zu den massenhaften Fluchtwellen. Häufig geschah dies aus einer sozialistischen und demokratischen Position heraus. Die Theaterleute verlasen Proklamationen und hängten sie im Foyer aus; in Publikumsgesprächen diskutierten sie die Lage im Land. Schließlich organisierten die Theater dann am 4. November die große Demonstraion gegen die Staatsmacht auf dem Alexanderplatz in Berlin. Es kamen etwa eine Million Menschen. Fünf Tage später fiel die Mauer. Das Ende der DDR hatte begonnen.

Dieses 'Theater der Öffentlichkeit" hatte in seinem (sicherlich im ganzen geringen) Beitrag zum Sturz der Staatsmacht nur eigenmächtig wahr gemacht, was dem Theater in der Gründungsphase der DDR als kulturpolitischer Auftrag ursprünglich zugedacht worden war: es sollte ein (sozialistisches) "Nationaltheater" sein - allerdings im Auftrag der Parteiführung. Nun hatte das Theater ohne Auftrag die Geschicke Deutschlands mit seinen Möglichkeiten der Schauspielkunst verhandelt.


2
Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Theater in der alten Bundesrepublik, in Westdeutschland, im Ausgang der 80er Jahre war ein völlig anderes: Das Wort vom Theatertod ging um. Zum einen, weil Politiker aus Kostengründen Theater schließen wollten; zum anderen, weil das Theater selbst seine öffentliche Rolle nicht mehr klar kulturpolitisch verteidigen sowie künstlerisch auf der Bühne darstellen konnte. Keiner glaubte mehr so recht an die Jahrhunderte lang behauptete und in den letzten Jahrzehnten wieder stark beschworene emanzipatorische Funktion des Theaters. Plötzlich war in Frage gestellt, was als unumstößliche kulturelle Verpflichtung des Theaters galt: Hüter und Produzent von Utopien und Modellen für ein sozial gerechteres Leben zu sein; das kulturellen Gedächtnis lebendig zu halten; historische Geschichte in den Geschichten der Menschen immer wieder aktuell neu zu erzählen; die Schaubühne als eine moralische Anstalt zu verstehen, in der gesellschaftliche Sitte und Moral im Sinne Schillers erhalten und weiter entwickelt wird; und nicht zuletzt auch ein Ort zu sein, von dem Provokationen ausgehen, damit sich in der Gesellschaft immer wieder etwas bewegt und verändert.

Besonders schwierig für das Selbstverständnis der Theatermacher war es, dann bemerken zu müssen, daß sich keiner mehr so recht für diese Aufgaben und Ziele des Theaters interessieren wollte. Das klassische bürgerliche Publikum des Nationaltheatergedankens, das im Theater die Kultur schlechthin aufbewahrt sah, verabschiedete sich zunehmend aus dem öffentlichen und kulturellen Leben. Die vielen sozialen, vor allem ökologischen Bewegungen, die aus der Studentenbwegung 1968 als Formen der Gegenöffentlichkeit hervorgegangen waren, verwandelten sich zu unzähligen Strömungen von psychologischen Selbstfindungsgruppen. Auch in Westdeutschland war eingetreten, was bereits in den 70er Jahren der New Yorker Soziologe Richard Sennett für die amerikanische Gesellschaft in seinem Buch "The Fall of Public Man", (New York 1977; deutsch, Frankfurt/M. 1983) beschrieb: die Intimisierung des öffentlichen Lebens.

"Das Selbst", sagt Sennett, "wurde zum Grundprinzip der Gesellschaft" (1983, S.381). Die Menschen seien so "Schauspieler ohne Kunst geworden". Er bezeichnet diese Entwicklung als "Tyrannei der Intimität" , so auch der Untertitel der vielbeachteten deutschen Ausgabe seines Buchs. Sie führe zu einem "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens".

Nur im Kinder- und Jugendtheater funktionierte noch der alte Aufklärungsgedanke, aber als Pädagogik. Öffentlichkeit` hieß hier, Partei der Kinder gegen eine nicht-verständige Erwachsenenwelt zu ergreifen. Pädagogisches Ziel war es, den Kindern gesellschaftliche Verhältnisse durchschaubarer zu machen. In Modellgeschichten wollte das Theater ihnen einen eigenen Handlungspielraum aufzeigen. Mit diesem dramaturgischen Muster des Thementheaters war es verhältnismäßig einfach für das Westberliner GRIPS-Theater, das erste Vereinigungsstück bereits im April 1990 aufzuführen, fünf Monate nach dem Fall der Mauer.

Auf der Mauer, auf der Lauer hieß das Stück nach einem alten deutschen Kinderlied. Es war eines der typischen Mutmachstück. Es zeigt aus der Perspektive einer Ostberliner Familie wie durch konkrete Begegnung mit dem Westen die große Hoffnung auf eine Akzeptanz als DDR-Bürger in dieser neuen Gesellschaft enttäuscht werden. Aber der Stückschluß verspricht - ganz in dem Sinne des pädagogischen Mutmachens - seinen jungen Zuschauern eine positive Perspektive: die Kinder selbst werden einen Ausweg finden.

Auf der Bühne des Erwachsenentheaters gab unterschiedliche Versuche, ästhetisch und politisch Antworten auf die Situation der Zeit zu finden. Am konsequentesten setzte Botho Strauß die geistige Leere und Leidenschaftslosigkeit dieser Zeit in der westlichen Bundesrepublik in dramatische Handlung um. "Beginnlosigkeit" nennt er in einem Prosaband diesen Zustand. Er seziert in seinen Stücken - z.T. mit ironischer Schärfe - den Befindlichkeitswahn vornehmlich westdeutscher Mittelstandsschichten. Irritierung erzeugen seine mythischen Überhöhungen. Sie treffen keine ideologiekritischen Aussagen mehr im Sinne eines "Theaters der Aufklärung" (Brecht, Dürrenmatt, Hochhuth), sondern erscheinen wie Rätselbilder immer dort in der Szene, wo in der klassischen Dramaturgie die dramatische Handlung umschlagen müßte in gesellschaftliche Sinnsetzung und öffentliche Stellungnahme. "Das Theater der Intimisierung des öffentlichen Lebens" , wie ich das Theater von Botho Strauß hier charakterisieren möchte, ist zugleich das tatsächliche Drama dieser Gesellschaft.

Botho Strauß schreibt aus dieser westdeutschen Perspektive das zentrale "Vereinigungsdrama" der Deutschen. Es trägt den merkwürdigen Titel Schlußchor. (UA: Münchner Kammerpiele 3/91, R. Dieter Dorn). Botho Strauß erzählt keine zusammenhängende Geschichte, der Plot bleibt vieldeutig. Er zeigt auch nicht die historischen Vorgänge der Wende, sondern wie ein Zeitvoyeur Momentaufnahmen. Sie handeln nicht von Haupt- und Staatsaktionen, sie kommen nicht von spektakulären Schauplätzen wie dem Brandenburger Tor, sondern aus dem Interieur der (west)-deutschen Seele. Merkwürdig inhaltsleer und unpolitisch erscheint daher das Stück Schlußchor, das Stück zum Fall der Mauer.

Zu betrachten sind Befindlichkeiten einer bunten Schar von 15 Personen beim Gruppenfoto, später in wechselnden Konstellationen auf einer Party in einer Villa, dann in einem Restaurant. Der Ruf "Deutschland" geht geheimnisvoll um. Als dann - was zu großen historischen Ereignissen die Deutschen gerne sagen - als dann "der Atem der Geschichte" sie anweht - zwei Ostdeutsche sind durch die Maueröffnung direkt in ihr Restaurant gekommen, zwei DDR-Menschen, Mann und Frau stehen leibhaftig vor ihnen -, da spüren auch sie den historischen Augenblick, aber nur einen fast lästigen Hauch lang. Schon fahren sie fort im gewieften Partyplaudererton mit ihren Konventionsritualen und Selbstdarsteller-Spielen. Ein Fotograf, der ein Gruppenbild von ihnen machen soll, gab bereits zum Stückbeginn das Motto aus: "Bedenken Sie aber: Sein ist Gesehenwerden.". Dieser Satz definiert ihre ganze Existenz. Wenn später das ostdeutsche Paar kommt, wird schnell aus der einmaligen historischen Stunde ein bloßes "Event", ein Spektakel, das diese Gesellschaft zur Inszenierung eines Ereignisses, das sie zur Selbstdarstellung anspornt, und sie nur hungriger macht nach neuer Abwechslung: Sie strömen nach draußen, zum "Ereignis". Verlassen und fremd bleibt das ostdeutsche Paar in dem Restaurant zurück.

In mythischer Überhöhung endet das Stück: Ein Adler in einer Voliere, der vom Vogel zum Sinnbild des deutschen Bundesadlers sich mausert - das ist das Wappentier des deutschen Bundestages - liegt zum Stückschluß zerrupft am Boden. In der Berliner Inszenierung erwürgt die Tochter eines "zwielichtigen Wehrmachts-Widerständlers" diesen Adler, nachdem sie ihn erotisch umgarnt und sich mit ihm sexuell vereinigt hatte.

Ein Jahr später gibt es ein völlig anderes Stück zur Vereinigung von Deutschland. Es heißt Wendewut und ist ein Tanztheaterstück des Choreographen Johann Kresnik (UA in Bremen Januar 1993, nach einer Erzählung von Günter Gaus). Thematisch erleben wir politische Aufklärung als Provokation - wie immer bei Kresnik. Damit steht Kresnik ganz in der Tradition des deutschen emanzipatorischen Theaters, schon seit Schillers Räubern. Doch die Dramaturgie und Aufführungsästhetik ist eine andere. Das liegt am Genre des Tanztheaters oder, wie Kresnik es nennt, am choregraphischen Theater. Kresnik geht es um Visualisierungen. An Stelle der dramatischen Erzählung einer Geschichte mit festgelegten Personen sehen wir getanzte Bilder zur Geschichte der Wende. Ideen und Ideologiekritik findet nicht im Wort, im dialogischen Argumentieren ihren Ausdruck, sondern im getanzten Bild. Die Wirkung ist suggestiv. Assoziationen in bildmächtigen Metaphern und Parabeln sollen kritische Haltungen und emotionale Parteinahme beim Zuschauer visuell provozieren.


Der Wandel des Theaters

Die Zeitreise geht weiter. Berlin ist das Zentrum der Wende. Es war das alte, es ist auch das neue Theater-Zentrum. Der Umbruch ist gewaltig. Die Theaterlandschaft verschiebt sich. 1993 wird völlig überraschend eines der größten deutschen Theater, der Mittelpunkt des Theaterlebens im alten Westberlin, das Schiller-Theater geschlossen. Die Freie Volksbühne, ein anderes großes Westberliner Theater, ist bereits geschlossen (1992). Der Staat gibt für diese Häuser keine Subventionen mehr. Im früheren Ostberlin werden dagegen zwei große Theater, die schon zu DDR-Zeiten künstlerisch bedeutungslos geworden waren, neu belebt.

Das Berliner Ensemble, Theater am Schifferbauerdamm, dieses als "Brecht-Bühne" weltbekannte Theater, war zu einer Art Museumstheater heruntergekommen. Nun übernahm - nach einigen Schwierigkeiten des Übergangs - Heiner Müller die Leitung dieses Theater. Als Dramatiker wie als Regisseur galt er als der einzig legitime Nachfolger Brechts. Die Stücke Brechts wollte er für das neue, vereinigte Deutschland - zusammen mit seinen eigenen Stücken - für die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Bühne aktualisieren und vom Stigma einer museal gewordenen Brecht-Ästhetik befreien. Die Anfänge waren vielversprechend. Leider beendete der frühe Tod von Heiner Müller im Dezember 1995 dieses künstlerisch bedeutsame Unternehmen. Claus Peymann, bisher Direktor des Burgtheaters in Wien, wird in dieser Spielzeit 1999/00 die Leitung des Berliner Ensembles übernehmen. Wieder wird eine andere Theaterzeit an diesem Haus anbrechen.

Hier will ich nur auf den Regisseur Müller, nicht den Dramatiker Müller eingehen, und zwar auf seine berühmt gewordene Inszenierung des Brecht-Stücks Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui: Brecht schrieb dieses Stück 1941 im finnischen Exil. Es ist eine Art Politkolportage, die parabelhaft den Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler und "Führer" erklärt aus dem Geist des Kapitalismus. Die Spielhandlung ist nach Chicago ins Gangstermilieu zwischen Politik und Geschäft verlegt. Der Regisseur Müller betreibt nun nicht Aufklärung im Sinne Brechts über die Geburt des Faschismus aus dem Geist des Kapitalismus. Diesen Gedanken stellt Müller sicherlich auch nicht in Frage. Nur ist er ihm für seine Inszenierung nicht wichtig. Denn Müller klärt nicht darüber auf, warum was passiert, sondern wie es dazu kommt. Die Hitler-Zeit ist Geschichte geworden; sie muß nicht auf der Bühne parabelhaft wiederholt werden. Aber die Vorgänge, die heute zum Faschismus hinführen könnten, sind der Stoff für seine Inszenierungsarbeit.

Müllers Inszenierung stellt mit dem Schauspieler Martin Wuttke Verhaltensweisen und Selbstdarstellungsformen in den Mittelpunkt, die heute hochaktuell sind. Er zeigt: Wie der Mechanismus des Aufstiegs funktioniert; wie man mit welchen Mitteln im Geschäft nach oben kommen kann. Wie man zwischen Politik und Wirtschaft sich zu bewegen hat. Doch vor allem sehen wir, wie man eine Persönlichlichkeit (personality) so modelliert, daß der Erfolg sicher ist.

Die Aufführung ist ein Szenario dafür, wie eine medien- und politikwirksame 'corporate identity' für eine machthungrige Persönlichkeit hergestellt wird. Dadurch erreicht Müller, daß wir keinen historischen Hitler zum tausendsten mal wieder vorgespielt bekommen. Aber hinter der Figur seines modernen Arturo Ui sehen wir bedrohlich den Schattenriß des Verbrechers Hitler wachsen. Und irgendein Hitler lauert immer irgendwo. Neonazis randalieren in Deutschland auf den Straßen, zünden Asylantenheime an, schlagen und töten Ausländer. Diese Nähe der Vergangenheit zur Gegenwart führt uns die Arturo-Ui-Figur des Schauspielers Martin Wuttke vor: Anfangs ist er nur ein hechelnder Hund, schnell wird er gefährlich und bissig, um sich zur politischen Gefahr auszuwachsen.

Zwei Kilometer vom "Berliner Ensemble" entfernt steht wie eine Trutzburg grau und hoch aufgerichtet das Haus der "Volkbühne". Schwarze Fahnen wehen, bemalt mit dem uralten Enblem der weißen Kreiszeichen der Räuber. Musik dröhnt heraus. Die Säulen, die das große Portal begrenzen, stehen wie Ausrufungszeichen salutierend da und scheinen den Besuchern zuzurufen: "Achtung, Sie verlassen die Bundesrepublik Deutschland und betreten ab sofort freies Theaterland."

In der Tat: Warum diese Bühne vor allem von jungen Leuten einen so großen Zulauf hat, liegt darin, daß sie das Gefühl vermittelt, hier betreten sie eine neue Welt, nicht nur als Zuschauer, sondern als Beteiligte, als Mitgestaltende. Der Hausherr heißt Frank Castorf; er ist Regisseur. Er ist ein alter Theaterrebell. In der DDR wurde jede zweite Inszenierung, wie er selber sagt, von ihm verboten. Er war nach Anklam in die tiefste DDR-Provinz abgeschoben. Viele glauben, in seinem Theater sei DDR-Nostalgie wieder zu Hause. Das ist ein Trugschluß. Aber nicht von ungefähr: Hier wird tatsächlich mit (deutschen) Identitäten gespielt. Der Kern des Theaters ist Rebellion. Rebellion gegen jede Herrschaft, auch gegen deutsche Identitäten. Castorf demonstriert: Es gibt nur ein freies Land, nur einen möglichen Staat, und das ist dieses Theater: die Volksbühne Berlin.

Dieses Theater schafft seine eigene Öffentlichkeit. Nur im Theater findet sie statt, nirgends sonst. Nur in diesem konkreten Raum. Es holt sich die reale Welt in das Theater hinein, nicht um sie abzubilden, sondern um sie dort zu zerstören - und zugleich zu einer neuen Welt des Theaters wieder zusammenzusetzen. Castorf gilt als der Zerstörer von Klassiker-Stücken par exellence. Das Stück, das Drama ist für ihn nur noch Material. Mit jeder Inszenierung schreibt er gewissermaßen sein eigenes Stück als Aufführung und Vision neuer gefährlicher Wirklichkeiten.

Diese "Theaterrepublik Volksbühne Berlin" ist vom eigenen Logo bis zur Imagepflege professionell durchgestylt (wie man neudeutsch sagt). Das Konzept ist von jungen Designerleuten entworfen und machte deren Agentur mit dieser Arbeit bekannt. Das Prinzip der 'corporate identity' dient in der Volksbühne der mediengerechten, professionellen Selbstdarstellung des Theaters. Bei Heiner Müllers Arturo Ui-Stück ist dieses Prinzip allein Thema der Inszenierungsinterpretation. Das Ziel der Volksbühne dagegen ist es, die Herrschaft der Kulturvermarktung, die Macht der glatten Medien- und Öffentlichkeitswelten zu unterlaufen mit den künstlerischen Mitteln der Theaterarbeit - in den Aufführungen sowie durch die Herstellung von Formen eigener Öffentlichkeit im Hause. In diesem Spannungsfeld von Marktverweigerung, Marktbedienung und Marktvereinahmung bewegt sich das Theater. Jetzt ist der Volksbühnen-Habitus schon Kult. Dazu gehört auch, das in diesem Theater eine Gruppe von Obdachlosen mit den Künstlern des Hauses zusammen Theater macht. Als Teil der sozialen Rebellion. Aber Rebellion geht schnell über in Vereinnahmung. So will es der Zeitgeist, auch dort, wo Kunst nicht länger Ware sein soll. Das bekommt die Volksbühne zu spüren.

Wer nicht vereinnahmt werden will, der darf nicht mit der Zeit gehen. Einer der Regisseure der Volksbühne, der Schweizer Christoph Marthaler, tut es. Er nimmt sich die Zeit. Im wörtlichen Sinn. Er spielt mit ihr. Seine Inszenierungen sind häufig nur thematisch zusammengestellte Textcollagen. Sie zerlegen und verlangsamen die Zeit. Sie zeigen keine "action", erzählen keine Geschichte (story) mit finalem Schluß, sondern sie lassen Zeit vergehen, und zwar so, daß sie nicht vergeht. Das ist auch eine Art der Rebellion, eine sehr leise.

Langsamkeit und Wiederholung um Wiederholung, besonders im Liedgesang von Melodie und Refrain, manchmal mit minimalen Variationen: das sind seine Darstellungsprinzipien. Während die Zeit endlos kreisend nicht vergeht, zeigt das Bühnenbild einen vollständig geschlossenen Raum, präsentiert eine gut überschaubare, kleine Welt. Die Spielzeit der Aufführung dehnt sich für die Zuschauer scheinbar endlos. Doch sind die Zuschauer erst einmal von diesem Zeit-Rhythmus gebannt, dann bemerken sie die Komik. Es wird viel gelacht, zum Beispiel im Collagenstück "Die Stunde Null". Es wird die Geschichte der (westlichen) Bundesrepublik erzählt. Wir sehen Menschen, die in Gruppen, in kleinen Versammlungen und Vereinigungen zusammenkommen und etwas gemeinsam machen. Die Zeit schleppt sich dahin - oft recht munter. Diese kleinen Gesellschaften fühlen sich wohl, wenn nichts geschieht.

Stagnation ist hier - anders als in der DDR und in der Übergangsgesellschaft - Ausdruck von Zufriedenheit. Das Glück der alten (nur der alten?) Bundesrepublik scheint in geschlossenen Gesellschaften zu liegen.

Ende der Zeitreise

Es gibt keine Endstation, nur Fragen:

1. Ist der Nationaltheatergedanke, der das Theater des Heiner Müller noch stimuliert haben mag (auch wenn er diesen Gedanke mit einem beißenden Witzwort zurückweisen würde), endgültig Geschichte? Vergangen, vorbei? Und bereits vergessen?

2. Spielt das Theater in der Öffentlichkeit gegenwärtig noch eine ernsthafte Rolle? Gibt es überhaupt noch eine Öffentlichkeit, jenseits der Medien? Oder gibt es Öffentlichkeit nur noch als Form der Medienpräsentation mit ihren Selbstdarstellungen, Simulationen, Shows und anderen Entertainements? Kommen das Theater (und die Künste überhaupt) in diesen Medien-Öffentlichkeiten bestenfalls nur noch als Event vor, als inszeniertes Ereignis, das allein um des Kommerzes und des Spektakels willen stattfindet?

Ich habe jendenfalls eine kleine Vision: Es gibt wieder einen Anfang von Öffentlichkeit in Deutschland, initiiert von einem Theater wie der "Volksbühne Berlin"; und es wären manche andere Theater ebenfalls zu nennen. Es ist ein Theater, das selbständig ein öffentliches Leben entfaltet, und zwar durch ein widerständiges, anderes Zeiterleben, durch eine besondere Erfahrung des Zusamenkommens von Menschen, frei nach dem Modell des antiken griechischen Theaters als Theater der Versammlung, durch ein produktives Zusammenspiel zwischen Schauspielern und Zuschauern. Es ist ein Theater als Probebühne, wo die Menschen mit anderen Menschen zusammentreffen; wo sie wieder mit der Kunst begabt werden, sich - wie ein Schauspieler - öffentlich ausdrücken und vielfältig darstellen zu können.

Oder ist auch dieses alles nur die Vision eines Events, eines inszenierten Ereignisses, eines Spektakels für den Augenblick des Zeitgeists und der Medien, das der Befriedigung der Selbstdarstellung dient?

Ich antworte mit Brecht: "Der Vorhang zu und alle Fragen offen."


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