glossen: kurzgeschichten


Alexander Kluge

Heidegger rechnet 1934 mit seiner Berufung zum Leiter der Führerlehrbegleitstaffel. Aus allen Gauen, den deutschen Provinzstädten, eilten die deutschen Philosophen im Sommer 1934 nach Leipzig zum deutschen Philosophentag. In Berlin bestieg der Führer den Sonderzug, der ihn nach Berchtesgaden bringen sollte. Auf dem Hauptbahnhof Leipzig wurde die Lokomotive des Führerzuges üblicherweise gewechselt. Ein Treffen Hitlers mit Martin Heidegger war von Schmundt, dem Wehrmachtsadjutanten, in Aussicht genommen. Eine Verkettung kleinster Ursachen verkürzte den Aufenthalt Hitlers in Leipzig und verhinderte die Begegnung, von der sich Eingeweihte eine Verstärkung der Kräfte versprochen hätten, die für eine zweite nationalsozialistische Revolution notwendig waren. So wurde die einzige und letzte Chance im Abendland, dass Philosophie in einen unmittelbaren Vortrags- und Besorgungsraum zur Macht im Reiche tritt, vertan.

Neue Zürcher Zeitung: Was soll Führerlehrbegleitstaffel heißen? Einen solchen Stab gibt es doch nicht.

Parteigenosse Richter: Er mußte eingerichtet werden.

NZZ: Wusste Hitler von seinem Glück? Hat einen solchen Stab angefordert?

Pg. Richter: Er hatte gesagt, er wolle immer erneut lernen. Das hatte er öffentlich und im engeren Kreis gesagt.

NZZ: Jetzt sollte er einen Lehrer erhalten....

Pg. Richter: Nicht unter dieser Bezeichnung. Der Führer ist kein Schüler.

NZZ: Ein philosophischen Begleiter?

Pg. Richter: Es ging weniger um Philosophie, es ging um Denken.

NZZ: Konnte Hitler nicht denken?

Pg. Richter: Jeder Mensch kann denken, wenn er nicht Angst davor hat.

NZZ: Man sagt, der Führer sei abergläubisch?

Pg. Richter: Vielleicht, das gehört zum Denken. Ein Mitarbeiter für die geistige Nahrung, sozusagen, darum geht es.

NZZ: Wie ein Chefkoch.

Pg. Richter: Ähnlich.

NZZ: Woran scheiterte es?

Pg. Richter: Die Lokomotive wurde nicht in Leipzig Hauptbahnhof, sondern in Wrietzen bei Leipzig bereitgestellt. So kam es nur zu einem kurzen Aufenthalt in Leipzig.

NZZ: Immer unterstellt, dass der Führer überhaupt die Absicht hatte, eine Führerlehrbegleitstaffel zu installieren.

Pg. Richter: Das unterstellt.

NZZ: Einen Stab von Prinzenerziehern?

Pg. Richter: Mächtige hielten sich so etwas von je her.

NZZ: Wie hätte Heidegger mit dem Führer reden können? In der Sprache seiner Veröffentlichungen oder in der Führersprache?

Pg. Richter: Gewiss nicht in der Ausdrucksweise, wie sie die Schriften Heideggers charakterisiert. Der Führer hat wenig Zeit. Er neigt auch nicht dazu zuzuhören. Eine Führerlehrbegleitstaffel ist nicht permanent in Hitlers Umfeld anwesend. Der Führerbegleitarzt, das ist eine Behörde in Berlin, die Führerbegleitstaffel ist das Sicherungsregiment Großdeutschland, das jeweils bei Ausfahrten einen Personenschutz stellt. Insofern geht es um eine Stabsstelle, die das Element des Denkerischen und Dichterischen im Reich im Auge behält, dem Führer unmittelbar berichtet und Weisungen des Führers, die sich auf das Denkerische beziehen, weitergibt. Dagegen geht es nicht darum, ihn zu unterrichten, ihn zu belehren oder zum Beispiel ihm Ratschläge für seine Lektüre zu geben. Die Stabsstelle wäre der Präses der deutschen Fakultäten des Bereichs nationalsozialistischer Forschung und Lehre. Faktisch hatte Heidegger nach Auffassung vieler zu diesem Zeitpunkt eine solche Stellung, bis zu Niederschlagung des Keims der zweiten nationalsozialistischen Revolution Ende 1934, also kurz nach dem fehlgeschlagenen Treffen auf Leipzig Hauptbahnhof.

NZZ: Führerlehrbegleitstaffel ist also ein Titel?

Pg. Richter: Und ein Zeichen. Auch eine Gelegenheit für Gespräche und Begegnungen.

NZZ: Bereitete sich Heidegger darauf vor?

Pg. Richter: Gewiss.

NZZ: Womit?

Pg. Richter: Eigentlich nur mit Fragen. Gut vorbereitete, einstimmende Fragen, die zeigen, dass der Führer Vertrauen in eine solche, ihm vielleicht zunächst unvertraut scheinende Einführung in die geheimen Verschränkungen des Jahrhunderts setzen könne. Eine philosophische Anleitung, nicht fachphilosophisch, etwas Schelling, Leibniz, Nietzsche, jeweils ohne Namensnennung.

NZZ: Womit sollte die Dienststelle bezahlt werden?

Pg. Richter: Aus den Zuschlägen für Sondermarken der Reichspost. Die Marken des braunen Bandes von Riehm hatten zum Beispiel 142 Pfennig Zuschlag pro Marke zusätzlich zum Nennwert von 44 Pfennig, das ist bei den hohen Auflagen eine schöne Summe.

NZZ: Wie empfand Heidegger, dass nichts geschah?

Pg. Richter: Als Katastrophe. Nach dem 30. Juni war er ohnehin persona non grata. Jeder nationalsozialistische Nachwuchsautor durfte an ihm üben. Man fiel über ihn her.

NZZ: Aber einen historischen Augenblick lang war es mehr als eine Idee, dem Führer einen Meister zu attachieren.

Pg. Richter: Ja, einen selbstbewussten Denkmeister.

NZZ: Gar nicht auszudenken, was das hätte werden können.

Pg. Richter: Soweit Denken reicht. Sokrates kämpfte als Soldat in Marathon. Plato lehrte vor dem Tyrannen Dionysos in Syrakus. Aristoteles‘ Gehilfen folgten den Armee Alexanders im Range von Stabsoffizieren, vermaßen den Erdkreis. Kleist reiste mit Schwester zu Pferde nach Boulogne, wo sich die Armee Napoleons zum Übersetzen nach England vorbereitete, um diese Kämpfer mit den Elementen der Kantschen Philosophie zu versorgen. Der Kriegselan der Revolution und die Begriffsmacht aus Königsberg, sozusagen das zur Ausübung nötige Gesetz - was für eine unüberwindliche Präsenz! Wie unabweisbar ist Bildungshunger für den Mächtigen. Es gibt kein Beispiel, dass sich eine Macht ohne Selbstvergewisserung je längere Zeit an der Macht hält. (Montaigne) Es ist das Unglück Hitlers, dass die Begegnung mit Heidegger wegen einer technischen Umdisposition, veranlaßt durch Reichsbahnräte, die von den Notwendigkeiten der Macht nichts wussten, nicht zustande kam.

NZZ: Weiß man denn, ob Hitler überhaupt einem Führerbegleitlehrer zugehört hätte?

Pg. Richter: Das kann man nicht wissen. Technikern, Ingenieuren hörte er zu. Auch Fernreisenden.

NZZ: Nichts kommt ferner her als ein Bericht aus der Welt der Gedanken. Das „entbergende Bergen".

PG Richter: Das hätte die Chance sein können.


zurück zum inhaltsverzeichnis