glossen: interview


“Eine Krokodilfarm wäre ein ideales Holocaust-Zentrum”, oder: “Die Wahrheit ist eben genau dann anwesend, wenn das passiert, was man nicht wollte.”

Rainer Stollmann im Gespräch mit dem Theater-Regisseur und Filmautor Christoph Schlingensief (1. 2. 99 in Bremen)



St: Herr Schlingensief, als was würden Sie sich eigentlich bezeichnen?

Sch: Die Frage hab ich schon mal in einer Fernsehsendung gehört. Ich glaube, August Everding hat jetzt kürzlich im Fernsehen gesagt, wie er sich bezeichnen würde, wenn er in den Himmel kommt. Er hat gesagt: “August Everding”. Das fand ich natürlich grandios. Der Mann ist jetzt tot. Das hat er davon. Er hat's also jetzt schon mal gesagt, nicht wahr?

St: Wann sind Sie geboren?

Sch: 24. Oktober 1960 in Oberhausen, und das übliche: Vater Apotheker, Mutter Kinderkrankenschwester.

St: Leben Ihre Eltern noch?

Sch: Ja.

St: Haben Sie ein gutes Verhältnis zu ihnen?

Sch: Ein sehr gutes. Es gab Zeiten vor 10 Jahren, da haben meine Eltern meine Filme nicht geguckt. Ich wollte, daß sie sie sehen. Aber es gab große Mißverständnisse. In Berlin im Forum des Jungen Films nach der Vorführung von “Tunguska” (1985), bei der schon von 800 Zuschauern 400 den Saal verlassen hatten, war mein Vater bis zum Schluß geblieben, aber dann nachher im Foyer hat er unter Tränen zu mir gesagt, mit so einer wackelnden Lippe: “Das hätte ich nie erwartet, daß du sowas machst.” Er hat dann meiner Mutter, die die Filme gar nicht mehr sehen wollte, die Filme im Schnellgang vorgeführt. bzw. sich vorher auf ein Blatt die Zahlen notiert - wir hatten einen Videorecorder, einen der ersten mit einem elektronischen Zählwerk, was also genauer war als diese mechanischen - und hat dann meiner Mutter nur die Landschaftsaufnahmen gezeigt. Also von “Egomania” (1986) kennt meine Mutter, glaub ich, nur eine Hallig im Schnee und noch mal eine Hallig im Schnee und bißchen Schnee links und ein bißchen Schnee rechts.

St: Auf dem Stand ist sie auch heute noch?

Sch: Ich bin mir bei meiner Mutter nie ganz im klaren, wieviel Obsession und Versautheit eigentlich Eltern so haben. Das weiß, glaube ich, auch kaum jemand, es sei denn, die von '68, die wissen ja Bescheid über Eltern - die sind ja fast nur noch nackt rumgelaufen, so wie man das im nachhinein immer hört. Meine Eltern nicht. Ich vermute, meine Mutter hat da schon mal reingeguckt. Sie kann aber sehr gut schauspielern und würde immer sagen, “ich hab keine Ahnung, das interessiert mich auch nicht, da brauchst du gar nicht mit ankommen.” Sie waren im Zirkus bei 'Chance 2000' in unserem “Wahlkampfzirkus” (98), sie gehen auch in Theaterstücke rein, und da amüsieren sie sich. Es ist ihnen immer ein bißchen zu laut. Sie sind auch immer skeptisch, daß ich manchmal doch merkwürdige Leute mit dabei habe, besonders seit der Chance 2000-Zeit, seit letztem Jahr, als sie dann mal am Anfang sehr angegriffen wurden so unter dem Motto “was, will denn Christoph jetzt Bundeskanzler werden? Ja, was ist denn jetzt in den gefahren? Wie will der das denn mit den Arbeitslosen regeln, was hat der denn für ein Rezept?”

St: Psychoanalytiker würden sagen, man tut alles, was man tut eigentlich, um jemandem zu gefallen, nicht aus sachlichen Gründen.

Sch: Ja, oberflächlich betrachtet ist es auch so, es gibt diese innere Zwangssituation. Ich will nicht sagen, daß ich manisch bin - katholisch bin ich natürlich auch noch - es gibt einen extremen Gerechtigkeitswahnsinn. Es gibt die Obsession, es gibt den Zwang, sich eben auch mal Pornos angucken zu müssen, was ich sehr früh schon angefangen habe, und natürlich darf man es nicht zugeben. Oberflächlich betrachtet, habe ich gefallen, ganz klar. Ich konnte einen Diener machen, und ich war absolut so wie Prinz August von Hannover [der einen Reporter mit dem Schirm angegriffen hat]. Gestern im Fernsehen hat ein Augenzeuge berichtet, daß der garantiert nicht gewalttätig war in seiner Jugend, der hat einen Diener gemacht, das sagte ein Kommissar aus dem Hannoveraner Gestüt, und so ungefähr ist das bei mir auch. Oberflächlich betrachtet bin ich sicher sehr höflich, ich weiß auch, daß es manchmal bis zum Schleimigen hin reicht, aber ich würde ja nie ausschließen, daß ich auch noch was anderes gerne mal ausprobieren würde. Ich kann mich in die Rolle eines Täters eher reinversetzen als in die Rolle eines Opfers, außer im Bett, da gefällt mir die Opferrolle manchmal sehr gut.

St: Ich meine, Sie - wenn ich das mal so sagen darf - sind ja von einer bemerkenswerten öffentlichen Unbekümmertheit oder Frechheit.

Sch: Alles gespielt.

St: Ja, aber man muß es ja spielen können. Wo liegen denn die Anknüpfungspunkte? Gibt es irgendwelche Vorfälle in Ihrem Leben, wo Sie wußten, jetzt werde ich so einen oder so einen ähnlichen Weg gehen, der mich dahin führt, wo Sie heute sind?

Sch: Alles was man eigentlich angestrebt hat, hat man auch wirklich angestrebt, wußte aber natürlich schon im vorhinein, daß das nicht unbedingt alles funktionieren kann, hat aber trotzdem so getan, als ob es auf alle Fälle funktionieren wird, sonst hätte man ja auch andere nicht dazubekommen. In diesem Traumschloß, das man sich selber aufgebaut hat, hat man dann tatsächlich wahrscheinlich Kräfte mobilisiert, die man nicht gehabt hätte, wenn man immer nur gedacht hätte, “das schaff ich sowieso nicht, das wird nichts.” Bei “Chance 2000” war es sehr oft so, daß Leute kamen und sagten, “ich hab eine ganz tolle Idee, mach du mal das und das.” Und wenn man dann sagte, “mach mal selber”, dann kam nichts weiter, und das ist immer das Problem. Es gibt, glaube ich, tausendmal bessere Leute im Theater und im Film als jetzt im Moment in der Kultur in Deutschland vorhanden sind. Die machen ihren ersten Film, zeigen ihn, und dann kommen so die ersten Stimmen: ja, find ich sehr lustig, ist ja prima, ja toll, eine Sensation, 5 packende Minuten sind da entstanden. Dann hören sie aber auch noch Nebensätze wie: “Mach doch mal einen Liebesfilm” oder “was hälts du denn davon, wenn du mal auf 18 Bilder pro Sekunde drehst oder unscharf” oder was weiß ich, irgendwelche kleinen Sätze, die man so nebenher noch auffängt. Und beim zweiten Film fängt es dann an und wird dann eben furchtbar. Man möchte dann doch diesen einen Satz vielleicht mal ernst nehmen und nicht nur einen lustigen Film gemacht haben. Das sieht man zum Beispiel auch an Buck im Moment. Ich halte immer noch etwas von Buck, der Film “Liebe deine Nächste” ist längst nicht so schlecht, wie alle reden, finde ich. Da ist Tykwers “Lola rennt” auch nicht besser. Diese Diskussion ist einfach an den Haaren herbeigezogen. Nur man merkt an dem Film, Buck tät es wahrscheinlich viel besser, wenn er wieder einfach sagt, “ja, okay ich bin nun mal Ostfriese, warum denn nicht?” Das ist das Hauptproblem, daß man gerne was darstellen würde, was man latent ahnt, niemals sein zu können, auf der anderen Ebene gibt es aber auch Dinge, da fragt man nicht danach, ob man die darstellen will oder ob man die unbedingt darstellen muß, sondern man macht sie einfach. Man steht unter Druck, man macht es einfach. Und der Hauptakzent bei mir ist: ich hab eine Riesenfreude daran, wenn ich eine absurde Konstellation entdecke. Also bei allem Anstand, bei allen Kulturbetrachtungen, bei allen feinen Kritikern, bei allen feinen Empfängen oder was auch immer. Selbst bei den übelsten Empfängen und den übelsten Geburtstagsparties, wenn irgendwas dann nicht so übel wird wie der Gastgeber eigentlich dachte, daß es sein müßte, dann ist so ein Punkt erreicht, wo ich sage, da kommt die Wahrheit mal ganz kurz. Die Wahrheit ist eben genau dann anwesend, wenn das passiert, was man nicht wollte. Das ist das beste, was einem passieren kann, was man aber leider kaum aushält, und deshalb ist das ein ewiges Versteckspiel und gleichzeitig sich selber ausliefern, und deshalb gibt’s unterschiedliche Stufen des 'Hose-runter-lassens'. Manchmal ist es gut, sie extrem runterzulassen, wenn's dann superpeinlich wird, deshalb ist die Peinlichkeit auch eine treibende Kraft in dem, was man da macht. Und deshalb arbeite ich fast ausschließlich mit peinlichen Leuten zusammen.

St: Das ist wirklich neu: Den Eindruck, daß Sie es auf Peinlichkeiten anlegen, hat man tatsächlich bei Ihnen. Neulich hab ich jemanden anders übrigens genauso reden hören.

Sch: Schröder?

St: Nein, Schröder wohl kaum, ich glaube, es war Helge Schneider. - Ich nehme an, Sie wollten als Kind Filme drehen.

Sch: Ja, das ging sehr früh los. Mein Vater hat alles gefilmt auf Doppel-8, mit einer Kamera, die man aufziehen mußte. Nach 7,5 m mußte man die Spule dann unter der Bettdecke umlegen, die anderen 7 1/2 m belichten, dann wurde das weggeschickt, in der Mitte durchtrennt, aneinandergeklebt, dann hatte man 15 m, gleich 3 1/2 Minuten Film. Mein Vater hat dann manchmal Fehler gemacht, der hat den Film doppelt umgelegt, so daß dann doppelte Belichtung entstand. Und die Filme, die dabei herauskamen, fand ich auch wieder Klasse. Das war natürlich nicht beabsichtigt, aber da passierte plötzlich was sehr Interessantes. Irgendwelche Leute marschierten meiner Mutter und mir am Strand über den Bauch in der Doppelbelichtung. Und deshalb wollte ich die Kamera auch mal haben, hab dann damit gedreht, hatte aber immer das Bestreben, daß ich ja sowieso alles kann und daß ich das auch alles hinkriege und daß es alles ganz toll wird. Wenn nicht, hatte die Technik eben versagt. Ich mußte die Kamera aufziehen bei der Verfolgungsjagd, somit blieben die Täter und die Opfer - das war immer die Konstellation in meinen Filmen - an einer bestimmten Stelle stehen, da mußte ich wieder aufziehen und dann hab ich wieder 'los' gesagt, und dann sind sie wieder weitergerannt. Somit sieht man also einen Film, in dem die Kamera öfter hängenbleibt, dann stehen die Darsteller einfach statisch herum, bis sie wieder ein Zeichen bekommen: “los”, und dann springt die Kamera und die rennen dann wieder weiter bis zum nächsten Hoppla der Kamera. Es war eigentlich nicht so schön, aber trotzdem hab ich gemeint, es wäre super spannend und ganz toll gelöst, also ist auch viel Selbsttäuschung dabei

St: Sie haben grad die '68er erwähnt. Wie würden Sie ihr Verhältnis zu denen beschreiben?

Sch: Das besteht aus einem großen Mißverständnis. Das kann ich vielleicht an einem Beispiel schildern. Beim Westdeutschen Rundfunk in Köln - ich komme ja aus dem Ruhrgebiet - da gibt es bis jetzt nur einen und noch einen halben Redakteur, die latent mit mir Kontakt aufnehmen. Das sind aber Gespräche, die finden meist dann statt, wenn die Sekretärin mal kurz Kaffee holt oder die Tür verschlossen ist, man trifft sich nicht im WDR, ich muß dann draußen warten, und man trifft sich im Café. Es gibt ein ganz komisches Klima. Die Alt-68er Witte und Wiebel haben eben verkündet, ich wäre gegen die 68er, und das können sie nicht zulassen, weil sie sind ja a) pädagogisch, b) total befreit, c) sind sie revolutionär tätig gewesen und haben Unmögliches umgesetzt. Dazu gehört unter anderem eben 'Lindenstraße', also wirklich revolutionäre Elemente. Genau an dem Punkt fängt dann das Mißverständnis an. Ich kann der “Lindenstraße” teilweise positive Elemente abgewinnen, finde aber trotzdem die Geräusche in der Nebenwohnung immer noch zu leise. Das wird mir aber sofort negativ ausgelegt, als Feindschaft den 68ern gegenüber. Und da liegt das ganze Mißverständnis.

St: Darf ich Sie einmal bitten, zu zwei Stichworten Stellung zu nehmen? -- Denken und Lachen.

Sch: Gestern abend im Bett konnte ich nicht einschlafen, und es ging mir viel durch den Kopf. Ich mußte idaran denken, wie es wäre, wenn Irm Herrmann [Schauspielerin, zuerst in Faßbinder-Filmen bekannt geworden] in dem neuen Theaterstück plötzlich einen Vortrag hält über die Gerechtigkeit im Himbadorf in Namibia, und da mußte ich total lachen in dem Moment. Und das konnte ich jetzt meiner Freundin nicht erklären, die daneben lag und sagte, “was ist denn jetzt los?” Das ist nicht so leicht, nicht wahr? Also man hat etwas gedacht, und ich fange dann plötzlich an zu lachen. Was mir sehr imponiert hat, war einmal Buñel auf die Frage, warum und wie er seine Geschichten ausdenkt. Da sagte er einfach, er sitze in einem Lehnstuhl, trinke Cognac und rauche Zigarre und manchmal muß muß er grienen oder schmunzeln, und dann schreibt er die Idee, die er dann gerade hat, auch auf, weil das wäre wahrscheinlich eine ganz gute. Also das ist dieser Moment des Lachens, den es oft gibt, wenn ein Gedanke oder eine Idee geboren wird. – Nina, meine Freundin und ich waren jetzt eben in Afrika, 7 Wochen lang, in Namibia. Ich hatte noch nie zuvor soviel Angst. Die Insekten dort sind riesengroß, faustgroße Teile kommen ins Zimmer geflogen, es kommen Rainspider, die sehen aus wie Lobster, ins Zimmer reingerast und verschwinden dann wieder im Busch, über der Hütte sind plötzlich 3 m lange Pythons. Und die Leute tun so, als wäre das alles normal. Die Python wäre nicht so gefährlich, die hätte ja keine Giftzähne, die würde nur würgen, das wäre also nicht so gefährlich, und der Rainspider, was macht der in der Küche? Ja, der guckt nur, ob es was zu essen gibt - also das sind alles so Momente, es war nur noch Angst anwesend. Nachts beim Pipimachen haben wir dann - einer stand dann auf, der andere war dann auch sofort hellwach, weil jedes Geräusch ja auch wieder Angst ausgelöst hat - Lachanfälle bekommen. Das waren aber die schönsten Lachanfälle, die ich jemals gehabt habe. 20 Minuten haben wir teilweise durchgelacht, in einem Zelt oder in so einem Bambushüttchen haben wir einen Lachanfall gehabt von 20 Minuten, wo man aber nicht wußte warum. Und das ist wahrscheinlich das tollste Lachen. Die deutschen Kommödien scheitern daran, daß man eben genau weiß, wann der Lacher geplant war und wann die Werbung usw. Denken ist für mich, wenn sich die Gedanken plötzlich verselbständigen oder ad absurdum führen, so daß ein Lachen beginnt, was dann fast vielleicht grundlos ist. Das würde dann Herr Stallmeyer von der FAZ albern nennen. Aber ich denke, es ist sehr erfrischend und stärkt die Abwehrkräfte und man hat auch was getan nachts, wenn man aufsteht.

St: Haben Sie zu den geistigen Oberrabbis der 68er noch irgendeine Beziehung? Benjamin, Adorno, Habermas, lesen Sie die?

Sch: Nur fliegend, überfliegend, so tief muß man da nicht mehr rein. Ich hab aber tolle Leute kennengelernt, Alfred Edel als Adorno-Schüler und Werbefachmann und Kluge etwa. Edel war einfach eine superwichtige Person. Ich hab nichts verstanden, wenn er geredet hat. Er hat viel über Preußenkriege erzählt, über Adorno, Horkheimer...

St: Das müssen Sie ja nicht verstehen, es interessiert mich nur.

Sch: Absolut bruchstückhaft, aber im nachhinein, kommt immer wieder was davon vor im Kopf. Und ich glaube, diese Großzügigkeit der freien Assoziation oder der Möglichkeit, alles mögliche aufeinander sich einmal kurzfristig beziehen zu lassen, ohne den Paß zu fordern, da liegt diese Eigenart drin, die ich bei ihm zum Beispiel gelernt hab. So ähnlich würde ich jetzt sagen, Kuhlbrodt, der Oberstaatsanwalt war, dann Filmkritiker, dann Schauspieler, der Gläser zerbeißt, bei Lars von Trier spielt, und in meinem Film [Das Deutsche Kettensägemassaker, 1990] mit der Kettensäge eine Ossi-Frau umbringt. Das soll man auch mal erst zusammenbringen, das ist eine Großzügigkeit, eine Freiheit, die ich auch weiter suche bei Leuten, wo ich mich freue, wenn es solche Leute immer noch gibt. Aber leider merkt man öfter, es gibt immer mehr Schauspieler, die nur dann eine Eigenart vorführen wenn sie glauben 'das paßt'. 'Paß mal auf, ich bin auch absurd', kommt dann. Oder 'ich zeig dir mal was ganz Verrücktes'. Und dann machen sie was, und das ist es aber nicht. Deshalb sind natürlich viele Behinderte in meine Arbeiten reingerutscht, die so nicht denken. Das Verhältnis zwischen 68 und mir ist von meiner Seite aus überhaupt nicht angespannt, außer in dem Moment, wo die glauben, sie hätten mehr erreicht, als wir jemals erreichen dürfen. Jetzt in der Regierung sitzen, wenn das das Ziel war, gut, alle Achtung, haben sie geschafft.

St: Ob sie damit fertig werden?

Sch: Weiß ich nicht. Aber ich bin schon ein Fan der 68er, den Langhans, den hab ich jetzt kennengelernt bei 'Chance 2000', da sitzt einem natürlich auch so ein merkwürdiger Mensch gegenüber, da weiß man auch nicht, ob man da noch weiter Kontakt haben will oder ob das einen nachher reinzieht in so eine ....

St: Ja, aber alle, die Sie jetzt genannt haben, also Edel, Langhans, Kuhlbrodt, ich glaube, auch Kluge ...

Sch: Negt ...

St: Ja, Negt ist sehr ernsthaft, aber die haben alle schon etwas - gerade im Hinblick auf Denken und Theorien - etwas Gebrochenes, Distanziertes, jedenfalls ein lockeres Verhältnis zu dem Spruch 'Ohne Theorie keine Revolution', den die 68er ja hochgehalten hatten. Aber bei Ihnen ist das spontan, nicht überlegt, es gibt da nicht noch mal eine Metatheorie, etwa: “die sind am Ende, und wir müssen uns anders benehmen?”

Sch: Ich kriege feindschaftliche Gefühle, wenn jemand partout nicht kapieren will, daß man die doppelte Staatsbürgerschaft einfach geben sollte. Wenn auf einem Amt jemand partout sagt, 'nee, jetzt hab ich aber Mittagspause' oder sonst sowas, also jetzt ist es 11 Uhr, aber der Mann hat da schon 3 Stunden gesessen - blöde Beispiele - aber das gibt es, da entwickle ich Feindschaft, da krieg ich auch großartige Phantasieanfälle, was man jetzt machen könnte. Bei 'Chance 2000' wollten wir eigentlich Erste-Hilfe-Trupps einrichten, da kann man dann auf dem Amt zum Beispiel bei uns anrufen, und dann fährt ein Auto mit 4 Arbeitslosen zu dem Amt und hilft einfach den Beamten, rennt einfach ins Büro und hilft ihm dann mal ein paar Stunden. Wie das Helfen aussieht, ist ja auch eine Definitionsfrage. Ich bin auch nicht nachtragend - nur wenn Leute so eine komische Verschlossenheit präsentieren, so eine 'Das-geht-auf-gar-keine Fälle-Mentalität' an den Tag legen, dann werde ich natürlich angespornt, auch Ablehnung spornt kolossal an.

St: Sie haben gerade ein Stichwort erwähnt, von dem ich eigentlich gedacht hätte, es trifft für Sie nicht zu: Sie haben doch eigentlich keine “Feinde”, jedenfalls ist es nicht erkennbar in Ihren Auftritten in der Öffentlichkeit. Sie gehen bei Scientology rein und verhalten sich ganz locker, so daß die ganz verblüfft sind, daß da keiner kommt und sie angreift. Und wenn man jetzt noch mal auf die 68er zurückgeht, die hatten ja ihre Feinde. Bei Ihrer Mischung aus Kunst, Kultur, Politik, Theater, Öffentlichkeitsarbeit ist der Punkt für mich nicht recht erkennbar. Würden Sie trotzdem sagen, Sie haben Feinde?

Sch: Das wäre mir immer zu sehr abgelöst von tatsächlichen menschlichen Eigenschaften. Ich finde, da sind immer zu sehr die Plakate und die Parolen oder die Grundsatzerklärungen wichtiger als der Mensch, der mit seinem Plakat in den Riesensturm gerät und dann mit dem Ding auf die Fresse knallt und trotzdem versucht, das Ding noch mal zu basteln und wieder hochzuhalten. Das ist das, was dann noch vielleicht das Plakat mit ihm in irgendeinen Kontext bringt, der mich interessieren würde. Und das, glaube ich, ist auch ein großes Dilemma. Man kann in Deutschland wahnsinnig schnell und wahnsinnig leicht ein Urteil geben, daß das nichts wird, ja das kenn ich schon, na ja, das ist so und so usw., aber daß man das selber mal auch wirklich erlebt hat und nicht nur sich irgendwie erzählt hat oder auch mal ein Risiko mit getragen hat, das ist eben minimal. Das sieht man auch im Fernsehen, das sieht man überall, es wird immer weiter dafür gesorgt, daß der Mensch nicht eine Versicherung, sondern 100 Versicherungen hat gegen alles und jeden und in der Hauptsache auch gegen sich selber, weil das latent natürlich doch in den Köpfen ist, daß man die größte Gefahr wahrscheinlich selber in sich trägt. Deshalb hat man auch so viele Tricks gefunden, das irgendwie auszuschalten. Dieser Moment, auch zu sehen in Deutschland, 68 sind sie auf der Straße und in Österreich kackt Otto Mühl auf die Österreich-Flagge. Das sind einfach die Unterschiede, die mich interessieren, also was ist jetzt - ist denn vielleicht Mühl sogar noch viel aktueller heutzutage als damals? Und wenn man die Arbeitslosenproteste sieht, wie lächerlich und wie beschissen das ist. Wir sind eben auch nur mit hundert Mann schwimmen gewesen im Wolfgangsee, obwohl eigentlich 6 Millionen erwartet wurden von der Polizei in Österreich. Ich denk trotzdem: die hundert, die da waren und schwimmen waren, für die war es was, ich denke auch für Helmut Kohl war es was, aber das schönste war eben wahrscheinlich dieses Wissen, es hätten 6 Millionen sein können. Die Projektionsebene im Kopf ist die größte Lust, die wir noch haben, und das ist einerseits toll, andererseits furchtbar. Sobald man heutzutage, was man im Kopf sich als Vision ausdenkt, umsetzt, wird es eine Katastrophe, oder es wird belanglos, oder es wird ein Nichts, oder eine Langeweile, und so wird das auch mit “Chance 2000” gehen, so wird das eigentlich im Moment immer gehen, und wie man das hinkriegt, daß man sich wieder investiert in einer Art und Weise, daß eine Haftbarkeit dabei ist, das war der Ansatz schon bei Chance 2000. Das ist jetzt auch der Ansatz bei dem, was wir demnächst vorhaben, woran wir gerade arbeiten, und da sind viele Befruchtungsmöglichkeiten da und viele Vorbilder auch aus den 68ern. Nur ich glaube, wenn man - die erste Demonstration ist noch ein Erlebnis, die 5. auch noch - wenn man das dann jede Woche macht, dann kommt ein Punkt: 'das wars dann'.

St: Vollkommen richtig. Vielleicht noch eine Frage zu einem andern großen Begriff, den die 68er doch irgendwie verehrt haben. Würden Sie sagen, der Begriff Kunst oder Kultur spielt für Sie überhaupt noch eine Rolle? Ich meine, Adorno war im Grunde eben doch kunstreligiös. Am Schluß hat er in einer Enklave Kunst verteidigt gegen die bestehende schlechte Welt, und irgendwie haben alle, die so schreiben wollten wie Adorno, dies übernommen. Bei Ihnen hat man aber den Eindruck, daß Sie auch mit so einem Begriff wie “Kulturindustrie”, also dem schlimmsten Feind authentischer Kunst, nicht mehr viel anfangen wollen.

Sch: Eigentlich komme ich vom Film her. Und eigentlich müßte Film für mich das größte sein. Jetzt komm ich durch Zufall 91 ins Theater, aber Castorf meint, der soll doch mal Theater machen nach der “Chance 2000”. Theater fand ich zum Kotzen, fand ich irgendwie das allerletzte, daß da Menschen jeden Abend auf die Bühne gehen und jetzt ihren Text sprechen. Ein Regisseur hat sich da wohl unglaublich ins Zeug gelegt und Geld kassiert, ist dann weggefahren, und die müssen das immer noch spielen. Diese Ebene, die man da im Theater aushalten muß, ist nicht nur belanglos, die ist aber leider nicht nur ärgerlich, und das ist einfach schade, daß so eine Möglichkeit vertan wird. Jetzt versuch im Theater was anderes, aber eigentlich müßte ich immer wieder an den Film ran wollen, und das wundert mich so sehr, daß es doch anders ist. Ich kann kaum noch im Kino sitzen. Ich war jetzt in zwei, drei Filmen, 'Husbands' hab ich noch mal gesehen von Cassavetes, von Woody Allan “Celebrity” und 'Psycho'.

St: Psycho II?

Sch: Psycho II, ja, der furchtbar ist, also das ist gar nichts. Aber ich kann eben - z. B. wo ich in einem Buck-Film saß oder wo ich in diesem - wie heißt denn der - Til Schweiger saß, also, ich hör da immer einen Aufnahmeleiter 'Ruhe' rufen, ich denke immer an eine Produktionssekretärin, die dann versucht, noch irgendwie Gitanes-Zigaretten ins Bild zu halten oder mit Nilzigaretten verhandelt, deren Reklame man auf dem Plakat dann am Wege noch im Garten sieht mit ein paar verwelkten Blättern. Kinder, wir wollen fertig werden - ich kann da wirklich überhaupt keinen Bezug mehr sehen, und ich seh auch da bei den Leuten, die das dann gemacht haben, nicht mehr dieses Bestreben, sich vielleicht mal lieber mit zwei ihresgleichen zu treffen und einfach mal mit einer wackelnden Kamera sich selber zu filmen beim Saufen, beim Trinken, wo ich einfach sag, 'ich hab wenigstens einmal ins Wohnzimmer von diesem Arschloch reingeguckt' und komischerweise da was entdeckt, was mich auch an einige Sachen bei mir erinnert. Man wächst ja mit der Katastrophe eines anderen. Und diese Filme, die man da sieht, sind noch nicht einmal mehr Katastrophen, die sind eigentlich gar nichts mehr. Ich glaube, Situationen zu schaffen, in denen sich auch die Schauspieler nicht unbedingt klar darüber sind, in welchem Film sie spielen, ob sie überhaupt zu sehen sind, vielleicht sogar die Frage zu stellen, wer ist denn jetzt der Regisseur im Moment? - das hat doch mit einer Betrachtung unseres Lebens zu tun. Wir können zwar die Unabhängigkeit pausenlos aussprechen, aber in Wirklichkeit sind wir vielleicht in der Truman-Show, also vielleicht sind wir da irgendwo und rasen nachher gegen die Dekoration. Der Film ist oft leider verschenkt. Ich fände es ist eine großartige Situation, wenn das Blake Edwards vor 20 Jahren gemacht hätte mit Peter Sellers, ich glaub, man hätte - man wär gar nicht mehr aufgestanden, man wäre gestorben am Lachanfall. Aber diese Momente, wenn dann wirklich der eine in der Klinik operieren soll, obwohl er Schauspieler ist, und er kann nicht operieren und weiß nicht, wie das geht und muß jetzt verzögern, damit dann der, der das nicht merken darf, daß der das nicht kann, endlich weg ist, dieser Moment, den kann man stundenlang zeigen. Das ist eigentlich das genau, um was es dann geht. Ab wann schneide ich doch da rein, um dem andern zu beweisen, daß ichs kann, obwohl natürlich alle wissen im Raum: ich kanns nicht und die Patientin erst recht nicht. Also wieweit würden wir gehen, um dem andern etwas darzustellen, vielleicht kann man so wieder Fernsehen beleben oder Theater oder auch Kino beleben. Vielleicht sollten wir so permanent darauf bestehen, bis an die Kante, bis ans äußerste, den andern Glauben machen, daß das und das möglich ist. Vielleicht ist das die neue Ebene. Nicht das Zurück und auch nicht dieses Zweifeln, sondern vielleicht einfach affirmativ - da sind wir mal wieder bei Alfred Edel, das hab ich von ihm sehr stark gelernt, affirmativ die Dinge sehen. Wenn einer sagt, 'ein Paß, Doppelpaß', dann sagt man 'nee, ein Viererpaß', oder 'ein Zehnerpaß' oder es ist auch mit hundert Pässen möglich - und dann hat man vielleicht nachher gar keinen mehr. Aber so einen Weg zu beschreiten, finde ich sinnvoll. Deshalb hab ich mit der Kategorie Kunst, Kategorie Kultur, Kategorie Politik, nicht so viel am Hut und wunder mich, wie schnell man da drin verschwinden kann. Man kann in dem Apparat Kunst ganz schnell verschwinden. Man ist im Katalog, man hat auch Bilder, die hängt man auf den Kopf und die hängt man links und rechts und kreuz und quer und darf auch noch die Expo 2000 in der Schweiz machen, wenn man Glück hat. Alles kann man machen, aber man ist trotzdem plötzlich weg. Und das hab ich auch bei 'Chance' gemerkt. Das ganze Ding dieser Öffentlichkeit, diese Parteipolitik, “Jesus der Arbeitslosen” und ich weiß nicht was, hat mich so dermaßen assimiliert und sozusagen aufgesogen in den Apparat rein. 'Schlingensief will Bundeskanzler werden', da ist er wieder, da sagt er was, dann ist er schwimmen gegangen, hat nicht geklappt, dann in so einem Jahresbericht vom Stern taucht man auch auf am 2. August neben der Irak-Krise und sonstwas. Eigentlich hat man jetzt viel durchgemacht, durchgelebt, aber man hat eigentlich immer nur bewiesen, daß das, auf das man früher immer so geguckt hat: 'was schreibt der'? 'was ist denn das, kommt ein Artikel über mich raus?' All diese Sachen, im Moment kommen mir die so unglaublich banal und beschissen vor. Und ich glaube, das liegt daran, daß ich mich selber verloren habe, sicher aber in Gebiete reingerutscht bin, in denen man so assimiliert wurde, daß man sich selber nicht mehr transformieren konnte. Die Verhinderung der Transformation ist das Hauptthema der heutigen Kulturschaffenden, der Kulturbeobachter und Kulturförderer. Es darf sich nichts mehr transformieren, es muß alles so assimiliert werden in den Begriffen, daß sie nachher wirklich genauso an der Wand hängen wie das andere auch, nämlich im Rahmen - und Feierabend. Und da die Irritation zu schaffen bedarf aber der eigenen Bereitschaft, sich dermaßen aus dem Fenster zu lehnen und sich dermaßen in die Kurve zu schmeißen, daß man nachher diesen Lachanfall bekommt, wo man nicht mehr weiß, warum man das zugelassen hat, und warum man nicht schön seriös da gesessen hat und hat gesagt, 'ich hab meine C4-Professur, und ich hab irgendwie meine Rente abgeschlossen, es geht mir doch eigentlich sehr gut, und mein Pkw läuft auch noch, und die Frau ist auch selbst nach 20 Jahren immer noch dabei, also, es ist doch alles ganz schön'. Also, ich spür das bei mir selber auch, daß solche Bestrebungen im Gange sind. - Ich überleg, wie meine Tochter heißen könnte.

St: Kriegen Sie jetzt eine Tochter?

Sch: Wir wollen ... aber es wird was, doch es wird was.

St: Ich geb Ihnen noch ein Stichwort, da wir soviel übers Lachen gesprochen haben: Trauerarbeit.

Sch: Wenn Trauer etwas mit einem Hang zur Sentimentalität, Melancholie, Melodramatik zu tun hat, gerade aus dem, daß wir nicht im richtigen Moment, wenn es uns schlecht geht, wenn der Darm bekanntgibt, daß er irgendeinen Krebs ausbaut oder wenn irgendwie im Kopf ein Stich ist, oder ich hatte jetzt ein Ödem im Auge, daß da nicht die richtige Musik läuft, wenn das damit zu tun hat, dann arbeitet man sich ja eigentlich ständig falsch ab. Eigentlich müßte ich einen Kassettenrecorder und paar Platten dabeihaben und müßte eigentlich die Platte einspielen, die jetzt eben den Gefühlshaushalt darstellt, so daß man nicht mehr selber soviel machen muß. Trauerarbeit im Sinne, daß ich Deutschland abarbeiten muß oder 6 Millionen Juden oder das Holocaust-Denkmal auch mal mit erfinde oder sowas in der Richtung, all das ist....

St: ... das ist öffentliche, d.h. repräsentative Trauerarbeit, da kann ich verstehen, daß Sie da gewisse Hemmungen haben, daran teilzunehmen.

Sch: Eine Krokodilfarm wäre ein ideales Holocaust-Zentrum, mitten auf dem Potsdamer Platz. In Afrika werden neugeborene Schweineföten, also Minischweinchen und Föten werden da verfüttert an die Krokodile, und das müßte am Potsdamer Platz als Holocaust-Denkmal eingerichtet werden mit der Auflage, daß man nicht fragen darf, warum. Ich finde, das ist die Grundbedingung. Man darf nicht fragen, warum das so ist. Das ist einfach so.

St: Das hat den nötigen Absurditätscharakter.

Sch: Ich glaube, es ist wahnsinnig viel Wahrheit drin, auch wenn man sich mal die Haut anguckt von den Krokodilen und deren Bereitschaft, das Hingebungsvolle.

St: Ich dachte jetzt z.B. an einen Ihrer ersten Filme, “100 Jahre Adolf Hitler” (89). Hat das nichts mit Trauerarbeit zu tun?

Sch: Was soll ich mich da anmaßen, etwas abzuarbeiten, wo ich wirklich nur mit dem Kopf schütteln kann. Ich kann auch nur dann abarbeiten, wenn ich etwas benutze. Also wenn ich etwas solange zur Verfügung stelle oder mit allen Variationen spiele, daß es sich von selber vielleicht dann auch in Luft auflöst oder in Wohlgefallen, aber bei so einem Thema - was mich ja bei diesem Holocaust-Denkmal auch wahnsinnig macht, eigentlich - was da für eine gelehrte Geschwätzigkeit und ein Wichtigtuerkram plötzlich kommt, der Anstand, der da drin wohnt, ist das Kotzgefühl, was ich da habe, wenn ich das höre. Und dieser Hitler-Film war natürlich, das ist vielleicht auch peinlich, aber das war auch schon “Menu total” (86), es gibt ein Bezugssystem zu Bunker, zur Erotik eines Bunkers. Ich hatte mal mit einem Bauernjungen - da war ich neun - irgendwo im Sauerland hatten wir eine Ferienwohnung - da hat der mich mal so in einen Bunker reingezogen und hat dann angefangen, an meiner Hose rumzumachen, und ich bin dann auch irgendwann abgehauen. Aber ich weiß, daß es mich sehr beschäftigt hat und auch sehr fasziniert hat. Bunker und auch dieser Geruch, dieser Gestank, diese Uniformität, nicht daß ich auf Leder stehe, ich will nur sagen damit, es gibt plötzlich so Quersachen, in “Menu total” wird viel gekotzt. Alfred Edel kotzt die ganze Zeit. Ich hab mal einen Darmverschluß gehabt und konnte 6 Wochen nichts verdauen, mußte deshalb immer kotzen. Man kriegt nach 3 Wochen eine andere Beziehung zum Kotzen als vorher. Das Kotzen ist dann einfach ein normaler Tagesablauf wie Pinkeln und Kacken. Man hat sich halt erbrochen. Es war am Anfang unangenehm, wenn Leute dabei waren. Später wenn dann irgendwer dabei war, hat man gar nicht mehr 'pardon' gerufen, sondern hat einfach gleich losgebrochen. Dieses Abnutzen eines solchen Zustands, die Verklärung 'das darf man aber nicht', 'pst, leise' oder 'um Gottes willen, jetzt nicht stören' oder sowas 'bleib bei dir, mach deine Trauer mit dir selber aus' usw., da liegt der Alptraum drin. Es ist ja nichts Schlechtes, etwas mit sich selber auszumachen, aber es wird sehr oft benützt, um sich selber im Notfall raushalten zu können, notfalls zu sagen, 'natürlich bin ich dagegen gewesen, aber wissen Sie, ich hab das mit mir selber ausgemacht'. Ja, was ist denn das? Da ist der Hitler-Film niemals eine Trauerarbeit gewesen, sondern das war einfach nach einem Riesenfrust 'Opfergang Remake Mutters Maske' mit Helge Schneider, ein Film, den ich auch gerne gucke und der auch lustig ist, nirgendwo gelaufen eigentlich, mit der Frau von Kuhlbrodt als Mutter-Darstellerin, die Mutter von Helge Schneider, ein großartiges Gespann. 'Mutters Maske’, das Remake von Veit Harlans ‘Opfergang' wird abgelehnt bei den Filmfestspielen in Hof, alle schütteln nur den Kopf, Wolf Donner sagt immer nur "st, st, wollen Sie sich beim Fernsehen anbiedern? son Quatsch, nee, nee, st. st. Also das ist ja nun nix, das ist ja nun gar nix.” Immer wieder, immer wieder, ich habe wirklich geheult. Und dann kommt der Edel an und sagt, "sag mal, so geht's aber nicht, mach doch wieder was, was interessiert dich denn wirklich?", und da hab ich gesagt "ja Hitler". Und dann war das Thema “Hitler und der Bunker” und die letzte Stunde eben. ... Man hat ja was gewollt, und man hat erstmal, würde ich sagen, nicht das Übelste und Schlimmste im Kopf gehabt, und man hat, egal auf welcher Ebene, auch als Opfer gedacht, das ist ein Netter, den ich da treffe in dem Aufzug oder irgendwo in dem Wald, ach guck mal, wie nett, spricht mich an, will Feuer haben usw. Erstmal gehen wir doch eigentlich von was Gutem aus, und das ist auch ein Ding, was man nicht so schnell aufgeben soll. Aber wenn wir schon den im Wald so angucken wie ich die Insekten in Afrika, nämlich daß sie stechen und beißen können, hat man zwar auch ein Erlebnis gehabt, ist aber selber bei sich geblieben. Ich habe nicht mit diesem Lobster abends gespielt oder mit diesem Rainspider, oder habe nicht die Insekten gefangen. Aber diese Bereitschaft, diese Öffnung ist erstmal bei dem Hitler-Film der Punkt gewesen, zu sagen, dann spielen wir doch mal die letzte Stunde im Führerbunker durch, und dann gucken wir mal an, was diese Wohngemeinschaft da in den letzten Minuten noch erlebt hat, und dann sehn wir mal weiter. Was dann nachher passierte, das ist ganz oft so gewesen bei meinen Sachen, dann kommt einer wie Thomas Mitscherlich an und dreht am Rad in Hamburg und findet das eine Verniedlichung dieses Themas, “kindlicher Nazi” usw.

St: Sie haben eben erzählt und angedeutet, daß Sie jetzt was Neues machen, was ist das?

Sch: Da es mir eben schwerfällt, theoretisch bei einem Thema zu bleiben, und dann ein Konstrukt abzuliefern, wo sich jemand anderes dran festhalten kann und dann Bezüge herstellt usw., denke ich, sollte ich einfach auch sagen, bei 'Chance 2000' ist das gescheitert. Deshalb ist das auch die Chance, die ich jetzt wahrnehme, daß man eben tatsächlich die Freiheit des einzelnen weiter gefördert hat in dem Sinne, ihn affirmativ zu betrachten und aufzufordern, das Unmögliche zu probieren und es auch tatsächlich mal zu sehen, daß er es probiert. Da es dann aber an meiner Person aufgehangen war, war es natürlich so, daß dann die Leute, was ich ja schon eben sagte, wollten, daß ich das mache. 'Ja, renn Du man nackt durch die Einkaufszone mit den Unterschriftenlisten, das wäre doch supergeil' oder so. Oder 'geh man in die Show und reiß der mal die Perücke runter'. Also dadurch entstehen auch viele Bilder, die eben nie stattgefunden haben, auch nie stattfinden werden, aber schön wär's. Und deshalb haben wir jetzt überlegt, als ich in Afrika war, kam mir eben so zum Bewußtsein, wieviel Obsessionen da eigentlich schlummern. Also Obsessionen, die immer noch vorhanden sind, obwohl die Deutschen da '83 im Todesjahr von Wagner den ersten Vertrag mit den Himbas u.a. abgeschlossen haben, um da Land zu bekommen, um da ihr Klein-Amerika aufzubauen. Und diese Obsessionen laufen da frei rum. Das sind Himbas, nackte Frauen, die sich mit ranziger Butter einschmieren und schon auf 50 m zu riechen sind, wenn die um die Ecke kommen. Da sind Hereros, die haben 20 - 30 m Stoff um den Körper gewickelt und sind verwandt mit den Himbas, sitzen daneben, bei derselben Temperatur, 35-40 Grad, sitzt der eine mit 20 m Stoff und zwei Stoffhörnern, und der andere nackt mit ranziger Butter eingeschmiert mit zwei Rinderhörnern auf dem Kopf, nebeneinander, Verwandte. Was da alles sich abspielt - die Hauka z. B., das ist auch ein Volk, französisch beeinflußt, die treffen sich im Wald und arbeiten da Zivilisationsschäden ab, also die Einflüsse der Kolonisation, indem der eine dann die Frau Schuschu spielt und der andere spielt die Lokomotive, der dritte den General Francois, und die rennen dann im Wald solange rum, bis sie dann auch noch einen Hund essen und Schaum vorm Mund kriegen. Am nächsten Tag sind sie wieder im Straßenbau. Diese Schäden, die zugefügt wurden durch die Versuche der Kolonisation, dadurch sind eben Dinge entstanden, die nicht mehr so leicht abzulegen sind. Deshalb sind wird auch hoffnungslos verloren und sollten Afrika ganz sicher hier reinlassen, das wäre ein Argument dafür, sie hierhin zu holen. Aber das Abarbeiten dieser Zivilisationsschäden, wenn das schon in Afrika bei denen möglich ist und wir uns sowieso als die Tollsten betrachten, dann sollten wir das jetzt auch mal anfangen. Wir sollten eigentlich mal anfangen, unsere Zivilisationsschäden abzuarbeiten, indem wir Frau Schuschu werden, indem wir auch mal einen Hund essen, indem wir mal vielleicht irgendwas anderes machen als nur im Büro oder hier am Mikrofon oder sonstwo zu sein. Und um das zu fördern, haben wir ein Netzwerk gegründet, das jetzt am 5.6. starten wird. Das nennt sich 'Seven X', das ist eine Internet-Adresse - das war ja auch eine Forderung von 'Chance 2000', Handy, Telefon, Internet für alle umsonst! Mit der Forderung wären wir garantiert gewählt worden. Leider haben wir nicht die Plakate dazu drucken können, aber dieses Internet ist erstmal unser Hauptstandbein. Die Internet-Adresse ist super einfach: www.xxxxxxx.net. Und wenn man 7x.net eintippt, kommt man zu uns. Wenn man 6x.net eintippt, rast man auf eine japanische Hardcore-Seite. Wenn man 5 eintippt, rast man auf eine, glaube ich, australische Hardcore-Seite. Das x ist also überall und dies seven x, das sind wir. Wir haben eine eigene Kirche darin, wir haben auch unsere Net-World-Organization, das ist die, die die Botschaften von Chance weiter betreut. Wir haben Einzelprojekte, die da angegliedert sind. Wir haben eine Afrika-Seite, auf der über Rituale berichtet werden soll, und es gibt eben 18 bis 20 Internet-Adressen, e-mail-Adressen, wo man seine eigene Obsession hinschicken kann. Das heißt, es ist ein Netzwerk, das sich selber betrachtet. Der, der es betrachtet, kanns nur dann betrachten, wenn er selber daran teilnimmt. Also, er wird dabei sehr große Schwierigkeiten haben, mir immer zu erzählen, was ich jetzt als nächstes machen sollte, sondern er soll erstmal sagen, was er macht, oder was er gefunden hat. Das Internet bietet da auch noch mal den Schutzgürtel natürlich von Lebensversicherung, erstmal schön seriös ins Pornonetz reinzukommen. Ja, wenn dann die Freundin reinkommt, und man hat dann wieder einen Dildo oder irgendwas auf dem Monitor, dann kann man sagen 'ja man ist ja seven x, ist so ein Projekt, eine Forschungsgruppe. Und dann forscht man eben einmal in seinen eigenen Obsessionen und in anderen Obsessionen. Aber das ist das Dilemma von Staaten, die Grundvoraussetzung für Staatenbildung heißt Obsession. Weil man nur dann einen Staat gründen sollte, wenn man wirklich jemanden trifft, den man obsessiv betrachtet. Das hat auch mit Themen zu tun. Man kann auch mit Themen einen Staat gründen. Und wenn man das mal wieder auf den Punkt bringen könnte, und wenn man das auch mal als Netzwerk betrachtet, woran nicht nur Deutschland beteiligt ist, vielleicht auch ins Englische usw. übersetzt... Dann kann man vielleicht auch endlich über diese Verkehrsform: 'ich hab das Porno-Monopol und wenn Sie wollen, können Sie 20 Mark bezahlen, dann können Sie meine Bildchen gucken', hinauskommen. Man zeigt auch mal seine Bildchen, und dann sieht man meine Bildchen. Und das Ganze in einem verhältnismäßig offenen System, und das ist jetzt das, was wir machen, das wird auch eine eigene Pornofilm-Produktion haben. Wir haben jetzt am 5.6. das erste Casting, das nennt sich Pinkfilm-Production von Seven x. Pinkfilme finanzieren sich so, daß 30 Minuten Hardcore-Szenen sind und 30 Minuten darf der junge Regisseur/die Regisseurin Kunst machen, also das ist ein Trick, den die in Japan anwenden, den ich großartig finde. Da kriegen die 70.000 Dollar vom Pornoverleih und dann drehen die halt 30 Minuten da richtig finanzierte Kunst. Und dann darf der 30 Minuten zeigen, was er will. Es gibt Filme, da sind drei Freunde, die machen Harakiri. Bei dem einen weiß man nicht, ob es echt ist, bei dem anderen sieht man, daß das nicht echt ist. Das sieht ziemlich übel aus, und die anderen 30 Minuten sieht man Kirschblüten und dazu werden Gedichte vorgelesen.
Also, wenn das nicht der Grundstein zu einem neuen Staatengebilde und neuen Staatsempfinden sein soll, dann weiß ichs nicht. Das muß man Gerhard Schröder und Joschka Fischer und allen möglichen andern letzten Endes auch als affirmativen Handschlag reichen, denn Kohl wollte man wirklich bekämpfen, und das haben wir geschafft. Das ist der Triumph von 'Chance 2000', aber Schröder und Fischer muß man helfen. und das ist jetzt 'Seven x'. Wir helfen der Regierung.


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