glossen: rezension


 Irmtraud Morgner: Das heroische Testament. Ein Roman in Fragmenten. Hrsg. von Rudolf Bussmann. München: Luchterhand Literaturverlag, 1998. 393 S.

Mit 259 Mappen bestehend aus mehr als 12.000 Seiten an diversen Kapiteln, Entwürfen und Notizen hatte sich Irmtraud Morgner für den als dritten Teil der Salman-Trilogie konzipierten Roman mit dem Arbeitstitel Das heroische Testament (an anderer Stelle von der Autorin auch bezeichnet als Die Cherubinischen Wandersfrauen. Ein apokryphischer Salman-Roman) einen kolossalen Materialvorrat angelegt. Daß nach den beiden ersten erfolgreichen Bänden der Trilogie, Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974) und Amanda (1983), der dritte Band trotz des angesammelten Ideenreichtums nicht zustande kam, lag angeblich daran, daß die Schriftstellerin zunehmend eine sinnvolle Weiterführung der angesprochenen Themenbereiche zu bezweifeln schien. Die stete Eindämmung ihrer früheren optimistischen Grundhaltung durch die militärische Aufrüstung der Ost- und West-Staaten, die Gefahr der Atomwaffen, die rücksichtslose Umweltzerstörung, die reaktionären Tendenzen in den Emanzipationsbewegungen in Ost und West sowie die einengenden Schreibbedingungen in der DDR mögen Irmtraud Morgner 1984 dazu veranlaßt haben, das angefangene Manuskript mit dem Ausspruch “Dieses Buch gehört dem Harlekin” zu überschreiben und bis zu ihrem Tode am 6. Mai 1990 nicht mehr anzurühren (311).

Nun sind die damaligen Entwürfe und Denkmodelle Morgners für den dritten Band der Salman-Trilogie dank des Morgner-Nachlaßbetreuers Rudolf Bussmann dennoch der Öffentlichkeit zugängig gemacht worden, indem er die literarischen Bruchstücke und Fragmente in dem Nachlaßroman Das Heroische Testament sorgfältig zusammengestellt und herausgegeben hat. Der Basler Schriftsteller konnte mittels seines literarischen Wissens und Einfühlungsvermögens sowie vermutlich auch aufgrund einer gewissen Hartnäckigkeit, die Materialfülle des Nachlasses in eine überschaubare Struktur bändigen und kenntnisreich kommentieren. Der Inhalt des Buches gliedert sich in drei Teile: 1) in zehn lose, jedoch in sich abgeschlossene Kapitel, 2) in Entwürfe und Notizen, die nach Figuren geordnet sind, und 3) in einen Anhang, der wiederum aus Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des Romans, aus Erläuterungen zum Text, Faksimilen von Morgners handschriftlichen Aufzeichnungen und aus Beobachtungen bzw. Spekulationen über die Arbeitsweise der Autorin besteht. Wie der von Bussmann rekonstruierte und bereits 1992 veröffentlichte, angeblich “verschollene” Roman Morgners Rumba auf einen Herbst aus dem Jahre 1966 zeugt auch die vorliegende Publikation Das Heroische Testament von einer außerordentlichen editorischen Leistung. Nicht nur die Materialfülle an sich, sondern auch die Tatsache, daß sich die Fragmente in verschiedenen Arbeitsstadien befanden, müssen die Arbeit des Herausgebers stark erschwert haben. Dazu kommt, daß die Romanfragmente keinem vorgefertigten Kompositionsschema folgen. Das soll jedoch nicht heißen, daß die Bruchstücke und Notate für den Leser minder interessant sind. Bussmanns Erläuterungen, mit denen einzelne Abschnitte eingeleitet werden, sind bei der Lektüre allerdings auch für denjenigen unerläßlich, der eingehendst mit Morgners Werk vertraut ist. Sie geben hilfreichen Aufschluß über die Arbeitsschritte und Konzeptionspläne der Schriftstellerin für die einzelnen Figuren bzw. Geschichten und lassen so wenigstens einen größeren Handlungsrahmen für den Schlußteil der Trilogie erahnen.

Was kann man nun diesen postum veröffentlichten Zeugnissen der Morgnerschen Dichterwerkstatt entnehmen? Wer schon in den ersten beiden Bänden der Salman-Trilogie gern mit Morgners bunten Figuren durch reale, phantastische, historische und mythische Räume und Zeiten streifte, und sich an der Fabulierlust und an dem keckem Sprachwitz der Autorin erfreute, wäre höchstwahrscheinlich auch bei dem dritten Band der Trilolgie wieder auf seine Rechnung gekommen. Denn im Ansatz ist in den vorliegenden Kapiteln, in den Entwürfen und Einzelnotaten bereits vieles vorhanden, was den Reiz an Morgners Büchern ausmacht: bekannte Figuren aus den ersten beiden Bänden wie die mittelalterliche Trobadora Beatriz, die später zu einer Sirene mutiert, die ketzerische Hexe Amanda und deren “andere Hälfte”, die Lokführerin Laura Salman; neu dazu kommt Hero, die sich einen idealen Mann namens Leander einfach aus den Rippen schneidet; Titania und Oberon, die als eine der wenigen das “unideologische” Land Dschinnistan bewohnen, wo “die Lüge nicht Staatsdoktrin ist” (153), wo global und unpatriarchalisch, ja poetisch gedacht wird; der homo ludens, Puck, der Verteidger des Poetischen, des unnützen Spiels, der mithilft, “die Staatswesen irrezuführen, in Unordnung zu bringen, damit die Subjekte wieder ein wenig Luft bekommen” (185); als Gegenpol dazu die ideologisch verkrüppelten Bewohner von der “Geehrtenrepublik Avalun”, die sogenannten “Halbmenschen” (halb Mensch, halb Maschine), die in diesem Land der Phantasielosigkeit, der Technokraten und der Wissenschaftsgläubigkeit leben. Wie die als Gegensatzpaare etablierte Figurenkonstellation im real-phantastischen Raum war wohl auch die Fortführung der Montagestrukur in den ersten beiden Bände geplant. Erzählt und berichtet wird in reaktionären “Dunkelweiberbriefen”, in “Tagebuchnotizen”, in “laurenzianischen Kopfkissenbüchern” und sonstigen “Dokumenten”. Und ebenso sollten scheinbar auch die in Trobadora und Amanda bereits angesprochenen großen Themen weitergesponnen werden: der Abbau von patriarchalischen Denkgewohnheiten durch Neukonzipierungen von Mythen, Geschichte(n) und Legenden; die Vollkommenheitsträume zur Menschwerdung des Menschen; die Suche nach dem utopischen Potential im Menschen, das als Widerstandspotential in einer selbstzerstörerischen, krisengeschüttelten Welt einen kleinen Hoffnungsschimmer für eine bessere Zukunft aufleuchten läßt.

Doch wie Bussmann aus den wiederholten Neuansätzen verschiedener Kapitel und abgebrochenen Textstellen der Nachlaßfragmente herauslesen konnte, war für Morgner zu Beginn der achtziger Jahre aus den hier anfangs genannten Gründen ein nahtloser thematischer Übergang zum dritten Band nicht mehr so einfach. Wachsende Skepsis am gesellschaftlichen Fortschritt des Menschen und die Enttäuschung über das Scheitern des sozialistischen Experimentes DDR, stellten unter anderem den Glauben an eine marxistisch orientierte Gesellschaftsutopie in Frage. Während Morgner in Trobadora und in Amanda nach Blochschem Konzept sowohl mit Gesellschaftsutopien als auch mit Subjektutopien experimentierte, verlagert sie den Schwerpunkt ihrer Utopiekonzeptionen im Heroischen Testament ausschließlich auf das utopische Potential im einzelnen Menschen. Vor diesem Hintergrund scheint die Schriftstellerin dann auch zu fragen: Wenn keine Gesellschaftsutopien mehr möglich sind, wo kann denn der einzelne Mensch in dieser Welt noch Kraft und Hoffnung schöpfen, um nicht geistig zu veröden oder gar zu resignieren? Eine Antwort darauf, wird im Heroischen Testament preisgegeben: „In einer Welt ohne Zukunft / Utopie sich das Fehlende buchstäblich aus sich herausschneiden, um nicht krank zu werden. Als einzelner und als Spezies. Auch: sich was herausnehmen: im doppelten Wortsinn (angesichts so vieler Verbrechen). Nicht mehr Ideologien nachlaufen, die alle auf Recht pochen, d.h. Mitläufer sein. (Je schwieriger die Zeiten, desto fester der Standpunkt!) Sondern jeder Einzelne nimmt sich heraus, Zukunft zu setzen, wo Ideologien versagen” (124). Genau das macht Hero, eine der Hauptfiguren des Heroischen Testaments, wie der feministisch parodierte Titel des Buches bereits andeutet. Die DDR-Bürgerin schneidet sich auf einer Auslandsreise die nötige Zukunft / Utopie / Liebe in Gestalt eines Mannes namens Leander einfach aus den Rippen. Um Leander ohne Papiere in die DDR bringen zu können, erklärt sie ihn kurzer Hand zu ihrem Dissertationsthema an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften und ruft einen neuen Studienzweig, die Philosophie der Tat, ins Leben. Empörte Aufschreie aus den Reihen patriarchalisch gesinnter Männer und Frauen folgen dieser ungeheuerlichen Tat. Eine Variation dieser aktualisierten Version des Hero und Leander Motivs aus der griechischen Mythologie findet sich noch in einer anderen Liebesgeschichte mit dem Titel “Der Schöne und das Tier”. In dieser bereits 1991 bei Luchterhand veröffentlichten Erzählung übernimmt die Protagonistin Beatriz, nun nicht mehr in Trobadour- oder Sirenengestalt, sondern als Mensch, die Aufgabe, dem Harlekin Leander und anderen die Liebe, -für Morgner „die Kraft der Utopie in uns“ (192)-, als zukunftsbringendes Lebenselexier vor Augen zu führen. Doch nicht nur in in der Liebe, sondern auch in Todesnähe, wo die Hoffnung auf Zukunft schwindet, läßt sich scheinbar noch die nötige Kraft für den täglichen Überlebenskampf schöpfen. Die Lokführerin Laura etwa, die in den Romanentwürfen -wie Morgner selbst- an Krebs erkrankt, schneidet sich “täglich den Sinn und den Mut aus den Rippen” (306), um mit dieser und anderen Realitäten fertigzuwerden. Auf dem Sterbebett liegend durchforstet Laura in Erinnerungen ihre Lebenserfahrungen als DDR-Bürgerin, als Frau, als Mutter und als Tochter systemkonformer Eltern, mit denen sie noch abrechnet und ihnen vorwirft, es sich als “Mitläufer” allzuwohlig in der Bequemlichkeit einer “Diktatur des Mittelmaßes” (300) eingerichtet zu haben.

Zwischen diesen längeren Erzählungen von Liebe und Tod finden sich noch zahlreiche, kleinere Erzählungen, Notate, Aphorismen, und Zitate, zu viele, um hier näher auf sie eingehen zu können – sofern das überhaupt möglich ist. Denn Antworten auf die Frage, welchen Stellenwert Irmtraud Morgner bei Wiederaufnahme der Arbeit all diesen Fragmenten innerhalb der Romantrilogie eingeräumt hätte, müssen ohnehin als Spekulationen dem hypothetischen Raum verhaftet bleiben. So aufschlußreich die im Heroischen Testament gesammelten Aufzeichnungen über die Arbeitsweise Irmtraud Morgners, ihre Einsichten, Denkprozesse und Experimentierfreudigkeit auch sein mögen, es empfiehlt sich daher ein vorsichtiger Umgang mit diesen Notizen und Entwürfen, denn sie sind eben nur das: Entwürfe, denen die Schriftstellerin noch dazu selbst skeptisch gegenüberstand und deren Funktionalität und literar-ästhetische Wirkung in einem Romanganzen von ihr nicht erprobt wurden.

Siegrun Wildner
University of Northern Iowa



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