glossen: rezension


Volker Braun, Tumulus. Gedichte. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999) 46 Seiten, 24 DM.

1999 erschien zu seinem 60. Geburtstag Volker Brauns neuester Gedichtband Tumulus. Das lateinische Wort “Tumulus” bedeutet “Hügelgrab”. Ein Gedicht im Band heißt auch “Der Totenhügel” und setzt den Ton. Es geht auf den ersten Blick um die verhunzte Utopie. Wer sich jedoch in dieses sperrige, anspruchsvolle Werk einliest, wird bald merken, daß “Massaker der Illusionen” nicht unbedingt Verlust bedeuten muß. Auch hier scheint durch, was Braun 1997 in seiner zweiten Revision der “Unvollendeten Geschichte” gesagt hat: “Die utopischsten Züge des frühen verfehlten Sozialismus wirken als Herausforderung fort. Darum liegt das Gewesene nicht hinter uns in wesenlosem Schein. Darum bleibt es die unvollendete Geschichte.”

Doch die Tumulus-Gedichtsammlung ist vom Ton tiefster Selbstironie getragen. Die Aufmachung des Werkes weist bereits darauf hin. Der Band ist schlank, als gäbe es im Moment nicht allzuviel zu sagen. Der Hintergrund des Umschlags ist schwarz mit einer Abbildung, die einen blutroten Ball über einem gefalteten gelbgrünen Streifen zeigt. Auf der Rückseite des Einbandes befindet sich ein ergänzendes Gegenstück: Der blutrote Ball ist unter der Faltung angebracht. Ästhetisches Spiel oder symbolträchtiger Verweis? Wohl beides. Die utopischen Horizonte sind in weiteste Fernen gerückt, begraben unter der Realität eines barbarisch schönen Kapitalismus, dessen schaler Luxus auch faszinieren kann. Im Gedicht “Lagerfeld”, das den Band abschließt, heißt es in einer ironischen Überschneidung der Stimmen des Ich Sprechers und seiner lyrischen Figur, des Modeschöpfers Karl Lagerfeld: “Lagerfeld oder Die Gelassenheit ... // Ich genieße den Luxus, ausgestoßen zu sein/ Ein Idiot im 3. Jahrtausend Ein Bürger der Welt // Salute, Barbaren”.

Brauns Tumulus-Band enthält nur zwölf Gedichte, von denen fünf bereits in früheren Veröffentlichungen gedruckt waren. Auffällig an diesem Bändchen ist die ungewöhnliche Struktur einer Dreiteilung. Zwei Einzelgedichte - genannt “Traumtext” und “Lagerfeld” - umrahmen einen Mittelteil, der den Titel “Der Stoff zum Leben 4” trägt. Bei näherem Hinsehen erweist sich die Dreiteilung einer so geringen Zahl von Gedichten jedoch als äußerst geschickter Kunstgriff. Evoziert wird damit der Gedanke an ein Triptychon, einen Flügelaltar. Die Dreiteilung, die der Dialektiker Braun vornimmt, ist auch im Kontext seines Gesamtwerkes von Interesse, versucht sie doch im zweiten Teil, dem Hauptteil, genannt “Der Stoff zum Leben 4: Tumulus”, an die Tradition der Zyklen “Der Stoff zum Leben” und die darin enthaltenen Materialgedichte anzuknüpfen. Im Experimentieren mit Sprache, Zitatmontagen und Zitatfragmentierungen, Kontrafakturen und Sinnumdeutungen gestaltet sich das lyrische Ich in mannigfachen Variationen mit Bildmaterial der Fremdheit: als einen “Nomaden im 4-Sterne Hotel”, “einen Verrückten / Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte”, “einen Wegwerfmenschen”, einen “Gast”, entlassen aus dem “Zimmer der Utopien”. Beharrlich und provozierend setzt Braun seine Kapitalismuskritik fort, ohne ihr jedoch, nachdem die kommunistischen Ideen gescheitert sind, eine gewichtige Alternative entgegenhalten zu können. So bleibt es bei der Provokation, beim Ort der Poesie, dem Niemandsland geschichtlicher Dialektik. War ihm der reale Sozialismus in der DDR im Laufe der Jahre zum Witz geworden, so ist ihm der Kapitalismus der Aberwitz. Entsprechend dominieren Stimmlagen der Skepsis, auch Verzweiflung, primär jedoch sarkastische Provokation. In Tumulus hinterfragt ein scharfer Denker den Zustand einer ihm fremden Wirklichkeit, an deren Unabänderlichkeit er sich nicht gewöhnen will.

Der in beiden deutschen Staaten unangepaßte, “unpopuläre” Dichter Braun, der sich im Gedicht “6.5.1996” die Frage stellte, “wann ... der Dichter geboren [wird]”, beläßt es in diesem schmalen Werk für sich selbst bei einer ironisch gebrochenen Außenseiterposition in der “Ortlosigkeit”. Auf dem Hintergrund der Alternativlosigkeit eines “barbarisch schönen” Kapitalismus, der als historischer Stillstand empfunden wird, wirkt das Lyrikbändchen - seine Aufmachung, sein Design - exquisit, ein kostbarer, auch teurer Luxusgegenstand in der breiten Angebotspalette des literarischen Modemarktes. Wer wird diesen Band kaufen? Wer versteht diesen Dichter überhaupt im Westen, wer noch im Osten? Braun schreibt trotzdem weiter. Der sachlichen Feststellung, “statische Künstler/ Sie halten sich unter jeder Regierung”, setzt er - beharrend, trotzig, fast anachronistisch wirkend - sein eigenes philosophisches Credo entgegen: “Warum soll ich Mode werden/ In der Wegwerfgesellschaft”.

Christine Cosentino
Rutgers University


zurück zum inhaltsverzeichnis