glossen: kurzgeschichten


Alexander Kluge

Ein Leitfaden, wie man glücklich wird

Bis dahin war alles so gegangen, wie sie es hätte vorhersagen können. Sie war aus einem Gehöft bei Oschersleben angereist, als Mitbringsel ihre abgebrochene Ausbildung, eine geheimdienstlich geschulte patriotische Kämpferin der DDR. Als Ort der Begegnung mit dem Westen hatte sie das Palace-Hotel in St. Moritz gewählt. Für vier Nächte reichte die Reisekasse.

In der Nacht zum dritten Aufenthaltstag hielt sie einen jungen, unausgeglichenen Selfmade-Mann an der Hand. Das ist nicht ganz korrekt. Sie karessierte ihm die Achselhöhlen, Schultern, Hoden, Füsse, so wie sie es in den Aufbaukursen auf der Hochschule des MfS gelernt hatte. Nach einigen Tagen sah sie, dass sie ihn gewonnen hatte. Am vierten Tag schon, sie war in sein Appartement eingezogen, da sie ihres nicht mehr hatte bezahlen können, einem Montag, kaufte er ihr bei Armani, direkt gegenüber dem Palace einen Pelzmantel, dessen Haube ihr Gesicht nunmehr umrahmt hielt, während das voluminöse Ding um ihren schlanken Leib schlabberte. Ich sehe aus, sagte sie sich, wie aus einem edlen Gestüt, ja, wie ein aufgezäumtes Pferd.

Er selbst, ein oft mürrisch blickender, unsicherer Junge, kaufte sich eine schwarzplissierte Lederjacke zur holzfaserreichen Hose, die in den dünnen Arsch kniff. Sie stellten sich gemeinsam vor dem Spiegel auf.

Was jetzt weiter? Es war im Jahr 1990. Sie hatte noch den DDR-Pass und zusätzlich einen gefälschten belgischen Pass aus den Beständen des Dienstes. Ihre Liebeskarriere reichte bis zu dem Punkt, an dem sie einen Paß vorzeigen mußte, sie brauchte eine Vita.

Sie wollte ihr Glück machen. Jetzt schleppte sie wie einen Koffer den reichen Jungen mit sich herum. Über seine Geschäfte, über die er gerne Auffassungen ausgetauscht hätte, konnte sie nicht mitreden. Es ist erstaunlich, wie wenig kommunikativ körperliche Beziehungen und der erste Ansturm der Faszinationen sein können. Sie langweilte sich, während er in seiner Art vor sich hintrauerte.

Sie fuhr nach Zürich, ließ sich dort über ältere Kontakte einen Pass fabrizieren, mit einem dazu angedeuteten Lebenslauf samt Urkunden. Dann aber zeigte sie diesen Pass nirgends vor, weil sie zögerte, sich von ihrem wirklichen Lebenslauf zu trennen. Zweimal hatte sie, zuletzt für den Pass, ihrem Jungen Geld aus dem Jackett genommen. Sie hatte anfangs die Legende eingeführt, sie stamme aus einem Hause, das nicht ohne Einkommen sei. Die unbedarfte Improvisation behinderte sie sehr. Eine Legende, die diesen Widerspruch vermied, hätte wiederum ihren Aufenthalt im Palace-Hotel unplausibel gemacht. Wie man es macht, ist es falsch, sagte sie sich. Sie machte aber jetzt keine Fehler mehr, in der Aufzucht der jungen Liebespflanze, die den Selfmademan neben ihr hielt, und auch in ihr eine Energieflamme des Eifers instand hielt, mit der sie diese hoffnungsvolle Affäre pflegte. Was fehlte, war ein geistiges Band. Sie versuchte ihm vorzulesen. Sie wollte von ihm lernen, was seine geschäftlichen Aktivitäten ausmachten. Darüber redet er freiherzig. Sie kaufte ein Vademekum für Männer, las heimlich. So füllte sie die Zeiträume zwischen den Kohabitationen.

Man konnte in diesem Grand-Hotel nirgends lesen. Beim Essen nicht, wenn sie mit ihm im Foyer oder in einer Bar saß, auch nicht. Nachts nicht, weil er beim Schlafen kein Licht vertrug. Während der Berührungen ohnehin nicht. Wie nach einer Zigarette gierte die lesewütige Mitteldeutsche nach einem Buch. Allenfalls auf einer der Toiletten des Hotels, keineswegs aber im Bad des Appartementes konnte sie auf kurze Zeit etwas Lesbares zücken.

Sie überlegte, ob sie sich dem Jungen offenbaren sollte. Weitgehend meinte sie, ihn im Griff zu haben. Inzwischen näherte sich jener Oktobertag, zu dem sie Bundesbürgerin wurde. Sie wartete also, ließ alles im Unbestimmten.

Er flog nach Venezuela wegen eines dringenden Geschäftskontaktes, sie hielt die Stellung im Palace. Bei der Rückkehr holte sie ihn in Zürich ab, da sie auch seinen Wagen verwaltete. Er schenkte ihr einen Klunker. War das das Glück, das sie sich erhofft hatte? Ein Glück, für das mächtige Funktionäre ihre Laufbahn riskierten? Sie haderte einige Tage lang, fühlte sich schwach. Dann fuhr sie ohne Erläuterungen und Abschiedsgruß über Chur, Lindau, München, Hannover, Magdeburg nach Oschersleben zurück. Der große Junge in St. Moritz kannte weder ihre Identität, noch ihre Adresse.


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