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Karin Schestokat
Bemerkungen zur Hybridität und zum Sprachgebrauch in ausgewählten Texten von May Ayim und Yoko Tawada

Dieser Artikel möchte Aspekte der Lyrik der deutsch–ghanischen Autorin May Ayim und ausgewählte Texte der Japanerin Yoko Tawada, die auf Deutsch schreibt, unter den Konzepten der Hybridität und kulturellen Verortung vorstellen. Dabei wird a) auf den (hybriden) Ort der literarischen Produktion eingegangen, den Homi Bhabha als konfliktreichen Grenzbereich von Kulturen definiert; b) auf Übersetzungsakte von Symbolen und Wörtern aus anderen Sprache und c) auf Bedeutungsunterminierung, Bedeutungswandlung und Nuancen innerhalb der deutschen Sprache, die beiden Autorinnen gemeinsam sind. Anhand von konkreten Beispielen soll dargestellt werden, wie Ayim und Tawada durch eine ihnen eigene Sprachsymbolik, Thematik und auch Verknüpfung verschiedenartiger Texte neuartige Leseerlebnisse schaffen, die sich auf Grund der Techniken zwar vergleichen lassen, aber trotzdem einzigartig bleiben.

Im Rahmen der Debatte um Multikultur und literarischer Produktion von Minderheiten hat der Begriff der Hybridität immer mehr an Bedeutung gewonnen. Das Random House Unabridged Dictionary, 2. Auflage von 1993, definiert Hybrid 1) als eine Person oder eine Gruppe von Personen, die Überschneidungen von zwei unähnlichen Kulturen oder Traditionen widerspiegeln und 2) als all das, was heterogenen Quellen entspringt oder ein Kompositum von Elementen von verschiedenen oder gegensätzlichen Teilen ist. Diese Definition trifft auf die Werke beider Autorinnen zu, da sie deutsche mit ghanischen bzw. japanischen Konzepten verbinden und so Texte schaffen, die sich weder der einen noch der anderen Kulturtradition exklusiv zuordnen lassen. Homi Bhabha hat sich mit dem Thema Hybridität (am Beispiel Indiens zur Kolonialzeit) in seinem Werk The Location of Culture[1] beschäftigt. Er diskutiert Hybridität als den Grenzbereich, in dem kulturelle Unterschiede sich zwangsläufig und konfliktreich berühren und der sich auch den binären Gegensätzen von ethnischen und kulturellen Gruppen als homogenen polarisierten Bewußtseinszuständen widersetzt. Dieser sogenannte dritte Raum (the third space) ist aber ein sich ständig ändernder „that articulates its problems of identification and its diasporic aesthetic in an uncanny, disjunctive temporality that is, at once, the time of cultural displacement, and the space of the untranslatable.“ Er führt seine Ausführungen fort, indem er feststellt, daß “in the act of translation, the subject–matter or the content of a cultural tradition is being […] alienated.” D.h., daß durch diesen kulturellen Übersetzungsakt die Authentizität von Wörtern oder Symbolen untergraben wird. Wie dieser Artikel zeigen wird, hat sich Yoko Tawada mit Übersetzungen an sich beschäftigt, während einige Gedichten von May Ayim sich gerade mit dieser von Bhabha angesprochenen Unterminierung der dominanten Sprache beschäftigen.[2]

In dem sich ständig ändernden und neu definierenden Raum der Hybridität stellt sich auch die Frage nach der kulturellen Verortung der Autorinnen. Kulturelle Verortung ist ein afro–zentrischer Begriff, der sich in die Unterbegriffe der kulturellen, historischen und sozialen Dislokation gliedert, Begriffe, die Molefi Kete Asante in ihrem Aufsatz „African Germans and the Problems of Cultural Location“ defininiert hat.[3] Danach bedeutete kulturelle Dislokation, daß die Afro–Deutschen in Deutschland nach den Bedingungen der sie umgebenden deutschen dominanten Gesellschaft leben müssen. Dem wirkt Ayim entgegen durch die Verwendung der Adinkra–Symbole, die sich wie ein Leitfaden durch beide Gedichtbände ziehen und auf die ghanische Herkunft der Autorin verweisen. Symbolisch für den ersten Band sind z. B. die Hühnerfüße auf dem Titelblatt, die als pars pro toto eine Mutter darstellen sollen, die ihr Kind zwar beschützt, es aber auch in die Welt schickt, wie Ayim es mit ihren Gedichten gemacht hat. Die Dichterin bringt damit die afrikanische Kultur in ihre Werke ein, die sich andererseits aber auch stark an der deutschen Kultur– und Literaturtradition orientieren. So lassen sich z. B. wörtliche oder formale Anspielungen auf Christa Wolf und Ingeborg Bachmann, aber auch auf deutsche Kinderreime und Weihnachtslieder finden. Durch die Verbindung der Adinkra–Symbole mit diesen Anspielungen öffnet Ayim beide Traditionen zu einander und präsentiert sie dem Lesepublikum.

Von geschichtlicher Dislokation wird gesprochen, wenn Minderheiten nicht genau wissen, zu welcher Kultur sie gehören oder wenn sie außerhalb ihrer eigenen, intellektuellen Tradition leben müssen und deshalb nur als marginal von der sie umgebenden Gesellschaft wahrgenommen werden. Daraus ergibt sich für die Afro–Deutschen ein erneutes Problem, da sie gewöhnlich auf die Kultur des Elternteils zentriert sind, in dessen Gesellschaft sie leben. May Ayim hat deshalb bewußt Kontakte aufgenommen zur Familie ihres Vaters, und sie beschreibt die Begegnung mit dem Großvater als besonders zärtlich und verständnisvoll in dem Gedicht „zwischen avenui und kreuzberg.“ Die soziale Dislokation erleben die Afro–Deutschen durch ihre Hautfarbe und ihren geschichtlichen Hintergrund. Dieser Aspekt des Begriffs könnte sich gleichermaßen auf Yoko Tawada beziehen. Asantes Ansatz der kulturellen Verortung ist für die Lesung der Gedichte Ayims insofern wichtig, da gerade Vorurteile gegen Afro–Deutsche und Mitglieder anderer Minderheiten sie immer wieder beschäftigt hatten. Protobeispiele sind hierfür ihre vielleicht bekanntesten Gedichte „afro–deutsch I“ und „afro–deutsch II.“[4]

In diesen Gedichten, die sich wie Tonbandaufnahmen von Interviews lesen, wird ein eurozentrisches Überlegenheitsgefühl und Sendungsbewußtsein (wieder) aufgedeckt, daß aus der Kolonialzeit bekannt ist. Wird in „afro–deutsch I“ eine als inhärent gesetzte Überlegenheit der EuropäerInnen beschrieben, so wird in „afro–deutsch II“ eine 'Verschwesterung‘ an den Tag gelegt, die darin gipfelt, daß die Verfehlungen der deutschen Vergangenheit mit dem eigentlich doch Ähnlich–sein der Afro–Deutschen mit der weißen deutschen Frau verglichen werden, da beide doch eigentlich 'nicht so schwarz‘ sind. So hören wir die weiße Frau sagen:

[…] Ich finde, man kann nicht allesa uf die Hautfarbe schieben[…]Ich glaube, ich wäre froh, wenn ich du wäre. Auf die deutsche Geschichte kann man ja wirklich nicht stolz sein, und so schwarz bist du ja auch gar nicht.

Durch die bloße Auflistung der Vorurteile, durch die Verwendung dieser Wörter in ihren Gedichten ohne Kommentar, unterminiert Ayim deren Macht. Den LeserInnen wird dadurch ein Spiegel vorgehalten, der das vergewaltigende Verstehenwollen reflektiert, das die Anderen bloß auf das Selbst (der Weißen LeserInnen) reduziert und sie damit ihrer eigenen Identität beraubt.[5] Im Japanischen, also in Twadas Texten, sind Spiegel zu verstehen als Mittel zur Reflexion der Geister der Vergangenheit. In Ayims Gedichten werden durch sie die Vorurteile der kolonialen Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeworfen und als solche entlarvt.

Auch das Gedicht „sein oder nichtsein“ (17) aus nachtgesang[6] beschäftigt sich mit diesem Thema. Die Entwicklung des Gedankenganges hier verläuft von einer Auflistung von Vorurteilen gegen Afrikaner

[…] daß afrikanerstärker transpirieren, das arbeiten nicht so gewohnt sind auf einer anderen entwicklungsstufe stehen manche sagen auch: die stinken, sind faul, primitiv […]

zu dem Entschluß, dieser Einordnung nach Hautfarbe, Abstammung oder Religion eine Absage zu erteilen, um zu einem wesentlichen Sein zu gelangen, das ein selbständiges eigenes Ich und ein gegenseitiges Toleranzverständnis voraussetzt:

[…] in deutschland großgeworden, bin ich unterwegs weg vom: hautfarbesein, nationalitätensein, religionsein, parteisein, großsein, kleinsein, intelligentsein, dummsein, sein oder nichtsein auf den weg zu mir auf den weg zu dir

Damit geht „sein oder nicht sein“ über die Dialogform der Gedichte „afro–deutsch I“ und „afro–deutsch II“[7] hinaus und formuliert ein Ziel, daß in Deutschland in der Form noch nicht verwirklicht ist, nämlich eine Gesellschaft, die über die Grenzen der eigenen Vorurteile und Perzeptionen den anderen Menschen so sein lassen kann, wie er/sie ist. Identität soll dabei als ein Prozeß verstanden werden, der nie ganz abgeschlossen werden kann und vielleicht auch nicht abgeschlossen werden sollte.

Ayims Lieblingsgedicht[8] „nachtgesang,“ das beide Gedichtbände verbindet, beginnt mit den Zeilen: „ich warte nicht mehr / auf die besseren zeiten“ und liest sich danach wie ein Liebesgedicht, in dem der geliebten Person deutlich gemacht wird, daß „Ich“ nicht mehr in der passiven Rolle verharren wird, die es bislang eingenommen hatte, sondern jetzt aktiv werden und Veränderungen selbst hervorrufen will. Die Begegnung mit dem „du“ wird eine andere werden. Meiner Meinung nach liegt darin auch der Entschluß, die Begegnung mit dem Land, in dem die Dichterin lebt, anders zu gestalten. „ich öffne die Tür,“ schreibt sie, und öffnet damit sich selbst und den anderen Deutschen die Tür, um neue Impulse aufnehmen und geben zu können. Marion Kraft hat in ihrem Nachruf die Zeilen: „ich blase die kerze aus / ich öffne die tür“ als einen Eintritt in eine andere Welt, in eine andere Existenz gesehen, „in der es die schmerzliche Erfahrung von Ablehnung, Rassismus und erzwungener Rechtfertigung des Seins nicht gibt.“[9] Diese Interpretation rechtfertigt sich aus dem Wissen um May Ayims Tod. Doch ich glaube, daß in diesem „Kerze ausblasen“ und „Türe öffnen“ noch ein anderes, zentrales Element der Gedichte Ayims liegt, nämlich der Wunsch nach einem Überwinden von Vorurteilen, nach Kommunikation, einem Austauschen von Gedanken, und einem miteinander sprechen.

Das Publikum liest aber nicht nur, sondern ist auch daran gewöhnt, Ayim zu hören. Durch das Vortragen von Texten wird ebenfalls an das afrikanische Erbe angeknüpft, u.a. auch durch den Sprachrhythmus der Gedichte, dem Blues und Rap[10] nachempfunden. Dieser läßt die Beteiligung der ZuhörerInnen nicht nur zu, sondern lädt geradezu dazu ein. In der afrikanischen Vortragstradition ist die Teilnahme der Zuhörenden bei literarischen Produktionen besonders wichtig. Stephanie Newell hat diese Art des Literaturkonsums in Ghana in ihrem Artikel „Making up their own minds: Readers, Interpretations and the Difference of View in Ghanaian Popular Narratives“ in Auseinandersetzung mit Isers Readers Response Theorie untersucht.[11] Sie kommt zu dem Schluß, daß, im Gegensatz zu Isers Theorien, die afrikanischen ZuhörerInnen gerade auf Fragen antworten, Worte wiederholen oder Partei ergreifen für eine Stimme des Textes oder Theaterstückes, um sich mit dieser identifizieren zu können. Sie reagieren also rein pragmatisch auf Inhalt und Charaktere.

Ein ähnliches Zusammenspiel von vortragender und antwortender Stimme wird auch in Ayims Erkennungsgedichten „afro–deutsch I“ und „afro–deutsch II“ deutlich. Hier hören die ZuhörerInnen eigentlich nur die kommentierende weiße Stimme als gesprochene, aber die angesprochene, afro–deutsche Stimme wird automatisch mitgehört, mit wahrgenommen, obwohl sie nicht auf dem Papier erscheint, also im eigentlichen Sinne nicht wörtlich ist, sondern nur mit schwingt. Aber gerade durch dieses Verknüpfen der Stimmen wird Ayims Protest gegen die Behandlung der Afro–Deutschen durch die weißen Deutschen deutlich.

Was ich bei der Interpretation von Ayims Gedichten als Dialog bezeichnet habe, hat Yoko Tawada einen Stimmenteppich genannt, durch den die Nebenstimmen eines Textes zum Klingen gebracht werden können. In „Erzähler ohne Seelen“[12] beschreibt sie den Besuch eines tibetanischen Tempels, „in dem ein Mönch saß und betete. Trotzdem kamen aus seinem Körper mehrere Stimmen.“, (Talisman, 26) schreibt sie. Durch dieses akustische Erlebnis angeregt, achtet auch sie von nun an beim Sprechen auf Nebenstimmen. Sie erzählt nicht mehr nur, sondern lauscht auf Erzählungen, die durch das Zuhören entstanden sind. Durch dieses Zuhören und Hinzuhören wird Bedeutung hergestellt wie in den afrikanischen Lesungen. Es entstehen also Geschichten aus Ayims Gedichten und Tawadas Geschichten. Die Wörter der Originaltexte sind dabei nicht zu sehen als statische Behälter, die eine einzige Bedeutung eines Wortes für ewig aufbewahren, sondern als Tore, die es erlauben, von einer Konnotation zur anderen überzusetzen. Durch diesen Prozess kann individuelles Verständnis geschaffen werden, beziehungsweise wird Bedeutung erst vermittelt.

Yoko Tawada macht sich in ihrem kurzen Essay über die Gedichte Celans[13] über das Übersetzen Gedanken. Sie reflektiert darüber, wie schwer es für sie war, deutsche Literatur in japanischer Übertragung zu lesen, weil die Konzepte und Konnotationen ihr unzugänglich blieben. Eine Ausnahme zu dieser Erfahrung bildeten die Gedichte Paul Celans aus den Bänden Von Schwelle zu Schwelle und Sieben Rosen später. Tawada verstand aber erst Jahre später, in Deutschland, den Grund hierfür. Der Übersetzer ihrer eigenen Gedichte wies sie daraufhin, daß bei der Übertragung der Gedichte Celans ins Japanische immer wieder das Radikal „Tor“ verwendet wurde. Selten taucht es allein auf, vielmehr wird es immer mit anderen Zeichen verbunden und bedeutet dann „Schwelle,“ „Hören,“ „Leuchten“ oder „Zwischenraum,“ signifiziert also Konzepte, die alle mit Übergängen zu tun haben. Durch dieses Radikal wurde ihr der Inhalt der Gedichte, über die Grenze der Sprache hinweg, vermittelt. Sie konnte sich über die Verständnisschwelle hinwegsetzen, sie wurde durchlässig.

Grenzen überhaupt interpretiert Tawada immer wieder als ein fluides Konzept. Sie vergleicht sie mit dem Wasser der Ozeane, auf dem die Kontinente schwimmen und fragt (sich): „Wie kann man wissen, wo der Ort des fremden Wassers anfängt, wenn die Grenze selbst aus Wasser besteht?“ (68),[14] sich also immer wieder verändert. Oder sie sieht Grenzen als unheimlich breite Regionen, wie z.B. Sibirien, das sie auf dem Weg nach Europa durchquerte. Durch dieses amorphe Konzept wird Marginalität selbst auch als ein Zwischenraum angesehen, der niemals statisch bleibt, sondern sich immer wieder verändert und von allen Seiten zugänglich ist. Dieser Raum zwischen den Kulturen ist damit sowohl eigentliches als auch metaphorisches Grenzgebiet, „ein eingrenzender und ausgrenzender Ort,“[15] wie Ayim schrieb, in dem die Autorinnen sich immer wieder neu finden und erfinden können. Die asiatische Filmemacherin und Kritikerin Trinh T. Minh–Ha hat bereits 1991 behauptet, daß „Otherness becomes an empowering critical difference when it is not given, but re–created.“[16] Hier wird der hybride Zwischenraum zwischen dominanter und ethnischer Kultur angesprochen, in dem kreatives Schaffen durch Verwendung hybrider Anspielungen möglich wird und der u.a. durch die gemeinsame Sprache (mit) der dominanten Kultur zugänglich ist.

Für Yoko Tawada ist die gemeinsame die deutsche Sprache. Deshalb probiert sie, die nach ihrer nun schon fast legendären Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn von Asien nach Moskau zur Zeit in Hamburg lebt und seit ein paar Jahren fast ausschließlich auf Deutsch veröffentlicht, u.a. durch eingehende sprachliche Untersuchungen von Gebrauchsgegenständen und durch Interpretationen deutscher Literatur ihre eigene Sprache bzw. die Bedeutung einzelner Wörter des Japanischen und des Deutschen genau zu ergründen. Durch die Tätigkeit des Schreibens versucht sie, sowohl ihre eigene als auch eine andere Kultur erschließen zu können und hofft, daß ihre LeserInnen es ihr nachtun werden.

Sie selbst beschreibt sich als adoptiert von der deutschen Sprache, in der sie jetzt lebt. Ihr Instrument der Kommunikation war anfangs die Schreibmaschine, das einzig „weibliche“ Wesen auf ihrem Schreibtisch.[17] Sie nennt die Schreibmaschine ihre Sprachmutter, deren neue Sprache (selbst wenn sie limitiert ist durch die vorgegebenen Buchstaben) sie eine neue Kindheit erleben läßt. Doch wird diese neuerliche Kindheit keineswegs mit Unwissenheit oder Unschuld gleichgesetzt, vielmehr erlaubt sie der Autorin, mit den bekannten literarischen Formen der westlichen Kultur zu spielen und sie zu unterminieren, also hybride Texte zu schaffen wie in ihrem fiktiven Reisebericht „Wo Europa anfängt.“ Er besteht aus einem Reisebericht, der vor Antritt der Reise verfaßt wurde und aus Zitaten aus einem Tagebuch, das sie hinterher erfand. Eingefügt sind ein tungusisches und ein samojedisches Märchen, Erinnerungen und Briefe an die Eltern und Gespräche mit der russischen Zugabteilsgenossin Mascha. Tawada erklärt, daß sie beim Schreiben ihres Berichts so habe vorgehen müssen, weil sie während der Reise unfähig gewesen sei zu schreiben und ihr Gedächtnis verschwunden war wie das weiße Band, das sie zum Abschied in Tokyo vom Schiff fliegen ließ (Europa, 68). So ist hier wiederum ein Stimmenteppich entstanden, wobei die unterschiedlichen Stimmen für die verschiedenen LeserInnen wahrscheinlich auch unterschiedlich laut oder eindrucksvoll sind, sie sich also durch das Lesen (bzw. Zuhören) eigene Erzählungen schaffen können.

Erstes Ziel ihrer Reise war Moskau, die Stadt an sich, aber zugleich auch das Traumkonzept ihrer Eltern (nach Chekows Die drei Schwestern), die diesen Namen immer dann heraufbeschwörten, wenn sie die Erfüllung ihrer Pläne bezweifelten. Am Ende der Reise wird klar, daß Tawada, die dieses Konzept anfangs fast wie eine Zauberformel übernommen hatte, es jetzt entlarven und mit ihren eigenen Bedeutungen belegen kann. Alle sechs Buchstaben der russischen Stadt stehen für Teile des Loslösungsprozesses von Japan und den Eltern, den sie auf der Fahrt durchgemacht hat:

M wurde zu Mutter und gebar mich noch einmal in meinem Bauch. O wurde zu Omul‘ und schwamm mit S–Seepferdchen. K wurde zu einer Kugel, einer Wasserkugel. U hatte sich schon längst in ein Ungeheuer verwandelt, das mir vertraut vorkam.Aber was war mit A? A wurde zu einer fremden Frucht, die ich noch nie gegessen hatte—einem Apfel. […] ich bemerkte, daß ich mitten in Europa stand. (Europa, 87)

Dieser Absatz chiffriert ihre Wiedergeburt durch sich selbst in einer anderen, der deutschen Sprache und in einer anderen Kultur (dem Apfel), in die sie allerdings die vertrauten Gestalten aus der Kindheit (Omul‘ das Ungeheuer) und das Konzept der fluiden Grenze (die Wasserkugel) übernommen hat. Endlich in Deutschland angekommen, schreibt sie nun in dem kulturellen Zwischenraum, der sich aus den Erinnerungen an ihre Herkunft und die japanische Kultur und aus den Erlebnissen in ihrer neuen Heimat nährt. Ihre Gedankengänge verlaufen dabei assoziativ springend, und persönliche Erfahrungen, Wörter, Redewendungen und Literatur aus Deutschland werden mit japanischen Traditionen konfrontiert. Insofern sind Tawadas Arbeiten hybrider Natur, entsprungen aus den „schwarzen Löchern zwischen den Sprachen,“[18] und sie kreieren, weiterführend, neue Texte.
Auch Ayim arbeitete in diesem hybriden Raum und doch ähneln sich die Werke der beiden Autorinnen keineswegs. Wie Samira Kawash in Dislocating the Color Line schreibt, ist Hybridität kein Ort mit vorgegebenen Identitäten und Essenzen und läßt sich deshalb auch nicht als Einziges Ganzes darstellen. Diese Vorstellung von Hybridität ist insofern verwirrend, als sie sich nicht den Richtlinien von Repräsentation und Wissen unterwirft, die es erlauben würden, sie darzustellen als etwas statisch existierendes.[19] Hybridität muß vielmehr immer wieder neu erfahren und erforscht werden, und die Werke Tawadas und Ayims bieten dazu einen einladenden Einstieg.


Endnoten

Der Einstieg zu diesem Artikel wurde ermöglicht durch Gelder des DAAD für einen kurzfristigen Forschungsaufenthalt am Center for Contemporary German Literature in der Olin Library, Washington University, St. Louis, MO.

[1]Homi Bhabha, The Location of Culture (New York: Routledge, 1994): 112–120; 225–6.

[2] Den Begriff ‘dominante Sprache’ habe ich von Stefanie Kron aus ihrer Studie Fürchte Dich nicht, Bleichgesicht! Perspektivenwechsel zur Literatur Afro–Deutscher Frauen (Münster: Unrast–Veralg, 1996) übernommen.Er ist insofern problematisch, als Ayim auschließlich auf Deutsch geschrieben hat, was ihre Muttersprache war (im wörtlichen Sinne). Damit sind ihre Gedichte in der dominanten Sprache verfaßt, obwohl viele weiße BürgerInnen Deutschlands sie immer wieder als ‘ausländische’ Mitbürgerin gesehen haben.

[3] Molefi Kete Asante, “African Germans and the Problems of Cultural Location” in Carol Aisha Blackshire–Belay (Ed.), The African–German Experience. Critical Essays (Westport, CT: Praeger 1996): 1 – 11.

[4] May Ayim, blues in schwarz weiss (Berlin: Orlanda Frauenverlag, 3. Auflage 1996): 18, 25.

[5] Gisela Brinker–Gabler (Ed.), Encoutering the Other(s). Studies in Literature, History, and Culture (Albany, N.Y.: State U of New York P., 1995): 2. In ihrer Einleitung stellt Brinker–Gabler verschiedene Ansätze zur Interpretation der Begegnung mit der/m Anderen dar.

[6] May Ayim, nachtgesang (Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1997): 17.

[7] Das Gedicht “freiheit der kunst” (blues, 76) ist ein weiteres Beispiel für die nicht vollzogene Auseinandersetzung mit einem rassistischen Gebrauch von Sprache.

[8] Vergl. “Nachgedanken” von Marion Kraft in nachtgesang, a.a.o. S. 107.

[9] nachtgesang, 107/8.

[10] Vergl. hierzu Ayims Kommentar in dem Film Hoffnung im Herzen

[11] Stephanie Newell, „Making up their own Minds: Readers, Interpretations and the Difference of View in Ghanaian Popular Narratives,“ Africa 67, 3 (1997): 389–405. Die Autorin arbeitet heraus, daß die LeserInnen/ZuhörerInnen sich bewußt mit Verhaltensweisen der Charaktere in den Theaterstücken und literarischen Texten identifizieren, die ihnen aus ihrem eigenen Leben vertraut sind und bei Lesungen entsprechend reagieren.

[12] Yoko Tawada, „Erzähler ohne Seelen,“, in Talisman (Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke, 1996): 16–27.

[13] „Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“, in Talisman, 121–134.

[14] Yoko Tawada, „Wo Europa anfängt“, in Wo Europa anfängt (Tübungen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke, 1991): 60–87.

[15] May Ayim, “Das Jahr 1990. Heimat und Einheit aus afro–deutscher Perspektive,” 206 – 222 in Ika Hügel, Chis Lange, May Ayim, Ilona Bubek, Gülsen Aktras und Dagmar Schultz (Hg.), Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, (Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1993): 214.

[16] Trinh T. Minh–Ha, When The Moon Waxes Red (New York: Routledge, 1991): 71.

[17] Yoko Tawada, „Von der Muttersprache zur Sprachmutter“, in Talisman, 9–15.

[18] zitiert nach einem Interview, web–page www.gullstrand.landskrona.se/sprk_sek/tysk/yoko.htm.

[19] Samira Kawash, Dislocating the Color Line. Identity, Hybridity, and Singularity in African–American Narrative (Stanford UP, Stanford, CA, 1997): 218.


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