glossen: rezension


Monika Maron, Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte (Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 1999) 205 Seiten, 38 DM.

Was die Authentizität von Autobiographien anbetrifft, so folgen diese ihren eigenen Gesetzen. Im künstlerischen Verdichten des Erlebten und im gedanklichen Durchdringen oder Deuten wird eben jenes oft fragwürdig, was man generell unter Wahrheitsgehalt versteht. Goethe nannte es in seiner berühmten Autobiographie Dichtung und Wahrheit “das kaum Erreichbare”. Sind Erlebnisse noch nicht zur Historie geworden und sieht sich der Autor gar in Zeiten von politischen Umbrüchen in Polemiken verstrickt, so verstärkt sich die Gefahr subjektiver Einfärbung und Rechtfertigungsakrobatik ganz erheblich. Eine größere zeitliche Distanz und der Versuch des Autors, mit schonungsloser Ehrlichkeit zu arbeiten, ist daher dem Wahrheitsgehalt einer Lebensbilanz zweckdienlich, zumindest käme sie ihm näher.

Monika Marons dokumentarische Familiengeschichte Pawels Briefe ist ein solcher Versuch, und er überzeugt. Die 1941 in Berlin geborene Autorin wuchs als Stieftochter des Innenministers Karl Maron in der DDR auf, wechselte im Juni 1988 mit einem Dreijahresvisum jedoch in die Bundesrepublik über. Sie rekonstruiert anhand von Briefen und Fotos die Geschichte von vier Generationen, wobei der Hauptteil dem jüdischen Großvater Pawel Iglarz gewidmet ist, dessen Korrespondenz sie und ihre Mutter Hella fünfzig Jahre später durch einen Zufall auf dem Dachboden finden. Damit beginnt eine Reise in die Vergangenheit, die der Enkelin Monika Maron wohl vor allem dazu dient, innerhalb der Familienkonstellation ihrer eigenen Identität nachzuspüren und Wurzeln zu finden. Pawels Briefe sind ebenfalls eine Gechichte der Verdrängungen und Lebenslügen von Seiten der kommunistisch verblendeten halbjüdischen Mutter Hella, deren Vergeßlichkeit die Tochter Monika als bewußt/unbewußtes Umbiegen der eigenen Biographie ins Glückliche beargwöhnt. Die ehrlich bestürzte Mutter Hella kann sich an die gefundene Korrespondenz und ihre eigenen Briefe durchaus nicht erinnern. Die Tochter, die eine Philosophie über das Vergessen entwickelt, kommt zu dem überzeugenden Schluß, daß man - sie selbst eingeschlossen - in Zeiten des Wechsels “beim Erlernen eines neuen Lebens ... gelebtes Leben auf eine transportable Größe zurechtstutzt” und wie bei einem Umzug nur das mitnimmt, was ”wichtig und kostbar erschien”. Das erklärt die Gedächtnislücken der Mutter, die immerhin die Nazizeit überlebt hatte.

Die Autorin Maron ist tief berührt von einem Brief des Großvaters, der auf sie bezogen ist: “... zeigt ihr den Brief und erzählt ihr, wie tief unglücklich ihre Großeltern gerade in den alten Tagen geworden sind, vielleicht weint sie dann auch eine Träne”. Diesem Menschen spürt die Enkelin nach, sieht dann auch Ähnlichkeiten in einem ausgeprägten “Anderssein”: “wir, mein Großvater und ich, weil ich nach ihm und nur nach ihm kam, waren eben ein bißchen anders.” Wer ist in dieser Familiengeschichte dieser so “andere” Mann? Der in Polen geborene jüdische Schneider Pawel Iglarz wurde 1942 im Lager Chelmno umgebracht. Mit seiner katholischen Frau Josefa konvertierte er zum Baptistentum, emigrierte nach Berlin, trat dort der kommunistischen Partei bei und wurde 1939 mit seiner treu zu ihm haltenden Frau von den NS-Behörden wieder nach Polen ausgewiesen. Von ihm stammt der Satz: “Zeig niemals dem Kind, daß es Haß, Neid und Rache gibt. Sie soll ein wertvoller Mensch werden.” Marons Werk ist eine Familiengeschichte der Widersprüche und Disparatheiten, in die sich die Enkelin einreiht: in das von religiösen, kulturellen, politischen und nationalen Zäsuren gezeichnete Leben der gütigen Großeltern und in die Verblendungen der halbjüdischen kommunistischen Mutter, der ein deutscher Soldat, Monikas Vater, durch den Krieg hindurch treu geblieben war. Monika Maron bricht mit diesen Verblendungen, wird letztlich, wie Pawel und Josefa, ebenfalls eine Art Abtrünnige einer überkommenen Religion, die als Dissidentin den Bruch mit der DDR vollzieht und in ein anderes Land überwechselt.

Diese Familiengeschichte ist keineswegs abgerundet oder gar aus einem Guß. Brüche dominieren. Maron versucht, sie zu verstehen und darzustellen. Ebenso wirkt die Sprache: sie ist verhalten, nachdenklich grübelnd, dann wieder abgerissen und stockend. Von Selbstgerechtigkeit ist wenig zu spüren. Rechtfertigend und daher künstlerisch mit dem Rest des Buches nicht vergleichbar sind die Abschnitte, in denen Maron ihr kurzes (und ereignisloses) Verstricktsein mit der Stasi erklärt, mit der “Hauptverwaltung Aufklärung”, der Markus Wolf vorstand. Dieser überflüssig anmutende Teil wirkt - hier macht sich dann doch wieder der geringe zeitliche Abstand zu dem “Medienereignis” bemerkbar - aufdringlich, künstlich draufgesetzt, er stört. In diesem Buch der Brüche ist er als Qualitätsbruch zu verzeichnen. Das mindert den Gesamteindruck des Buches jedoch keineswegs: Pawels Briefe ist ein verstörend schönes Buch über gütige Menschen mit dem Mut zum Anderssein und zum Bruch. Es ringt um Verstehen, also Güte, läßt aber unkommentiert, wo das unverständlich Ungewisse nicht zu erklären ist und einem die Sprache verschlägt.

Christine Cosentino
Rutgers University


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