glossen: interview


„Sie brauchen den literarischen Gesang nicht, um Sinn zu vermitteln. Aber pur blinde Texte sind genauso unsinnig wie pur informierende überflüssig sind."

Ein Glossen-Werkstatt-Gespräch mit Alexander Kluge am 2. Juni 1999 in München sowie drei unveröffentlichten Geschichten des Autors

Rainer Stollmann (R.S.): Bitte, lesen Sie doch zuerst die kürzeste Geschichte aus den "Lebensläufen" vor: "Der spanische Posten".

Der spanische Posten
In einer Kaserne Spaniens lag ein Haufen Stroh. Ein Posten wurde davorgestellt. Das Stroh vermoderte, sank zu einem Häuflein zusammen. Der Posten, nicht abberufen, stand noch monatelang davor.


R. S. Und jetzt kommt der dumme Interpret und findet diese Geschichte sehr rätselhaft, zum Beispiel der Ausdruck "Kaserne Spaniens": Kasernen sind in einer bestimmten Stadt oder einer bestimmten Region, dies ist meinem Gefühl nach eine merkwürdig abstrakte Wendung.

Alexander Kluge (A.K.).: Aber wenn Sie Spanien nehmen, dann ist das ein Land, in dem es den Bürgerkrieg gab, die katalonischen Anarchisten, in dem Soldaten, so wie Don José, vor einer Kaserne waren -- „vor der Kaserne, vor einem großen Tor", "das kommt mir spanisch vor"... Das können Sie alles sozusagen bedichten, denn es hat keinen linearen oder diskursiven Sinn. "In einer Kaserne Spaniens" - ich könnte natürlich jetzt jede andere Geschichte auch auf diesen Vers machen. "...lag ein Haufen Stroh", das ist nur ein anderer Aggregatzustand des Wirklichen; ich könnte ja sagen: vor einer Scheune liegt ein Haufen Stroh - das wäre ein trivialer Satz, das würde mich nicht berühren. Aber die "Kaserne" und ein "Haufen Stroh" stehen zunächst einmal in einer rätselhaften Beziehung und die Worte sind einander fremd. Ich könnte behaupten, dass diese Worte so mit großer
Alexander Kluge und Rainer Stollmann, Juni 1999
Unwahrscheinlichkeit öfter zusammentreffen. "Ein Posten wurde davorgestellt." Dass man einen Haufen Stroh bewacht, ist jetzt schon diskursiver, denn es entspricht meiner Erfahrung, wie Apparate, Institutionen, Banken, Postbehörden, aber auch Soldaten funktionieren. Ein Befehl wird gegeben, und dieser Befehl wird vergessen. Der Befehl wurde auch vergessen - wenn Sie es jetzt im übertragenen Sinne nehmen - im Fall von "Roland", der die Nachhut führt oder in "Stalingrad", diese Armee wird eigentlich vergessen, sie verschwindet aus dem Alltagsbewußtsein auch der Befehlenden, sie wird zum liturgischen Ritual: „Diese Armee ist zum Untergang bestimmt, und ihr heroischer Opfertod wird dem Endsieg uns näherbringen." Das ist aber ist Liturgie. In Wirklichkeit ist eigentlich diese Armee, bevor sie unterging im Winter, gelöscht. Das Hündchen Leica ist kein anderes Schicksal, und was mich beschäftigt, ist, dass man eine Expedition aussenden wird, früher oder später, zu den Gebieten jenseits des Mars, und man wird nicht wissen, wie man sie zurückholt, weil auf Erden das Interesse abgewandert ist. Und so ist das Interesse der Vorgesetzen, nachdem der Posten vor dem Haufen Stroh in der Nähe der Kaserne aufgestellt worden war, weggefallen. Aus irgendwelchen Gründen haben die Vorgesetzen keinen Gegenbefehl gegeben. Und das Stroh - wie es in der Natur der Sache ist - vermoderte und sank zu einem Häuflein zusammen. Das ist fast trostlos. Das ist ein Lied.

R.S.: Stroh vermodert gar nicht so schnell

A.K.: Deswegen hat es ja auch sehr lange gedauert: „Und der Posten, nicht abberufen, stand noch monatelang davor." Das ist nichts weiter als ein vergessener Befehl.

R.S.: Ich neige dazu, solche Rätsel zu entschlüsseln.

A.K.: Das können Sie machen, müssen Sie aber nicht.

R.S.: Ein bestimmtes Rätsel darin zu suchen, so ist die Geschichte aber nicht angelegt...

A.K.: Nein.

Wolfgang Müller (W.M.): Würden Sie das als Metapher für den Zustand der Welt sehen?

A.K.: Es sind einfach die Worte, die hier stehen. Und ich würde garantieren, also von mir aus, von meinem Gefühl, dass meine Geschichte vollständig ist. Dass jede Ergänzung, wenigsten von mir, überflüssig wäre und ich damit nur im Wege des Kommentars mit mir selber kommunizieren würde. Das heißt, ich könnte jetzt zum Beispiel schreiben „Variation 1", eine Geschichte, da kommt nicht Spanien vor, nicht die Kaserne, nicht Stroh, nicht modern, nicht Abberufung und monatelang wartet auch keiner. Es würde aber denselben Inhalt haben können. Und auf diese Weise könnte ich jetzt Varianten bauen, aber sie würden dieses Bild, die Figuration, nicht ändern. Und es ist keine Geschichte über etwas ...

A.K.: Wenn Sie ein Schleifer von Linsen sind, dann würden Sie eine Linse schleifen - Sie können auch einen Diamantschleifer nehmen - der schleift Ihnen den zu irgendeiner Figuration. Das tut er, weil er das richtig findet und vollständig. Ich könnte Ihnen die literarischen Ideale, denen das gehorcht, sagen. Aber ich könnte Ihnen nicht sagen, welchen konkreten Sinn in Europa ich damit bezeichnen würde. Denn ich könnte diese Geschichte genauso gut "In einem Polenstädtchen, da kannte ich ein Mädchen", dann würden Sie ebenfalls ergänzen: "die war so schön". Warum Sie das so singen, und nicht anders, das können Sie nicht wirklich ermitteln. Und das besagt auch nichts über Polen. Ob Polenmädchen schöner sind als jugoslawische, das weiß man nicht.

W.M.: Es ist praktisch wie eine mathematische Formel, in die vieles hineinpasst, und der Leser entdeckt dann die Wahrheit, die für diesen Leser dann stimmt. Also es ist auch ein überzeitliches Modell.

A.K: Ja, aber es ist in der Zeit drin. Also, wenn Sie zum Beispiel so etwas Träges haben wie einen Bernstein. Und der überrollt eine Fliege und jetzt ist diese Fliege gefasst. Dann ist dies ein in sich vollständiges Gebilde: eine im Bernstein enthaltene Fliege. Wenn Sie in deren Magen nachgucken, müssten Enzyme darin sein. Und Sie könnten rein theoretisch klonen, und sie kann wieder auferstehen in Form eines Hollywood-Films usw. Das ist bei organischen Ganzen - in der Sprache und in der Natur - immer etwas, was Sie angeben können. Und hier hat mich natürlich gereizt, daß die Geschichte so kurz ist.

R.S.: Jetzt heißt die Geschichte davor: "Das Fräulein von Posa". Da sind wir auch in Spanien. Don Carlos bekommt vom König einen spanischen Posten angeboten. Gibt es da Bezüge?

A.K.: Sicher. Und zwar pure assoziative Bezüge. Denn das ist zeitgleich geschrieben, es steht im selben Heft, wenn Sie so wollen, und Fräulein von Posa -- also der "Marquis von Posa" ist ja etwas, was mich sozusagen als Kind entzückt hat: "...geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!", und noch einmal die Hoffnung vor dem Untergang aller, dass ein reaktionäres Regime Glück bringen möge, dass die Niederlande durch eine Revolution von oben nach unten befreit werden, das hat Stärke. Und eine evangelische Frau ist ja nur der Gegenpol von Katholiken, wenn ich das richtig verstehe, preußischer Adel, junge Gutsherrin, fromm schon, sehr reformgierig, und aus den Niederlanden nach Jülich-Cleve eingewandert, sozusagen ein letzter Rest, "ein letzter Reis von altem Stamm", wie es in einem Roman heißt. Das hat zu tun mit Spanien, aber Spanien ist eben Don José, das ist der Bürgerkrieg von 1936, das ist das "Land der Westbarbaren" bei Heine, das ist heute ein EG-Land von hoher Modernität und sehr radikaler Börsenbewegung. Das liefert uns einen Nato-Generalsekretär, der das Kosovo-Geschehen mit seinem Temperament auch noch zusätzlich überzieht zu dem Temperament von Mrs. Albright, und es ist hier "Marquis von Posa" vor diesem schrecklichen König, der die Niederlande verwüstet. Dies ist alles zeitgleich. Solche Strähnen in kurze oder lange Fassungen zu bringen mit Worten, die dazu passen, das ist eigentlich das, was man tut. Insofern hat die Behandlung mit Worten und Begriffen dann eigentlich mehr mit Musik zu tun als mit Sinn.

W.M.: Vielleicht noch mit abstrakter Malerei?

A.K.: Wenn Sie so wollen. So wie Klee malt, ist das wirklich nicht anders, weil der Ihnen auch sagen wü
Alexander Kluge, Juni 1999
rde: Ob ich ein Flugzeug mit Tarnfarbe bemale oder ob ich die Heimkehr des Odysseus ausdrücke, das werden Sie nicht sofort unterscheiden können. Sie werden aber sicher sein, dass das von mir ist. Der technische Ausdruck dafür ist im Grunde "blind". Texte sind zunächst blind, und sie haben nicht den Zweck eines Vergrößerungsglases, das ist das Wesen diskursiver Texte, nicht literarischer Texte.

R.S.: Und dann macht sich die Germanistik über sie her und will sie sehend machen.

A.K.: Nicht alle. Aber nun ist es ja so, wenn Sie eine Wand angucken oder wenn Sie den engen Ausschnitt einer Gefängniszelle zur Verfügung haben oder aber ein Panoramafenster, wie es der Führer im Berghof hatte, ein extrem großes Fenster, sehen Sie im Grunde auch nicht mehr. Einerseits nicht begrenzter, andererseits nicht mehr. Das geht nicht über die Augen, das geht nicht über den Sinn. Sie bräuchten eigentlich nicht den literarischen Gesang, wenn Sie Sinn vermitteln wollen. Um einen Schriftsatz zu schreiben als Jurist, müssen Sie nicht Literatur anwenden.
Es gibt eine Grundform, auf die eigentlich alles, was ich kenne an Prosa, zurückführt: Das ist in der Provence im 12. Jahrhundert die "chant et fable-Form". Man erzählt sich Geschichten, so wie im Decamerone später, und man singt anschließend ein Lied, das meist auf den Text Bezug nimmt, aber manchmal auch nur auf eine Zeile des Textes oder auf eine Assoziation, die darin steckt: "Die schöne, junge Königin", und dann gibt es ein Lied über die schöne, junge Königin. Dann kommt wieder eine Erzählung, dann kommt wieder ein Lied, dann kommt wieder eine Erzählung, dann kommt wieder ein Lied. Dabei bilden sich Versgruppen heraus, sprich: was später Metaphern sind, Sprichworte, also Wanderreden sind. Das hat sich hier entwickelt, und damit geht seither die Literatur um. "Ich weiß nicht, was soll das bedeuten, dass ich so traurig bin", das können Sie nicht umsetzen und das können Sie nicht in Informationen umwandeln: "Heute zweifelte ich, warum ich traurig bin, ich konnte dies nicht näher erörtern, später fiel es mir ein, ich war traurig, weil.... - außerdem hatte ich Schnupfen". Das können Sie auch machen, damit würden Sie trotzdem den alten Satz umkreisen, und Sie können diesen Satz "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" evozieren.

W.M.: Es gibt übrigens solche Gedichte: "Die sächsische Lorelei". Da kommt das genauso vor.


Ernst Matta

Ernst Matta wollte den Reifezustand eines Fünfzehnjährigen nicht aufgeben, da er mit Recht fürchtete, dass er als „reifes Exemplar" sich keinesfalls mehr gefallen würde.



R.S.: Wie kommen Sie auf Ihre Namen?

A.K.: Das sind meist Schulkameraden aus meiner Klasse: "Pichotta" sitzt zwei Sitze neben mir, "Harald Ruschin" sitzt auch da, "Peickert" ist der Apothekersohn in Halberstadt. Das sind Leute, die ich kenne, und es sind Jungs - oder Mädchen -, die ich gut kenne.

R.S.: Zum Beispiel in der Geschichte: "Was ein Mensch ist", die erste Geschichte aus "Unheimlichkeit der Zeit"...

A.K.: ...nach „Ingenieur Schäfer" ...

R. S.: ...steht der Name einfach so in der Gegend, man weiß nicht, warum der „Schäfer" heißt.

A.K.: Kann ich Ihnen sagen, der wohnt Lazarettstraße 34 in Halberstadt.

R.S.: ...und Ernst Matta?

A.K.: Das ist ein Halberstädter Unternehmer! Das Wesentliche ist, er wollte nicht erwachsen werden, das ist ein Gefühl, das ich ganz stark empfunden habe als Kind. Und als meine Tochter mit drei Jahren sagte, eigentlich möchte sie jetzt nicht älter werden, ist es mir wieder sehr stark aufgefallen. Es gibt sozusagen liebenswerte Menschen, mit einer besonderen Aura, die dann als Erwachsene bis zur Unerkennbarkeit gereift sind.

R.S.: Dieses Buch ist ein Jahr später geschrieben, nachdem die Blechtrommel herausgekommen ist, da ist ja der Matzerath, der auch nicht erwachsen werden will.

A.K.: Nein, und es kann doch sein, dass eine ganze Generation von Vor-68ern diesen Impuls hat. Stellen Sie sich vor, dass man im Krieg eine sehr aufregende Zeit hat. Gehen Sie davon aus, dass man sich - wie in einer Hülle nach außen blickend - im Besitz eines Schutzengels glaubt, diese Bomber, diese Silberfische am Himmel, spannend findet, die Durchbrechung des Alltags für interessant hält, und insofern gar keine Veranlassung hat, Erwachsener zu werden. Man hat aber auch dann keinen Grund erwachsen zu werden, weil das bedeuten würde, ich werde jetzt Pimpf, ich werde Hitlerjunge, ich werde Reichsarbeitsdienstler, ich werde Soldat oder ich werde irgendwie so wie die Alten geworden sind. Und das wollen wir alles gar nicht. Wir fühlen uns wohl unter der Eisernen Lunge nach 1945, unter dem Besatzungsregime. Wir haben die nationale Verantwortung nicht und wollen zu keinem Zeitpunkt erwachsene Menschen werden.

W.M.: Das stimmt wahrscheinlich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt für die gesamte Bundesrepublik.

A.K.: Ich kann es nicht genau sagen, aber für junge Menschen der Generation zwischen 1928 und 1932 scheint es mir zu stimmen. Das heißt, auch der Erwachsene ist nur eine Larve dieses ursprünglich jungen Menschen, als ob die Urzeit zwölf Uhr schlägt, man hat geschielt, und jetzt schielt man weiterhin. Das ist ja so ein abergläubische Geschichte. Wenn man auf diese Weise, auch durch Schrecken, fixiert ist - durch Schrecken, Aufregung, ich kann es nicht psychologisch erklären - aber gesellschaftlich kann ich behaupten und entspricht es der Beobachtung, dass auffällig viele Menschen dann später noch erwachsene Körper hinzuproduzieren, dass sie alles das, was zu einem Beruf gehört, auch noch annehmen und doch in sich wie Sechsjährige leben, die von innen eine Leiter in ihre Augen stellen müssen, um nach außen zu schauen - sie sind klein. Irgendwie so wie bei Rabelais dieses Riesenkind doch immer ein Kind bleibt.

R.S.: Das steht bei Eulenspiegel, der Ausdruck. Eulenspiegel war nicht gern mit Kindern zusammen, weil sie ihm Konkurrenz machten, jedenfalls liest es sich so. Ich bin nicht sicher, ob es so gedeutet werden muss, aber Kinder mochte er nicht, was ja Rückschlüsse zulässt, dass er selber entweder ein Trauma hat, Berührungsangst mit Kindern oder selber ein groteskes Kind ist, so dass es mir scheint, dass dieses Motiv in der deutschen Geschichte doch lang angelegt ist.

A.K.: Es ist im Grunde der Antirealismus des Gefühls, der protestiert gegen die Einzwängung in die Form, die man bei den Erwachsenen beobachten kann, die lächerliche Form der Rolle, so dass der Reichtum, den ein Mensch wirklich darstellt, vorbehalten bleibt… Ich bin der Mensch, sagt das Kind, und insofern ist ein erwachsener Mensch, der in unserem Jahrhundert - da kann ich es ja nur bezeugen - aufwächst, wie eine russische Großmutter gebaut, der Fünfjährige läuft überall hin mit, das ist "omnia mea mecum porto". Das ist nicht etwa Wissen, das sind keine Bücher, sondern das sind meine verschiedenen Altersklassen, die miteinander ringend in verschiedener, kaleidoskopartiger Bewegung zu verschiedenen Tageszeiten, zu verschiedenen Jahrzehnten auftreten. So dass ein Vierzigjähriger mit dem Geiste eines Achtjährigen Ihnen antwortet, eine halbe Stunde später antwortet er als 32jähriger mit der Mentalität eines 80jährigen. Das ist eine sehr interessante Art, Mißverständnisse zu produzieren, wenn zwei Menschen, die einander lieben, in dieser Weise durch die Zeitmaße, durch die Zeitalter ihres Lebenslaufs kaleidoskopierend aufeinander antworten. Es gibt schöne Verständnisse, die dadurch entstehen können, aus Summen von gefühlten Mißverständnissen. Das Begleitgefühl bringt dann eine Stimmung zustande.

R.S.: Können wir jetzt ein paar neue Geschichten hören?

A.K.: Natürlich. - Eine Woche mal an der Theke, mit ein bißchen Alkoholspiegel kriegen Sie das wunderbar mit. Da würden Sie ebenfalls merken, dass Sie die diskursive Ebene nicht halten, denn dieses Changieren, diese Metamorphosen, die anders funktionieren als bei Ovid, die sind im Grunde die Grundform, in der Menschen miteinander verkehren.

W.M.: Gibt es alte und junge Völker? Also Nationen, die kindhaft, kindlich sind, oder ganz alt und andere ganz alt und weise?

A.K.: Marx spricht immer davon, dass die Griechen so eine kindliche Generation seien, wo Jason und seine Gefährten eben als Kinder ausfahren, um ihre Verbrechen zu begehen. Es gibt offenkundig kindliche Reaktionen, die jener Generation anhaften, die Afrika erobert. Lord Cecil Rhodes, der Rhodesien wie ein Landgut an sich nimmt, und dann dort schwärmt, dass man mit den Mitteln der Kolonialverwaltung eigentlich schon Marsflugzeuge bauen könnte oder Marsschiffe. Dann wäre das doch eine viel großzügigere Kolonie als Afrika, und man hätte den Ärger mit den Buren und den Schwarzen nicht. Das meint er ganz ernst, das ist eine kindliche Haltung, eine adoleszente Haltung, das ist auch die von Stanley, der ganz sicher ist, dass, wenn er nur geradeaus geht mit seiner Karawane, er den Livingstone finden wird. Das ist ja immerhin ein recht großer Kontinent, die Wahrscheinlichkeit, sich da zu finden, ist nicht extrem groß. Das sind junge, ich würde nie sagen, Nationen, aber diese Generationsfolge, um Peter Abélard oder den Onkel Barbarossas, Otto von Freising oder überhaupt das 12. Jahrhundert, in dem die Universitäten gegründet werden, das hat diesen kindlichen Omnipotenz-Drang. Dass ich mich nur hinsetzten muss, eine Glocke bestelle, und dann entsteht da rundherum die Wissenschaft. Das werden Sie immer wieder finden. In diesem Sinne können Sie auch die dreißiger Jahre mit ihren Brutalitäten einer Kindergesellschaft zuschreiben. Ich sage jetzt nicht, dass es was Gutes oder was Schlechtes ist. Man gibt Achtjährigen ja keine Autos, man gibt keine Industrieanlagen zu ihrer freien Verfügung zum Spielen, d. h. es ist tatsächlich so, dass es gefährlich ist, diesen jungen, bestialischen Lebewesen, die, wenn sie Jungmenschen sind, eine ganze Reihe von Anpassungen und Hemmungen nicht hätten, denen würde ich nicht Produktionsmittel anvertrauen wollen.

W.M.: Bei den Kindersoldaten in Afrika und auch Asien sieht man das ja ganz deutlich.

A.K.: Die Ottonen sind reine Kinder und erobern Italien. -
Es läuft bei mir kein Bewertungsraster mit. Wenn Sie mit mir politisch diskutieren, würde das mitlaufen, dann würde ich Ihnen auf die Frage, ob ich junge Generationen oder alte empfinde, nicht antworten!

W.M.: Die gleiche Frage interessiert mich im Sinne von Modellen. Ein Modell kann sich für den Leser mit verschiedenen Inhalten füllen, die dieser Leser empfindet und die für ihn wichtig sind. Und Sie geben die Modelle und der Leser erkennt sich wieder und erkennt dann vielleicht auch Parallelitäten anderer Dinge. Sie gehen sehr vorsichtig mit dem Leser um, der Leser sucht sich seine eigenen Erfahrung heraus. Auf der anderen Seite habe ich auch das Gefühl, dass sie didaktisch vorgehen. Und ich frage mich, ob da nicht eine gewisse Spannung herrscht, auf der einen Seite die Höflichkeit, die Zurückhaltung, das Sich-Zurücknehmen in dieser Modellproduktion, auf der anderen Seite aber dieser didaktische Impuls. Also wie Sie auch gerade sagten, keine Werte, aber wenn ich über Politik diskutiere, dann ist das anders.

A.K.: Ja. Wenn man politisch diskutiert, kommen checks und balances hinzu, d. h. zwischen der großen Chance, die im Omnipotenzgefühl und in der Kinderzeit von Menschen, der Menschengattung, enthalten ist, und dem, was Charakter, Beherrschung, Anpassung, Zuspitzung, gelebter Widerstand bedeutet, dazwischen gibt es Balancen. Und wenn Sie sich alles jetzt einmal als Wechselbeziehung vorstellen, also dass es nichts Statisches gibt, dass also eine Geschichte wie "Der spanische Posten" als Einzelstück eigentlich nicht mehr Literatur ist, sondern es steht ja in dem Buch in Beziehung zu anderen Geschichten und zum Leser und alle Bücher zusammen haben dann wieder Wechselwirkung, z. B. zu Medien, aber auch zu den wirklichen Verhältnissen, zu den Zeiten, in denen ich Ruhe hatte, und in denen ich aufgeregt war. Das sind Balance-Anstalten - diese Bücher. Wenn Sie eine solche Balance ausüben, z. B. politisch gesehen zwischen der Jugend eines Volkes - oder einer Generationenfolge, würde ich lieber sagen, oder einer Produktionsweise - und der Fähigkeit zu abstrahieren, der Fähigkeit, Geduld zu horten, der Fähigkeit, das auszuüben, was bei Montaigne meinetwegen in Anknüpfung an die Antike „Weisheit" genannt wird und älter wirkt, besonnen wirkt, das, was wir Besonnenheit nennen, Wiederholbarkeit der Erinnerungen, des Erinnerungsvermögens, das sind eigentliche Gegentugenden, dann kriegen Sie ein balanciertes Verhältnis. Und das wiederholt sich genau, wenn Sie zwischen Sinn und Unsinn in der Literatur diskutieren, also Unsinn ist es ja nicht, sondern inzwischen Blindheit, und Informationen, da können Sie auch nur eine Balance herstellen. Pur blinde Texte sind genauso unsinnig wie pur informierende überflüssig sind. Insofern würde ich auch sagen, ob etwas stimmt oder nicht stimmt, das ist eine sehr intensive Balancearbeit, gewisse Maße müssen authentisch sein, dann können Sie sich dafür gewisse Maße an Erfindungsreichtum kaufen.

R.S.: Bitte, lesen Sie doch einmal aus den Manuskripten „Ein Leninist des Gefühls".

A.K.: Ja, gern. - Dieser Titel, den habe ich bloß so hingeschrieben - finden Sie eigentlich „Leninist des Gefühls" sehr aufdringlich?

R.S.: Das erinnert mich an „Bolschewist des Kapitals".

A.K.: Ja, so ist es auch gemeint, aber es ist ein Unterschied. Denn Lenin ist ja kein Bolschewist, nicht wahr? Und „Gefühl" ist kein „Kapital". Der hier macht etwas anderes - die Gene als Herrscher. Das ist das „ius primae noctis". Hier würde ich jetzt zum Beispiel zögern, auf „Don Giovanni" oder „Figaros Hochzeit" anzuspielen, das wäre Bildungsmüll, obwohl der Großgrundbesitzer das ius primae noctis, das ihm nicht mehr zusteht, dennoch zu erreichen sucht, das ist der Kernpunkt bei Mozart bei beiden Opern. Das hätte der Graf gerne, das versucht über Tricks der Don Giovanni sich ubiquitär zu verschaffen. Das wäre aber leerlaufend, das wäre Wissen. Da können Sie ganz einfach von der Balancekenntnis her sagen, das beliebig oft zu erzählen und zu variieren, das geht. Wäre zwar im Schulunterricht interessant, ich könnte Überraschungswirkungen im Opernführer damit entwickeln, aber es wäre total uninteressant in dieser Geschichte hier, weil die muss blind sein gegenüber ihren Vorfahren. Und das ius primae noctis darf nicht vorgeformt werden, denn wir können die Balance ganz einfach messen: Don Giovanni ist bereits eine sehr unsaftige Form des „Rechtes der ersten Nacht", des Gewaltverhältnisses, er kriegt eine Höllenstrafe und erreicht überhaupt nichts. Er hätte nicht mit einer einzigen beischlafen dürfen während der Zeit der Oper. Dies ist nicht, was über 400, 500 Jahre, als finsteres Mittelalter, über Sklaverei hinausgehend, gemacht wird, wenn der Herr mit seinen Samen sozusagen seine Untergebenen beherrschen darf - wie in der Natur nur die Feuerkrabbe, ein einziges Lebewesen, ein Insekt, das tut.


Ein Leninist des Gefühls

Mario G. aus dem Süden Portugals war in der studentischen Protestbewegung Frankfurts 1967 mitgelaufen. Bei allen wichtigen Sit-ins, abends in den Lokalen, in den Straßenkämpfen, war er dabei. Nachträglich betrachtet, bestand sein Beitrag darin, 26 Genossinnen geschwängert zu haben. Er entzog sich jeder Unterhaltszahlung. Wie es zu diesem subjektivistischen Erfolg kam, was ihn instinktiv, willentlich oder aufgrund einer ungewöhnlichen Charakterdisposition zu diesem ausgreifenden Verhalten brachte, kann nicht mehr festgestellt werden. Er wurde noch vor Ausbruch der portugiesischen Revolution in Portugiesisch-Guinea standrechtlich erschossen. Seine Familie, die ihn zum Studium nach Frankfurt entsandt hatte, war von Adel. Er hatte in gefährlichen Zeiten im Sinne einer evolutionär günstigen Ausbreitung seiner Gene sein Leben inflationiert, 26 persönliche Parallel-Universen, von denen das eine offenbar nichts vom anderen wußte, erzeugt. Hans Dieter Müller bezeichnet ihn in seinen Notizen zum Jahr 1967 als Biobolschewist.

„Wie kann einer es anstellen, zwar nacheinander, aber immerhin 26 Frauen zu verführen? Und zwar so intensiv, dass es zu Geburten kommt, und dies zeitlich so zu staffeln, dass er die einzelnen Frauen in der Zwischenzeit verlassen kann und zugunsten einer anderen, in einer Gruppierung, die sich untereinander kennt. Das ist ja nicht abstrakt eine Stadt, sondern die Welt der Genossen."

„Er lief immer mit, er war immer da."

„Und schlägt zu?"

„Es ist eine Zeit der Aufgeregtheit, Subjektivität ist freigesetzt."

„Eine muss doch aber merken, dass er jetzt bei der anderen ist?"

„Eine war aus Darmstadt, eine andere arbeitete in einer Gruppe bei Opel."

„Aber die übrigen 24?"

„Nicht alle zur gleichen Zeit. Die Tathergänge verteilen sich auf drei Jahre."

„Nun ja, sechsmal sich trennen in dieser Zeit, sechsmal neu anfangen, das ist schon auffällig. Jetzt sind es immer noch 18 und eine Schwangerschaft dauert 9 Monate."

„Ein Zerstörer im gewissen Sinn, ein Herzensblutsäufer."

„Oder arbeitete etwas in den Genossinnen ihm zu?"

„In dem Manuskript von H. D. Müller hier heißt es, ein seltsamer Fall von Konterrevolution. Für die Genossinnen sei die Schwangerschaft eine Lähmung des revolutionären Prozesses gewesen, eine Art von Thermidor."

„Redensarten! Das schwierigste, stell ich mir vor, sind die Abschiede. Wie trenne ich mich, nachdem ein Kind die Beziehung besiegelte? Es gehört ein gewisses Genie dazu, nicht etwa die Genossinnen zu verführen, sondern sich von ihnen wieder zu trennen."

„Die ich fragte, antworteten darauf, sie hätten sich nie getrennt.
Er war immer im Aufbruch zu fernen Plätzen des politischen Kampfes."

„Und dann kurz wieder zurück in Frankfurt?"

„Zu Besuch?"

„Nie in Begleitung? Die Frauen sahen einander nie?"

„Nein. Er hielt alles streng auseinander. Strikt nur intime Kontakte. Sobald die Tür zu ist, fällt er über sie her."

„Es gab keine Kader, die innerhalb des politischen Protests einen Ordnungsdienst oder eine Geheimpolizei zur Abwehr konterrevolutionärer Anschläge betrieben? Vigilanten? Beobachter?"

„Nur mit Blick auf den Klassengegner. Krahl wurde eine zeitlang beschützt."

„Die Lederjacken-Fraktion? Übte sie eine Art Kontrolle aus?"

„Sie überwachte die Genossen, aber auf das hin, was sie lesen, nicht was sie tun. Bücherregale wurden visitiert, Wohnungen werden visitiert, Bücher werden vernichtet, Kleidungsstücke..."

„Und sonst?"

„Man versuchte, agents provocateurs herauszufinden. Es finden aggressive Befragungen statt. Es wird aber niemand verdroschen oder sonst geschädigt. Es wird bekannt gemacht, dass der eine oder andere nicht zuverlässig ist."

„Es war keine richtige Revolution. Insofern auch keine Organisation gegen konterrevolutionäre Umtriebe?"

„Es hatte die Bezeichnung Protest. Es war Selbstverteidigung, Befreiung der subjektiven Seite, die sich objektive Ziele, z. B. Vietnam, Justizkampagnen, nahm, um das befreite Gefühl beweisbar durchzusetzen."

„Aber hier steht, in H. D. Müllers Notizen, 'Gefühlsbolschewist‘ und ein 'Leninist des Gefühls‘."

„Bezogen auf Mario G.?"

„Es bezieht sich auf die Theorie der subjektiven Zuspitzung. Müller wundert sich über die Reserve, die in den gestauten subjektiven Welten steckt. Eine 'Jahrhundertreserve‘, sagt er."

„Und die hat Mario angezapft?"

„Alle sagen, in den nächsten fünf Jahren Kampf, wir haben keine Zeit für Liebe, Kinder oder Privatheit, keine Zeit für Karrieren oder Studium. Danach auf erhöhtem Niveau der gleiche Kalvinismus ohne Geld, die nächste Generation soll leben. In der subjektiven Revolution folgen die Generationen einander nicht im Rhythmus von 30 Jahren, sondern von drei oder fünf Jahren. Und in die Lücke, die diese Raschheit eröffnet, stößt der junge, portugiesische Adlige.

„Jus primae noctis?"

„Unter dieser Bezeichnung hätte keine Genossin das mitgemacht."

„Wir reden schon ganz objektivistisch darüber, weil uns das subjektivistische des Ansatzes verblüfft. Jede der 26 Genossinnen wird es verschieden erlebt haben."

„Gut, dass wir den Fehler rechtzeitig bemerken."

„Das ist auch ein Fehler in dem Manuskript von Hans Dieter Müller."

„Und deswegen hat K. D. Wolf es nicht gedruckt."

„Man muss den Roman darüber erst schreiben. Aber ein Weg sich zu entfalten im Sinne der Vorväter, ist es schon. Vor dem sicheren Tod hat sich der junge Revolutionär aus altem Adelshaus mit allen verfügbaren Genen ausgebreitet."

„Als hätten die nur ihm so etwas befohlen."

„Es erinnert an 'Lebensborn‘."

„Findest du wirklich?"

„Vielleicht nicht."

„Merkst du, dass wir keine klare Linie dazu haben?"

„Es ist eine politisch unbewachte Sphäre. Und unbedacht. Keiner der Klassiker schreibt darüber."

„Was ist aus den Kindern geworden?"

„Alle irgendwie verteilt. In Ehen eingebracht, allein erzogen, zwei Frauen ziehen ein Kind auf. Soweit ich weiß, ist aus allen etwas geworden."

„Jetzt zwischen 23 und 26 Jahre alt?"

„Adliges Blut. Zur Hälfte. Kein Unterhalt."


R.S.: Gab es damals in Frankfurt wirklich Wohnungsinspektionen?

A.K.: Sicher, sicher. 100prozentig.

R.S.: Die haben selber ein Stück Stalinismus entwickelt? Kann man das sagen?

A.K.: Na, und wie! Die Lederjacken-Fraktion, die war berühmt dafür. Dann wurden die Regale einfach umgeschmissen und nur dir Bücher kommen da rein, die sich auf Mao beziehen. Eine ganze bürgerliche Kulturrevolution.

R.S.: Ich war immer am Rande des Geschehens.

A.K.: Ja, ich bin ja auch nur Beobachter.

R.S.: Haben Sie wirklich Unterlagen von H. D. Müller?

A.K.: Sicher, ja. Aber das hat der nicht geschrieben...

R.S.: ...das ist jetzt unser Bremer Müller?

A.K.: Natürlich. Das ist mein Freund. Das war mein Lektor. Mit dem haben wir ja diese Filme gemacht.

Ein Leitfaden, wie man glücklich wird.

Bis dahin war alles so gegangen, wie sie es hätte vorhersagen können. Sie war aus einem Gehöft bei Oschersleben angereist, als Mitbringsel ihre abgebrochene Ausbildung, eine geheimdienstlich geschulte patriotische Kämpferin der DDR. Als Ort der Begegnung mit dem Westen hatte sie das Palace-Hotel in St. Moritz gewählt. Für vier Nächte reichte die Reisekasse.
In der Nacht zum dritten Aufenthaltstag hielt sie einen jungen, unausgeglichenen Selfmade-Mann an der Hand. Das ist nicht ganz korrekt. Sie karessierte ihm die Achselhöhlen, Schultern, Hoden, Füsse, so wie sie es in den Aufbaukursen auf der Hochschule des MfS gelernt hatte. Nach einigen Tagen sah sie, dass sie ihn gewonnen hatte. Am vierten Tag schon, sie war in sein Appartement eingezogen, da sie ihres nicht mehr hatte bezahlen können, einem Montag, kaufte er ihr bei Armani, direkt gegenüber dem Palace einen Pelzmantel, dessen Haube ihr Gesicht nunmehr umrahmt hielt, während das voluminöse Ding um ihren schlanken Leib schlabberte. Ich sehe aus, sagte sie sich, wie aus einem edlen Gestüt, ja, wie ein aufgezäumtes Pferd.
Er selbst, ein oft mürrisch blickender, unsicherer Junge, kaufte sich eine schwarzplissierte Lederjacke zur holzfaserreichen Hose, die in den dünnen Arsch kniff. Sie stellten sich gemeinsam vor dem Spiegel auf.

Was jetzt weiter? Es war im Jahr 1990. Sie hatte noch den DDR-Pass und zusätzlich einen gefälschten belgischen Pass aus den Beständen des Dienstes. Ihre Liebeskarriere reichte bis zu dem Punkt, an dem sie einen Paß vorzeigen mußte, sie brauchte eine Vita.

Sie wollte ihr Glück machen. Jetzt schleppte sie wie einen Koffer den reichen Jungen mit sich herum. Über seine Geschäfte, über die er gerne Auffassungen ausgetauscht hätte, konnte sie nicht mitreden. Es ist erstaunlich, wie wenig kommunikativ körperliche Beziehungen und der erste Ansturm der Faszinationen sein können. Sie langweilte sich, während er in seiner Art vor sich hintrauerte.

Sie fuhr nach Zürich, ließ sich dort über ältere Kontakte einen Pass fabrizieren, mit einem dazu angedeuteten Lebenslauf samt Urkunden. Dann aber zeigte sie diesen Pass nirgends vor, weil sie zögerte, sich von ihrem wirklichen Lebenslauf zu trennen. Zweimal hatte sie, zuletzt für den Pass, ihrem Jungen Geld aus dem Jackett genommen. Sie hatte anfangs die Legende eingeführt, sie stamme aus einem Hause, das nicht ohne Einkommen sei. Die unbedarfte Improvisation behinderte sie sehr. Eine Legende, die diesen Widerspruch vermied, hätte wiederum ihren Aufenthalt im Palace-Hotel unplausibel gemacht. Wie man es macht, ist es falsch, sagte sie sich. Sie machte aber jetzt keine Fehler mehr, in der Aufzucht der jungen Liebespflanze, die den Selfmademan neben ihr hielt, und auch in ihr eine Energieflamme des Eifers instand hielt, mit der sie diese hoffnungsvolle Affäre pflegte. Was fehlte, war ein geistiges Band. Sie versuchte ihm vorzulesen. Sie wollte von ihm lernen, was seine geschäftlichen Aktivitäten ausmachten. Darüber redet er freiherzig. Sie kaufte ein Vademekum für Männer, las heimlich. So füllte sie die Zeiträume zwischen den Kohabitationen.
Man konnte in diesem Grand-Hotel nirgends lesen. Beim Essen nicht, wenn sie mit ihm im Foyer oder in einer Bar saß, auch nicht. Nachts nicht, weil er beim Schlafen kein Licht vertrug. Während der Berührungen ohnehin nicht. Wie nach einer Zigarette gierte die lesewütige Mitteldeutsche nach einem Buch. Allenfalls auf einer der Toiletten des Hotels, keineswegs aber im Bad des Appartementes konnte sie auf kurze Zeit etwas Lesbares zücken.

Sie überlegte, ob sie sich dem Jungen offenbaren sollte. Weitgehend meinte sie, ihn im Griff zu haben. Inzwischen näherte sich jener Oktobertag, zu dem sie Bundesbürgerin wurde. Sie wartete also, ließ alles im Unbestimmten.
Er flog nach Venezuela wegen eines dringenden Geschäftskontaktes, sie hielt die Stellung im Palace. Bei der Rückkehr holte sie ihn in Zürich ab, da sie auch seinen Wagen verwaltete. Er schenkte ihr einen Klunker. War das das Glück, das sie sich erhofft hatte? Ein Glück, für das mächtige Funktionäre ihre Laufbahn riskierten? Sie haderte einige Tage lang, fühlte sich schwach. Dann fuhr sie ohne Erläuterungen und Abschiedsgruß über Chur, Lindau, München, Hannover, Magdeburg nach Oschersleben zurück. Der große Junge in St. Moritz kannte weder ihre Identität, noch ihre Adresse.

R.S.: Da spielt jetzt das Lesen eine Rolle in der Geschichte. An einer bestimmten Stelle verlangt

es sie offenbar nach dem Buch, was sie in dieser Situation nicht kann. Da ist ein Stück Ostdeutschland...

A.K.: Etwas, das es wirklich gibt. Und der Lesehunger, slawischer Lesehunger, ist eine Realität. Ich glaube nicht, dass es Glück gibt, ohne eine ganze Kette von symbolischen Zwischenstationen. Ich kann das sehr gut verstehen, dass sie, so direkt konfrontiert mit einem besseren Leben, mit einem Schatzfund, das ist ja so etwas wie ein Schatz, das sie da auffindet, dass sie das plötzlich individuell urbar machen kann. Vorher hätte sie ja für den Dienst keine Probleme gehabt, diesem Mann Geschäftsgeheimnisse, Industriegeheimnisse zu entlocken. Es wäre eine Aufgabe gewesen - alles was sie tut, hat einen Sinn. Jetzt muss der Sinn des Streichelns, des Wartens, der Verwaltung des Wagens, des Tragens von Klunkern, Geschmeiden oder Armani-Mänteln einen Selbstzweck haben. Und das ist doch sehr schwer herzustellen. Da brauche ich einen Anker, da brauche ich frühere Schätze, wie sie in Büchern stehen. Wenn ich das einen Moment könnte, quasi die Menge an Zielen, die die Menschheit so im Laufe der Zeit in Romanform, in Form von Sachbüchern, gewissermaßen von Lehrbüchern der Liebe zustandegebracht hat, dann könnte ich mich vielleicht ja auch einklinken und mir mein neues Leben erfinden. Und so ist es eigentlich mein alter, bisheriger Lebenslauf, so armselig er gewesen sein mag in Oschersleben, und so perspektivlos die Ausbildung wird, wenn jetzt der patriotische Späherdienst nicht mehr gebraucht wird, das ist noch interessanter und vielfältiger, als was das Palace-Hotel in St. Moritz zu bieten hat. - Übrigens eins der teuersten Hotels der Welt.

R.S.: Sie hätte ja auch in einen anderen Geheimdienst gehen können. Mit der Qualifikation, die werden ja nach wie vor gebraucht.

A.K.: Muß man auf die Idee kommen, und wäre eine interessante Geschichte, die ich Ihnen erzählen könnte. Ich muß aber sagen, ich weiss einfach, obwohl ich Jurist bin und mit solchen Fällen in Berührung gekommen bin, dass sie gar keine Chance hätte. Ein anderer Dienst besteht aus Konkurrenten, so wie eine öffentlich-rechtliche Anstalt aus Redakteuren besteht, die ja gar kein Interesse haben, dass da so furchtbar viel Neue kommen, die sich die selbe Sendezeit teilen müssen. Und so ist jeder Dienst voll besetzt. Und am wenigsten brauchen sie den Nachwuchs, der nach einem viel besseren, aber falschen Konzept ausgebildet ist. Da würde ich mir ja sozusagen meine Konkurrenz in den Pelz setzen, meine Nachfolgerin würde ich mir in den Pelz setzen.

W.M.: Für mich ist das eine modellhafte Situation über die Ost-West-Geschichte, anhand eben dieser Person. Aber denkbar wären ja andere Frauen, die ihr Buch nie verloren haben oder nie verlieren, auch im Westen. Aber ich glaube schon, dass das unsere Geschichte ist, nach dem Fall der Mauer.

A.K.: "Sie zögert, ihren Lebenslauf aufzugeben." Das ist eigentlich der Kernsatz. Die Lebensläufe von 1945, die mich interessiert haben, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein ganz bestimmter Bruch den Lebenslauf umlenkt, zerbricht und neulenkt. Dies ist hier, bei den Lebensläufen der Wendezeit, anders. Die werden nicht wirklich zerbrochen, und sie gehen auch nicht wirklich weiter.

W.M.: Ist das ein anderer Außenposten als der "spanische Posten", der auf einmal auf sich gestellt ist?

A.K.: Ja, aber das ist ein Posten, der die Mitteilung bekommen hat, er wird nicht mehr gebraucht. Vor einem Strohhaufen, der verfault ist, aber auch nicht gebraucht wird, und bei dem zweifelhaft ist, ob es sich um Stroh handelt. Und das ganze vor einem Kasernen-Gelände, das von der Westgruppe der GUS verlassen wurde. Da ist nicht mal mehr ein Hausmeister da. Und diese Änderung, das ich auf der einen Seite jetzt Besitz nehmen könnte, ich bin Besitzer einer ganzen freien, öden Fläche, ich bin der Besitzer von fast nichts, das gibt Freiheit und gibt Einengung...

W.M.: ...und Angst wahrscheinlich ...

A.K.: ... und Lust, Angstlust. Eigentlich ist der Mensch wie Hans im Glück zwischen den Gesellschaften. Hans im Glück ist kein Bauer mehr, und er ist auch bestimmt kein Städter.

W.M.: Aber sie nimmt die Herausforderung nicht an.

A.K.: Insofern schon, als sie ganz eindeutig entscheidet: dies will ich nicht. Der Mann hier, dieser Koffer, die Last des Gewinns, mein Zugewinn, mein Schatz, ist mir zu schwierig. Das wollte ich nicht.

W.M.: Aber die Alternative sind ja die alten Bücher.

K.: Die alten Bücher, ihre Heimatstadt Oschersleben und der Neuanfang, den sie sich verlängert, d. h. sie hat noch einmal ganz offene Horizonte und wird, wie ich vermute, mit ihrer Grundausstattung, also der geheimdienstlichen Fähigkeit, Geheimnisse zu erobern, und dann kann man auch die Geheimnisse des Lebens erobern. Und Glück haben.

R.S.: Ist jetzt so eine Figur, die nicht so häufig vorkommt, nur ein Extrembeispiel für den Rest an DDR-Mentalität?

A.K.: Also nun würde ich ja immer Geschichten erzählen von einzelnen Menschen, also die Einzelheit ist mein Gegenstand, während ich ja keine Regeln aufstelle. Aber nehmen Sie doch mal an, die Geschichte "Der Sohn des Blitzmädels". Das ist eine Fernsehsendung, die ich jetzt gerade fertiggestellt habe. Eine Frau wird Wehrmachtshelferin, Funkerin, wird im Jahr 1944 überrollt durch eine sowjetische Armeegruppe, und um einem befürchteten Schicksal zu entgehen als Frau, unterwirft sie sich einem der Starken, einem Oberst aus Tschetschenien, von dem sie auch ein Kind bekommt. Jetzt hütet sie dieses Kind unter den Bedingungen der Sowjetunion, zieht es auf, macht es tüchtig, und über Nordnorwegen wird dieses Kind hinausgeschmuggelt bis in die USA, ausgestattet mit regelmäßigen Sendungen, damit aus diesem Jungen etwas wird und etwas kommt, um sie entweder zu holen oder vielleicht, sozusagen, im nächsten Blitzkrieg alles zu rächen. Und so lebt sie in Odessa, am Fenster, es regnet - "ich steh' am Fenster und denke an dich". Der Mann ist ein Tunichtgut, dieser Sohn, verspielt alles bei Pferderennen, gehört einer Fußballgruppe an, ist dafür aber auch inzwischen zu alt geworden, denkt gar nicht daran, seine Mutter nachzuholen. Dies ist etwa der Sohn des Blitzmädels. Das ist über eine lange Zeitstrecke, eine Nachfolge von etwas, was angerichtet wird im Krieg. An sich besteht alles in der Welt aus solchen in die Länge gezogenen
Alexander Kluge, Juni 1999
Sehnsüchten, aus Botschaftern, die die Botschaften der Mutter in die Welt tragen, und ihr Glück machen sollen, d. h. ich glaube, dass es sehr viele Frauen gibt, und deren Söhne, und sehr viele Frustrierte, die alle einen Grund haben, ihr Glück zu machen, und zwar von Ost nach West. Man könnte eigentlich mit der gleichen Energie Sibirien in ein Wildost verwandeln, ein Goldrush-Land daraus machen, geschieht aber nicht. Die Bewegung geht nicht nach Osten. Sie geht offenkundig in die Glückszonen des Westens, die wiederum für das Lebensgefühl dieser Menschen unattraktiv sind. Aber ob ich jetzt ein Bordell eröffne und da alles aufsöge, was an erotischem Verstand aus diesen weißen Ostgebieten - und an Bereitwilligkeit wegen der kontinentalen Isoliertheit vorher - da zusammenkommt, das hat den Wert von 60 Mal Schanghai, den Wert von vielen Seestädten, als Motiv. Anders gesagt: So wie Berlin entstand aus lauter Ostzuwanderern, so wie Wien aus Galizien, aus der Ukraine sich mit seiner Begabungsreserve nährte, so wie heute noch aus Galizien das ganze Taxigewerbe in New York bestückt ist, so gibt es eine tiefsitzende Emotion in den Menschen: Ich will mein Glück machen. Der Leitfaden zum Glück besteht darin, dass ich unterscheiden kann, wenn ich dieses, was mir als Glück angeboten wird, gar nicht haben will. Ich muss dann woanders hingreifen. Ich sage Ihnen, es ist sehr viel leichter das Motiv der Glückssuche zu erzeugen, und eine ungeheure, quasi religiöse Intensität und Kraft darauf zu wenden, als tatsächlich zu bezeichnen, was einen Menschen glücklich macht. Finden würden Sie es mit Sicherheit, sich aneignen würden Sie es mit Sicherheit, aber worin es bestehen könnte, wenn nicht in dem, was ich zu Hause hatte, das weiß man nicht genau. Das ist nicht wirklich grundlegend verschieden vom Trojanischen Krieg. Die ziehen aus und finden eigentlich zu Hause, das was sie verlassen haben vor 20 Jahren, so viel schöner als eine Beute, die ja inzwischen vom Meer verschlungen ist. Das hat nicht notwendig was zu tun mit Ost-West, aber mit gesellschaftlichen Veränderungen, mit Geschichtsentzug, mit solchen Veränderungen und einer solchen Horizontfassade, wie sie der Westen aufmachen kann mitsamt seinen Filmen, mitsamt den pulsierenden Wellenbewegungen der Börse. Da sind so viele abstrakte Zeichen, die die Glückssuche beeinflussen, aufgestellt an den Horizonten, relativ unerreichbar, relativ chimärisch. - Ich will nur sagen, es ist nicht so entlegen. Die normale Geschichte der Glückssuche führt die junge Frau in ein deutsches Kreiskrankenhaus und sie wird die Geliebte des Assistenzarztes, der doch nicht Oberarzt wird und sich aber auch nicht scheiden lässt. Das macht sie eine Zeit lang, und dann wird ihr das zu dumm, und sie geht von Hofgeismar etwas weiter bis Hannover. So wäre die etwas durchschnittlichere Geschichte. - Man könnte natürlich die Geschichte auch wirklich erzählen: Eine Zwölfjährige aus Odessa, die Bücher gelesen hat und deren Mutter ihr schon immer viel erzählt hat, die geht bis Paris. Das wäre eine Violetta; mit 16 verdreht die wichtigen Männern die Köpfe.

In den Tiefkellern der Museen am Spreeufer

Durch die großzügigen Fenster des Palasthotels Radisson hat der Frühstückende auf den Palast der Republik noch den gleichen Blick wie 1989 ein Delegationsmitglied eines exotischen Landes hatte, als handeltreibendes Pendant, als belohnter Gast der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Für den planenden Architekten sind diese Geländer am Spreeufer bereits vollständig abgerissen und durch Neubauten überwölbt. Insofern ist das, was das Auge sieht, nichts Wirkliches: Die Sessel, in denen Gäste ruhen, die Brote, die gefrühstückt werden, sind verwandelt durch das, was geschehen wird.

In den Tiefkellern der Museen am anderen Spreeufer, die noch aus der Zeit preußischer Könige hinüberragen, sind jetzt Büros von Forschern gefunden worden. Die Planstellen dieser Kellerinsassen wurden zu Beginn des Feldzuges, mit dem Griechenland 1941 erobert wurde, errichtet. Sie überdauerten, unbemerkt von den politischen Spitzen, die 40 Jahre DDR und sind jetzt anläßlich der Umgrabung des Spreebogens neu bemerkt worden. Die Grabung führt unmittelbar in die Antike.

A.K.: Da kommen noch viele Geschichten über den Osten. Im Grunde: Lebensläufe. Die alten sind von 1945, und hier geht's generell darum, wie würde ein Lebenslauf sich umformen. Meine Meinung ist, dass die Charaktere der Lebensläufe und die Gefühle, die an den Lebensläufen hängen, eher zu den Objekten hin abwandern, so wie schon im "Film ohne Titel", das war ein Auto, ein PKW, ein Opel, der durch den ganzen Rußlandfeldzug durchfährt und ganz verschiedene Besatzer hat, die darin fahren, die Menschen kommen alle um, das Auto kommt, von Neubau bis Schrotthaufen einmal durch sein Leben durch. Und so sind es immer stärker die von Menschen gemachten Dinge, die haben Lebensläufe, die man auch empfinden kann. Und was in den Lebensläufen lebt, das wechselt so bruchstückhaft, und darin ist, wo einer wohnt, so wenig er zu Hause. Oder er geht völlig weg, bleibt aber da, wo er ist. Ich ziehe meine Seele wie einen Bernhardiner hinter mir her. Das ist aber Nähe-Verhältnis. Es kann auch sein, dass ich nur mit einem Teil meines Ichs an dem Ort bin, wo ich wohne, lebe, meine Stunden verbringe, und mein wesentlicher Teil ist an einem ganz anderen Ort. Und das kann ich wissen, oder nicht wissen. Es wird mich aber beeinflussen.



Heidegger rechnet 1934 mit seiner Berufung zum Leiter der Führerlehrbegleitstaffel. Aus allen Gauen, den deutschen Provinzstädten, eilten die deutschen Philosophen im Sommer 1934 nach Leipzig zum deutschen Philosophentag. In Berlin bestieg der Führer den Sonderzug, der ihn nach Berchtesgaden bringen sollte. Auf dem Hauptbahnhof Leipzig wurde die Lokomotive des Führerzuges üblicherweise gewechselt. Ein Treffen Hitlers mit Martin Heidegger war von Schmundt, dem Wehrmachtsadjutanten, in Aussicht genommen. Eine Verkettung kleinster Ursachen verkürzte den Aufenthalt Hitlers in Leipzig und verhinderte die Begegnung, von der sich Eingeweihte eine Verstärkung der Kräfte versprochen hätten, die für eine zweite nationalsozialistische Revolution notwendig waren. So wurde die einzige und letzte Chance im Abendland, dass Philosophie in einen unmittelbaren Vortrags- und Besorgungsraum zur Macht im Reiche tritt, vertan.

Neue Zürcher Zeitung: Was soll Führerlehrbegleitstaffel heißen? Einen solchen Stab gibt es doch nicht.

Parteigenosse Richter: Er mußte eingerichtet werden.

NZZ: Wusste Hitler von seinem Glück? Hat einen solchen Stab angefordert?

Pg. Richter: Er hatte gesagt, er wolle immer erneut lernen. Das hatte er öffentlich und im engeren Kreis gesagt.

NZZ: Jetzt sollte er einen Lehrer erhalten....

Pg. Richter: Nicht unter dieser Bezeichnung. Der Führer ist kein Schüler.

NZZ: Ein philosophischen Begleiter?

Pg. Richter: Es ging weniger um Philosophie, es ging um Denken.

NZZ: Konnte Hitler nicht denken?

Pg. Richter: Jeder Mensch kann denken, wenn er nicht Angst davor hat.

NZZ: Man sagt, der Führer sei abergläubisch?

Pg. Richter: Vielleicht, das gehört zum Denken. Ein Mitarbeiter für die geistige Nahrung, sozusagen, darum geht es.

NZZ: Wie ein Chefkoch.

Pg. Richter: Ähnlich.

NZZ: Woran scheiterte es?

Pg. Richter: Die Lokomotive wurde nicht in Leipzig Hauptbahnhof, sondern in Wrietzen bei Leipzig bereitgestellt. So kam es nur zu einem kurzen Aufenthalt in Leipzig.

NZZ: Immer unterstellt, dass der Führer überhaupt die Absicht hatte, eine Führerlehrbegleitstaffel zu installieren.

Pg. Richter: Das unterstellt.

NZZ: Einen Stab von Prinzenerziehern?

Pg. Richter: Mächtige hielten sich so etwas von je her.

NZZ: Wie hätte Heidegger mit dem Führer reden können? In der Sprache seiner Veröffentlichungen oder in der Führersprache?

Pg. Richter: Gewiss nicht in der Ausdrucksweise, wie sie die Schriften Heideggers charakterisiert. Der Führer hat wenig Zeit. Er neigt auch nicht dazu zuzuhören. Eine Führerlehrbegleitstaffel ist nicht permanent in Hitlers Umfeld anwesend. Der Führerbegleitarzt, das ist eine Behörde in Berlin, die Führerbegleitstaffel ist das Sicherungsregiment Großdeutschland, das jeweils bei Ausfahrten einen Personenschutz stellt. Insofern geht es um eine Stabsstelle, die das Element des Denkerischen und Dichterischen im Reich im Auge behält, dem Führer unmittelbar berichtet und Weisungen des Führers, die sich auf das Denkerische beziehen, weitergibt. Dagegen geht es nicht darum, ihn zu unterrichten, ihn zu belehren oder zum Beispiel ihm Ratschläge für seine Lektüre zu geben. Die Stabsstelle wäre der Präses der deutschen Fakultäten des Bereichs nationalsozialistischer Forschung und Lehre. Faktisch hatte Heidegger nach Auffassung vieler zu diesem Zeitpunkt eine solche Stellung, bis zu Niederschlagung des Keims der zweiten nationalsozialistischen Revolution Ende 1934, also kurz nach dem fehlgeschlagenen Treffen auf Leipzig Hauptbahnhof.

NZZ: Führerlehrbegleitstaffel ist also ein Titel?

Pg. Richter: Und ein Zeichen. Auch eine Gelegenheit für Gespräche und Begegnungen.

NZZ: Bereitete sich Heidegger darauf vor?

Pg. Richter: Gewiss.

NZZ: Womit?

Pg. Richter: Eigentlich nur mit Fragen. Gut vorbereitete, einstimmende Fragen, die zeigen, dass der Führer Vertrauen in eine solche, ihm vielleicht zunächst unvertraut scheinende Einführung in die geheimen Verschränkungen des Jahrhunderts setzen könne. Eine philosophische Anleitung, nicht fachphilosophisch, etwas Schelling, Leibniz, Nietzsche, jeweils ohne Namensnennung.

NZZ: Womit sollte die Dienststelle bezahlt werden?

Pg. Richter: Aus den Zuschlägen für Sondermarken der Reichspost. Die Marken des braunen Bandes von Riehm hatten zum Beispiel 142 Pfennig Zuschlag pro Marke zusätzlich zum Nennwert von 44 Pfennig, das ist bei den hohen Auflagen eine schöne Summe.

NZZ: Wie empfand Heidegger, dass nichts geschah?

Pg. Richter: Als Katastrophe. Nach dem 30. Juni war er ohnehin persona non grata. Jeder nationalsozialistische Nachwuchsautor durfte an ihm üben. Man fiel über ihn her.

NZZ: Aber einen historischen Augenblick lang war es mehr als eine Idee, dem Führer einen Meister zu attachieren.

Pg. Richter: Ja, einen selbstbewussten Denkmeister.

NZZ: Gar nicht auszudenken, was das hätte werden können.

Pg. Richter: Soweit Denken reicht. Sokrates kämpfte als Soldat in Marathon. Plato lehrte vor dem Tyrannen Dionysos in Syrakus. Aristoteles‘ Gehilfen folgten den Armee Alexanders im Range von Stabsoffizieren, vermaßen den Erdkreis. Kleist reiste mit Schwester zu Pferde nach Boulogne, wo sich die Armee Napoleons zum Übersetzen nach England vorbereitete, um diese Kämpfer mit den Elementen der Kantschen Philosophie zu versorgen. Der Kriegselan der Revolution und die Begriffsmacht aus Königsberg, sozusagen das zur Ausübung nötige Gesetz - was für eine unüberwindliche Präsenz! Wie unabweisbar ist Bildungshunger für den Mächtigen. Es gibt kein Beispiel, dass sich eine Macht ohne Selbstvergewisserung je längere Zeit an der Macht hält. (Montaigne) Es ist das Unglück Hitlers, dass die Begegnung mit Heidegger wegen einer technischen Umdisposition, veranlaßt durch Reichsbahnräte, die von den Notwendigkeiten der Macht nichts wussten, nicht zustande kam.

NZZ: Weiß man denn, ob Hitler überhaupt einem Führerbegleitlehrer zugehört hätte?

Pg. Richter: Das kann man nicht wissen. Technikern, Ingenieuren hörte er zu. Auch Fernreisenden.

NZZ: Nichts kommt ferner her als ein Bericht aus der Welt der Gedanken. Das „entbergende Bergen".

PG Richter: Das hätte die Chance sein können.

R.S.: Unglaublich!

A.K.: Es ist fast wahr. Es ist ganz dicht an der Wahrheit vorbei. Die hatten es tatsächlich vor, von dem Schmundt diese Verabredung gibt's. Ich hab' das nur ausgemalt. Müssen Sie mal lesen, "Heidegger auf der Krim". Das ist schön. Da geht das weiter. Die vier Kapitel sind unterirdisch verbunden, immer dasselbe. - Das heißt, also, was da an Themen drin ist, also Maciste, die Perser, damit ich die Erlaubnis habe, beim zweiten Kapitel das als selbstverständlich weiterzuführen. Oder meinetwegen bei Tiberius habe ich dann etwas später die Genehmigung, mit dem Müller mich drüber weiter zu unterhalten. Und dann kommt der Tiberius wieder usw. Dadurch kann ich ein ganz klein bißchen eine Vernetzung bauen. Also auch die "Tunnel unter Spree" dienen ja nur dazu, dass ich da auch etwas finde, dass da was verscharrt ist. Mit der Tendenz, wenn ich da richtig durchtauche, komme ich bei den Gegenfüsslern an.

Also das ist Heidegger. Der hatte das vor, nach seiner Rektoratsrede. Und weinte ...

A.K. Ich sage Ihnen eins, ich glaube, dass der Hitler nicht 20 Minuten dem zugehört hätte, der hätte höflich das auch wieder beendet. Der Hitler hätte geredet, und der Heidegger wäre nicht zu Worte gekommen, und dann hätten sie Suppe gegessen. Da kann ich mir viel zu vorstellen. Umgekehrt muss ich Ihnen sagen, wenn ein Attentat auf Hitler, sagen wir mal 1936, ihn beseitigt hätte, hätten wir einen Mythos im Nacken, und wir hätten kein Auschwitz. Das würde die Stimmungen, was man für weiterführend hält, gewaltig geändert haben. Die alten Männer wie Adenauer, Churchill, Chamberlaine, die alte Welt, hätte nicht gegolten. Was in einer zweiten Revolution mit Ohlendorf, Heidegger, Best oder so, also der zweiten Akademiker-Generation, den Jungnationalsozialisten, unter Nationalsozialismus zu verstehen wäre, das weiß man nicht. Auf jeden Fall ist es nicht antidemokratisch, es ist auf jeden Fall überhaupt nicht liberal. Es ist nicht angelsächsisch. Aber ein Produktionskapitalismus ... also man kann diesen Gedanken nur verstehen, wenn man weiss, wie Fichte, Scharnhorst, Gneisenau, die Patrioten in Preußen von 1807, inwiefern die sich in wesentlichen Dingen von einem Nationalsozialisten der Reiterstaffel SS nicht unterscheiden. Sie unterscheiden sich total von Eichmann, auch der gesellschaftlichen Herkunft nach. Von einer bestimmten Glanzlinie im Dritten Reich unterscheiden sie sich nicht.Also Vater Weizsäcker. Das ist ja auch ein alter Knacker, von denen aus gesehen, aber das gibt es eben auch in jung. Und da kommt man mit dem Ideologiebegriff nicht ran, weil die gar keine haben. Die arbeiten mit wechselnden Inhalten, Gedanken mit wechselnden Inhalten. Der Wernher von Braun ist ein Typ davon, und den gibt's auch intelligenter, deutlich intelligenter, deutlich fundierter. Die Wiederherstellung, die Rächung der Bauernkriege mit anderen Mitteln, so möchte ich es mal vereinfacht sagen, die Wiederherstellung des Bauern in uns, daraufhin die Herstellung einer alternativen Industrialisierung unter Aufnahme all dessen, was Grüne sich überhaupt ausdenken können. Mit Marsflug und so'n klein paar Sachen und Südamerikatunnel und Bewässerung Afrikas. Es geht sehr großzügig vor sich. Mit voller Verachtung für Japaner und Hochachtung, wie die Kriege führen, und was die für Schlachtschiffe bauen. - Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie komisch das alles zusammenpaßt und wie wenig das realistisch auf uns wirkt. Es ist aber ein realer Zusammenhang. Und sie können ihn bei Musil sehr leicht nachmessen. Der kann das. Der kann das dichten.

R.S: Woran denken Sie dabei?

A.K.: Mann ohne Eigenschaften, der ganze Anhang. Da kommen alle Elemente, wie ein Nationalsozialist denkt, der Aufbruch ins Ingenieurzeitalters, das ist überhaupt nicht inhaltslos. Das geht so. Wir sehen immer nur das Bürokratische. Die Historiker zeigen das aus der Sicht der Akten, weil die Gespräche ja nicht übrig sind, aus der Welt der Folgen. Und da brauchen wir uns nicht lange drüber unterhalten, dass die verbrecherisch sind. Sie sind aber nur verbrecherisch im Krieg, weil sie nur da möglich sind. Wenn zum Beispiel die Geisteskranken umgebracht werden, dann ist es so, dass der Einspruch des Bischofs Galen ausreicht, dass das in Westfalen nicht geht, das führt dazu, dass es wieder eingestellt wird. Und ich gehe jede Wette ein, dass es ein SS-Gericht zwei Jahre später gegeben hätte, das die Ärzte verurteilt hätte, weil es so viele verschiedene Richtungen gibt; oder zumindest eingeschüchtert. Das heißt, das ist ein so differenziertes Aufbruchssystem, es sind selbstverständlich alte Formen, aber wirklich dagegen sind nur völlig überalterte Leute, die keine Vorstellung haben für einen neue Gesellschaft. Es ist eine Aufhebung der ständischen Gesellschaftsform, eine kontinuierliche Entwicklung von den Bauernkriegen bis dahin. Das ist das, warum der Heidegger da so leidenschaftlich mitredet, das ist ja ein richtiger linker Nationalsozialist. Die werden durch Reichswehr und Papen und Industrie und einen Hitler, der dahin überläuft, umgebracht, außer Einfluß gesetzt. Und das ist jetzt der Moment, in dem die verbürokrateten Teile in der SS sich beliebig verselbständigen können, weil es überhaupt keine Kontrolle mehr gibt. Also die Bewegung ist eigentlich tot. Es bleiben übrig: Administrationen. Davon gelingen nur die, die auf den Krieg zu eilen, weil nur die Hierarchien übrig sind. - Ich bin jetzt nicht irgendwie jemand, der da etwas lobt dran, aber so steht es bei Neumann im „Behemoth" analysiert, das ist der Grund, warum das Institut für Sozialforschung sagt, man muss früh aufstehen. Und muss neu rüsten, wenn man die bekämpfen will. Die sehen, dass die Kommunisten und Nationalsozialisten beim Verkehrsarbeiterstreik in Berlin 1932 (da habe ich auch eine Geschichte drin, mit den Tunnelinschriften), als die sich verbünden, sagt Horkheimer, wenn wir jetzt nicht aufpassen, dann geht das schief, jetzt rüsten wir, jetzt bringt er sein Vermögen, Institutsvermögen, Stiftungsvermögen ins Ausland. Weil er sagt, das ist ein Bündnis, das ist mit den traditionellen Kräften, die sich alle überschätzen, nicht zu besiegen. Was ist die Reichsbank gegen wirkliche Menschen?

R.S.: Aber dieses Bündnis zerbricht dann ja schnell wieder?

A.K.: Das zerbricht ganz schnell. Auch notwendig, weil da kommt jetzt dieses zweite Element im Nationalsozialismus, das es eine Zuträger-Partei ist für die Industrie.

W.M.: Aber es gibt Bereiche, in denen sie wieder zusammenkommen. Im Hitler-Stalin-Pakt und dem gegenseitigen Zuarbeiten. Deutsche Kommunisten wurden z. B. aus der Sowjetunion zurückgesandt ins KZ. Und es gibt einen Roman von Goebbels, Michael, wo der Held sagt, der einzige, der vertrauenswürdig sei, wäre der Bolschewist.

A.K.: Ist aber so abgründig, dass man es nur in literarischer Form überhaupt entwickeln kann. Nichts aber, was unaufgearbeitet bleibt, was einfach nur unter der Decke gehalten wird, wird stillgestellt werden können. Also wir müssten, um den Nationalsozialismus zu widerlegen, die deutsche Geschichte seit den Bauernkriegen Spur für Spur aufarbeiten. Und da ist das Komische, dass zum Beispiel die Lebensläufe, die aus dem Osten kommen, viel näher an traditionellem Empfinden sind und Erinnerungsvermögen liegen. Das liegt natürlich daran, dass Thomas Münzer dort was bedeutet hat, dass sie die Tradition der Bauernkriege erzählt gekriegt haben, aber es liegt auch daran, dass sie nicht so vollständig durch kurzfristige Lebensideale überlagert sind. Das ist eigentlich der Kern der DDR-Ideologie, und wenn wir die Verwaltungsform davon nicht wollen, muss man ebenfalls die Spuren, die Wurzeln jede für sich rekonstruieren und mit Empfindung besetzen und dann kann man sie beiseite tun.

R.S. Wenn jetzt Habermas von Verfassungspatriotismus spricht, wie er selber viel dafür getan hat, sich dem Westen anzuschliessen, ist das ein Widerspruch dazu?

A.K.: Nein, aber man müsste den Begriff dann so gründlich wenden, dass man sagt, zur Verfassung gehört auch die nicht geschriebene Tradition. Dass der Bodenseehaufen betrogen wurde, er hatte gesiegt, und Graf von Walzburg Zeil hat sie offen betrogen und massakriert, und dieses Unrecht ist nicht verfassungsgemäß. Wie ich das bezeichnen soll, ist sehr schwer zu sagen, weil die Verfassung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ist nie mehr verletzt worden, aber das Recht, das Menschenrecht, das freie Bauern haben, vom Ursprung an, und das in Bauernkriegen aufbricht, das gehört zur Verfassung.

R.S.: Aber so meint es Habermas nicht...

A.K.: Ich fürchte, dass er das nicht so meint, aber ich würde gerne ihn gewinnen dafür. Und es darf nicht phraseologisch gebraucht werden, also es kann nicht eine Gruppe heute von Hochschulprofessoren sich hinstellen und sagen, wir okkupieren das - also eine Partei und sagen, wir sprechen jetzt für diese Bauern. Ich bin selbst bei literarischer Bemühung - die ja Macht nicht anfasst, keine Macht ausübt, keine Organisation drauf gründet, keine Ansprüche drauf gründet, aber es darstellt, es in Empfindung hält - selbst da bin ich nicht sicher, dass man es machen kann. Aber man kann es auf Theater so lange nachspielen, „Wessis in Weimar" hat das. Das Stück von Hochhuth hat in der Fassung von Einar Schleef dieses Grundgefühl. Es ist noch jetzt in dieser Sekunde ungerecht, wie die Adligen im 18. Jahrhundert dieses Liebespaar in „Kabale und Liebe" zum Giftmord bringen. Es ist jetzt noch in dieser Sekunde ungerecht, wie die Bauern übertölpelt werden. Man hätte sie gar nicht in die Bauernkriege treiben dürfen. Dies ist bitteres Unrecht, und da muss man jede einzelne Komponente sehen und auch die Glückselemente, die in Herrschaft beruhen, und das ganze sehr ambivalent machen und das Autoritäre wieder beleben. Warum ist in den dreißiger Jahren dieses Autoritäre derart vital, wenn doch die Autoritäten 1914 alles gemacht haben, um ihrer Fehlerhaftigkeiten, um ihren verbrecherischen Opportunismus vorzuzeigen, öffentlich vorzuzeigen. Es besteht doch eigentlich gar kein Grund, der Obrigkeit zu vertrauen. Und dennoch kommt aus der alten Zeit, aus dem Glücksmoment, als ein Baron mal ein guter Baron war, so wie in Frankreich Henri IV. ein guter König ist, so entsteht hier ein Vertrauen, ein letzter Anker, es muß ein Schutzengel, es muss einen Herrn geben, und der schützt mich. Protego ergo sum. Das ist so tief als Empfindung, dass ich das erst ablösen kann, wenn ich es in jedem einzelnen Lebenslauf wieder aufgefunden habe, mit Gefühl besetzt, aber revitalisiert, in Geschichten, in Büchern, im Theater, empfindbar gemacht habe. Dann kann ich sagen, diese Empfindung ist aber ein Gift. Ich vermag mich von dieser Droge zu trennen. Dies wäre eigentlich der Weg, in der Balancen entstehen und eine Stärke entsteht, die nicht nur Ich-Stärke ist, sondern Erfahrungsstärke. Eine andere Form von Diskurs entsteht hier. Wenn ich das nicht tue, habe ich eine Sollvorschrift als Verfassung und das ist für Verhalten nicht stark genug. Heinrich Mann hat etwas sehr Richtiges gemacht: In der Emigration schreibt er diesen Henri IV., d.h. für eine fremde Nation nimmt er den guten König, den wir immer nicht hatten, der die Religionskriege beendet. Das ist seine Antwort auf den Nationalsozialismus, das ist eine wirkliche Antwort. Da ist nichts Entlegenes dran, das ist der gute König und der war keiner unserer Herrscher.

R.S.: Sind die Deutschen nicht kapitalisiert? Sind sie nur äußerlich kapitalisiert?

A.K.: Sie sind es mit Sicherheit, aber in den Spuren des Warenwertes des Kapitalismus stecken ja immer wieder Motive, persönliche Motive, also, wenn Sie so wollen, Glückssucher. Und die ist voll angereichert mit den vergangenen Werten. Till Eulenspiegel als Gegenwart, aber nicht als ganzen Mann, nicht Harald Schmidt ist Till Eulenspiegel. Ich kann aber an jeder Theke in Bochum mindestens sieben Worte am Abend isolieren, und die haben genau den gleichen Witz, genau die gleiche Angriffslust wie die des Till Eulenspiegel. Und jetzt kann ich Ihnen von Hans im Glück bis zum Mann, der auszog, das Fürchten zu lernen, bis zu Ritterkreuzträger Soundso in der Panzerschlacht von Kursk kann ich Ihnen deutsche Motivationen erzählen, die nicht anders sind als französische. Die französischen Pioniere, die die Brücke über die Beresina bauen und bis zum Hals in Wasser stehen - alle sterben, aber die Armee kommt rüber - das sind Anwender eines Eifers, eines Ingenieurwissens, das ohne agrarische Grundlage, ohne pfleglichen Umgang von einem Menschen zum anderen, ohne Treue gegen Treue, nicht denkbar ist. Wenn Sie einen befragt hätten, hätte er Ihnen sowas nicht geantwortet, aber sie haben diese Brücke hingestellt. Das ist ganz unwahrscheinlich. Die preußischen Patrioten haben gestaunt, das war der Moment, wo sie sich hätten verbünden können. Über Streitschriften ging das nicht. Von daher könnten wir eigentlich, um es zu verkürzen, den Patriotismus Europas aus der Jahrhundertwende des 18./19. Jahrhundert noch einmal rekonstruieren. Da ist das rekonstruktivistische Element bei Habermas vollkommen richtig. Er macht das mit größter Sorgfalt und rekonstruiert noch einmal alle Irrtümer und alle richtigen Einsichten, alle Brücken und Gräben zwischen Deutschland und Frankreich, nicht, weil das alles wäre, sondern weil man daran jetzt alle übrigen Fragen auch noch als Varianten verstehen könnte. Zum englischen Empire gibt es diese Brücken nicht so leicht, die gehen einmal über Greenwich und einmal über eine Weltbörse und einmal über Sklavenhandel und einmal über eine ursprüngliche Akkumulation ...


zurück zum inhaltsverzeichnis