glossen: interview


. Es geht um den Reichtum des menschlichen Lebens — ein Werkstatt Gespräch mit dem Lautdichter Valeri Scherstjanoi, München, Juni 1999.

W: Du bist seit 1979 in Deutschland, zuerst in der DDR, dann in der Bundesrepublik. Russisch ist Deine Muttersprache. Du sprichst ausgezeichnet Deutsch. Fühlst du dich in Deutschland in der Emigration?

V: Künstler sind immer in der Emigration. Natürlich, ich fühle mich bequem im deutschsprachigen Raum, weil ich schon seit fast zwanzig Jahren hier bin, aber sonst…. Es wäre allerdings viel, viel schlimmer gewesen, wäre ich damals, am Ende der Breshnewschen Stagnation, nicht weggegangen. Mein großer Bruder, ein ironischer Mensch, ist der Meinung, dass ich in einer der psychiatrischen Kliniken mein Ende gefunden hätte, wäre ich in der Sowjetunion geblieben. Natürlich vor der Wende, also die ersten Jahre meines Aufenthalts in Ostdeutschland, waren nicht besonders gut. Es gab so viele Missverständnisse. Ich wollte natürlich meinen künstlerischen Weg suchen und finden, wurde aber da einfach zu stark mit der ddr-deutschen Mentalität konfrontiert. Nach der Wende fühlte ich mich schon viel besser, vor allem, weil es viele künstlerische Szenen gibt, in denen ich mich bewegen kann.

Was ist Heimat? Es gibt ein melancholisches Gedicht von mir. Das geht so:

ich bin in dem lande geboren das nie meine heimat war
ich bin in dem lande aufgewachsen das es nicht mehr gibt
ich ging in das land das es auch nicht mehr gibt
und die muttersprache meiner mutter ist nicht meine muttersprache

Ich weiß, dass mein Deutsch anders ist, dass ich einen ungewöhnlichen Akzent habe. Naja, manche Deutschsprachige, z.B. die Österreicher sind der Meinung, dass ich keinen fremden (!) Akzent habe... Aber dann merken sie doch: “Der Mann kommt nicht von hier”, vielleicht aus einem anderen Land, aber aus welchem Land....?

W: Aus dem Land der Poesie?

V: Ja, d.h. eigentlich aus dem Lautland. Das ist mein imaginäres Land. Das habe ich mir nach der Wende gefunden.

W: Dass du ein Lautland gefunden hast, sagt mir, dass du ein Land verloren hattest.

V: Ich habe viele Länder verloren. Also das war nun die Sowjetunion. Als man mich damals fragte: “Woher kommst du?”, habe ich gesagt: “Ich komme aus Kasachstan,” weil ich in Sagis, in Kasachstan geboren wurde. Allerdings ist das nicht meine Heimat. Das kam nur daher, weil meine Mutter dort in einem Frauengulag war, und mein Vater dort in der Nähe in einer Erdölraffinerie arbeitete. Nach Stalin’s Tod durften wir weg, und dann gingen wir in den Süden Russlands, in die Heimat des Vaters. Dort ist meine eigentliche Heimat. Doch dieses Russland ist mir heute viel fremder als die Bundesrepublik. Und dann diese DDR; die gibt’s auch nicht mehr. Also ich habe jetzt meine dritte Staatsbürgerschaft. Nun bin ich hier in der EU, und fühle mich wie ein freier Mensch mit diesem — komischerweise ist er ein bisschen himbeerrötlich — Reisepass der deutschen Staatsbürger.

W: Hast du auch einen Pass aus “Lautland”?

V: Nein, Lautland, das ist ein Einmann-Staat, und es ist meine Werkstatt, mein phonetisches Labor.

W: Gab oder gibt es wirklich keine anderen Lautlandbewohner?

V: Ja, aber jeder Künstler hat seine eigenen Vorstellungen. Für mich hat Lautland etwas mit ars scribendi zu tun, mit poesia sonora. Für mich hat es mit Carlfriedrich Claus aus der ehemaligen DDR zu tun. Leider ist er vor einem Jahr gestorben. Claus ist mein großes Vorbild gewesen. Er war ein Lautaggregat — übrigens der Titel eines seiner Hörspiele aus dem Jahre 1993. Er war eine Lautmaschine, und er [...] sprach vom Verlassen der natürlichen Sprache. Darin war sein Weg. Ich als Lautländler habe meine eigenen Visionen. In der DDR gibt es noch einige Namen, aber sie entsprechen im Grunde nicht meiner Absicht. Was man zum Beispiel am Prenzlauer Berg gemacht hat ...sie waren zu ideologisch. Die Lautdichtung, hat ein russischer Sprachwissenschaftler gesagt, ist die Kunst, die außerhalb der Ideologie frei existieren kann. Aber diese Leute — ich meine nicht böse — aus dem Prenzlauer Berg, von Elke Erb bis Bert Papenfuß, sind für mich immer zu politisch gewesen. Sie waren keine reinen Lautdichter. Lautdichter gab es und gibt es in Westeuropa, Kanada, den USA und Australien.

W: Schreibst du auch traditionelle Gedichte?

V: Nicht mehr. Ich schreibe Texte. Meinen letzten großen Text habe ich speziell für eine Radiosendung im Bayrischen Rundfunk geschrieben. Er wird nächstes Jahr gesendet. Das Stück heißt “Makrophon”. Zu diesem “Makrophon” habe ich meine Geräusche gesammelt, so ein Jahr lang, und Tagebuchnotizen gemacht. Diese Tagebuchnotizen sind dann so etwas wie kleinere Texte geworden. Wie Gedichte sehen sie aus — ein Freund hat darüber geschrieben, sie seien "halb Poesie, halb poetische Anleitung für Lautpoesie"; aber es ist nicht mehr mein Ziel, Gedichte zu schreiben. Das habe ich nach der Wende versucht, und dann dachte ich mir, das geht nicht. Ich habe einige biographische Texte. Das reicht. Ich experimentiere sehr gern mit der deutschen Sprache, weil sie so konstruktivistisch ist. Ich nehme auch einige, sagen wir, Lautschätze aus dem deutschen Wortschatz; auch aus dem russischen Wortschatz, und spiele damit.

W: Das heißt, deine “Texte”, deine scribentischen Texte, haben sowohl die deutsche als auch die russische Sprache zu Grundlage?

V: Ja, es sind Lautschätze für mich. Das ist ein neues Wort, mein Neologismus: “Lautschatz”.

W: Würdest du dich abgrenzen von dem, was man konkrete Poesie nennt?

V: Ich bin überhaupt kein konkreter Dichter.

W: Es gibt ein Gedicht von Ernst Jandl, “schtzngrmm” aus dem Jahre 1957...

V: Na ja, das ist Lautmalerei. Ja, ja ich kenne Jandl, ich kenne sie alle inzwischen persönlich. Ernst Jandl macht seine “Performances” mit bitterer Ironie, und manchmal ist er ein Spaßvogel. Er ist kein phonetischer Dichter. Ein Lautdichter ist ein phonetischer Dichter. [...] Er verlässt die Sprache nicht. Manche konkrete Dichter sind fast Lautdichter, wie die Wiener Gruppe um Gerhard Rühm oder Franz Mon. Und dann natürlich Carlfriedrich Claus, mein Freund in der DDR. Vielleicht bin ich für die auch einer der Konkreten. Wenn Gerhard Rühm mit einem einzigen Wörtchen arbeitet und dieses Wörtchen, z. B. “Jetzt” mit verschiedenen Geschwindigkeiten, mit verschiedenen Intonationen in den akustischen Raum setzt, dann wird eigentlich aus dem konkreten ein phonetischer Dichter. Wenn man an diese Buchstabenverbindung denkt, an das J, das E und das TZT: Das ist Unsinn. Eigentlich bedeutet es nichts. In einem solchen Falle ist er fast ein phonetischer Dichter. Es gab übrigens auch russische Futuristen, die sich mit dem Zerlegen eines einzigen Buchstabens beschäftigt haben. Es gab sogar ein Manifest: “Das Wort als solches" oder "Der Buchstabe als solcher.” Die russische Phonetik ist sehr reich. Im Russischen gibt es nicht nur harte Konsonanten, es gibt auch weiche Konsonanten. Die Laute, die Vokale, kann man ausdehnen, wobei der Sinn eines Wortes sich nicht ändert. Da ich mich als ehemaliger Germanist, als Liebhaberslawist in beiden Sprachen auskenne, sehe ich meinen Weg als den durch diesen akustischen Dschungel. Sagen wir, ich arbeite mit einem einzigen Laut — wir sprechen nicht von den Buchstaben. Z. B. denke ich rein technisch daran {produziert Laute}: was mein Mund, was meine Zunge macht und wie ich das variieren kann. [...] Man kann mit einem einzelnen Laut arbeiten, und das ist dann auch konkret, konkret/phonetisch. Fast jedes meiner Zeichen kommt aus dem russischen Alphabet, aus dem historischen russischen Alphabet. Mich interessiert dieser oder jener Buchstabe. Wie war das im 18. Jahrhundert? Was hat da Peter der Große mit seiner Hand reingekritzelt.. — das russische Alphabet wurde mehrmals reformiert. Oder wie ging Puschkin mit dem Alphabet um, was für eine Bedeutung hatte es für ihn. Ich habe mich damit jahrelang beschäftigt. Nach der Wende 1989 kam es daher zum Buch "Das russische Alphabet - scribentisch" (im Gertraud Scholz Verlag), und fünf Jahre danach brachte der SDR (Süddeutscher Rundfunk, heute SWR - Südwestrundfunk) es als Hörstück. Regie machte Eberhard Klasse. Übrigens, die konkreten Poeten haben alle mit dem Alphabet gearbeitet. Und Raoul Hausmann, der Dadasoph, hat gesagt, dass das Alphabet das erste und das letzte Phänomen der reinen menschlichen Klangform sei. Überhaupt das Alphabet, jedes Alphabet ist ein konkretes Gedicht, und es kann auch ein phonetisches Gedicht sein. Mein scribentisches Alphabet hat etwa tausend Zeichen, und ich weiss, dieses oder jenes Zeichen könnte etwas bedeuten, aber es muss nicht unbedingt.

W. Wenn man Leuten ein Gedicht in gedruckter Form vorlegt, wird eine statistische Mehrheit dieses Gedicht ähnlich lesen. Wenn man deine Partituren liest, entsteht ...

V: Man kann sie nicht lesen.... Naja, die französischen Lettristen haben versucht, das Alphabet zu erweitern und haben auch ein neues, sagen wir für einen Pfeifton oder für einen Knacklaut oder einen Seufzer, Zeichen erfunden. [..] Aber das ist nicht mein Weg. Wenn ich imstande bin, meine Gedichte mit diesen Partituren, diesen mnemotechnischen (gedächtnisstützenden) Partituren vorzutragen, dann müssen die Leute zufrieden sein. Wenn sie die Partitur sehen wollen, dann können sie sie sehen.

W: Würdest du meinen, dass deine phonetische Dichtung vollkommen abstrakt, also reiner Ton ist?

V: In meiner Dichtung geht es vor allem um eine andere Kommunikation, und das ist die Kommunikation des rein emotionalen Aktes. Wenn ein Lautdichter auf der Bühne ist und beginnt, mit seinen Lauten zu agieren, dann denken die Leute nicht daran, ob sie ihn verstehen. Sie versuchen sogar, mit einem Lächeln, mit einem Lachen sich dagegen zu wehren Aber dann reagieren sie auf seine Emotionen mit ihren Emotionen. Und dann entsteht eine emotionale Kommunikation, keine semantische, also eine asemantische, natürlich akustisch gefärbte Kommunikation. Da setze ich ganz bewusst die Tradition der russischen transrationalen Dichter fort. Das waren in erster Linie Alexej Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Ilja Sdanewitsch, bekannt im Westen als Iljasd, dann Igor Terentjew, Wassili Kamenski und andere. Insgesamt gab es von ihnen etwa zwanzig in der Zeit der grossen russischen Avantgarde, der Zeit der grossen Utopie von 1908 bis circa 1930, bis zum Selbstmord von Majakowski, und paar Jahre danach. Aber diese Anfänge im russischen Futurismus um 1908 und 1912, um Krutschonych, sind steckengeblieben wegen des Bürgerkrieges und der Zerstörungen im Lande. Sie sind meistens früh gestorben, sie sind im Gulag umgekommen oder waren gezwungen in den Westen zu gehen. Also es gab keinen günstigen Nährboden für die weitere Entwicklung dieser Lautsprache, dieser Lautkunst. Aber im Westen gab es eine parallele Erscheinung im italienischen Futurismus und dann, einige Jahre später, im deutschsprachigen Dadaismus. In Westeuropa konnte sich diese Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg weiterentwickeln. Es gab in Frankreich zum Beispiel eine lettristische Bewegung, und dann die Ultralettristen. In Italien die Poesia Sonora.

W: Was regt Dich künstlerisch an?

V: Ich reagiere zum Beispiel auf Regentropfen. Nicht, dass ich denke, das ist mein Thema und schreibe ein Lautgedicht, weil es regnet, nein, aber es ergibt ein Lautgedicht oder ein Geräuschgedicht. Wenn ich draußen bin, bin ich immer in einem akustischen Raum. Sagen wir, ich bin mit dem Fahrrad unterwegs oder im Park oder auf dem Balkon. Es regnet, und ich bin mit meinem Walkman ausgerüstet, mit dem Kopfhörer und mit dem Mikrofon. Ich höre also nicht nur meine Atemzüge und meine Herzschläge, sondern, und hier verstärkt durch das Mikrofon, auch was draußen passiert. Zum Beispiel, irgendwo in Italien spielten Kinder Ball. Ich saß da im Hotel und machte das Fenster auf und zu. Da fing dieser Kontakt zu den Klängen an. Es war lustig. Die italienischen Mädchen sprangen herum, und sie hatten alle diese katholischen Uniformen an. Das war in einem abgeschlossenen Kirchhof; und da saßen alte Frauen, auch mit katholischer Uniform, und passten auf. Da spielten die Mädchen Ball. Ich sah das natürlich auch als Bild vor mir. Ich hätte dazu einen Text schreiben können, aber wozu? Ich musste sofort eine Aufnahme machen. Es gibt auch ein Gedicht, “Musik des Regens hören”, in dem es ungefähr so heißt: “Nachdenkend stehe ich, und mit einem Mal besucht mich meine lautpoetische Muse. Ich fühle Rhythmen in meinem Körper.” Diese Rhythmen möchte ich umsetzen. Das betrifft vielleicht auch alle “normalen” Dichter. Die Poesie ist ein Geheimnis. Niemand weiß, was Poesie ist. Was bewegt einen Wortkünstler, dass er schreibt, dass er schreiben muss. Das hat Majakowski gut in seinem Artikel “Wie man Verse macht” geschrieben. Zuerst dieser Rhythmus [..] Ein verbaler Dichter setzt das anders um als ich. Wenn mich etwas bewegt hat und ich es vergessen habe, erinnere ich mich später wieder durch Laute, durch Rhythmen. Je älter man wird, desto intensiver erscheinen uns die Träume aus dem Lautland, aus der Kindheit. Es ist vielleicht ein schönes Lautland gewesen, und dann erinnert man sich wieder durch die Klänge aus der Kindheit, wie schön es war, vor allem vor der Schule oder nach dem Unterricht....

Ich arbeite sehr gern nicht nur mit Sprachlauten und nicht nur mit den Klängen aus der Außenwelt, sondern auch mit verschiedenen Geräuschen, die ich in meinem Mundwerk produziere. Hier ist die Zunge, und hier ist der Kehlkopf, der Gaumen. Was kann man mit ihnen artistisch machen? Und ich verlasse mich sehr gern auf die Intuition auf der Bühne, dann improvisiere ich. Diese eigenartigen Partituren, die ein bisschen wie Kirchenslawisch aussehen, diese Zeichen die ich Scribentismen nenne, sind Gedächtnistexte.

W: Hast du einen Katalog deines scribentischen Alphabets?

V: Ich habe angefangen, was zu machen. Aber ich denke, es wird niemandem etwas bringen, wenn ich sage: Hier ist der offene B- Laut ja, oder dieses Zeichnen bedeutet “ich in der Hütte”, und das liest man als [macht ein Geräusch [...] Vielleicht mache ich das irgendwann.

W: Das würde deine Texte für Aussenstehende lesbar machen.

V: Nein. Überhaupt nicht. Das geht doch gar nicht. Der russische Futurist Wassili Kamenski hat einmal gesagt: Die Poesie ist die Eheschließung von Wörtern. Und bei mir passieren eben solche scribentischen Eheschließungen. [...] Ich kann jeden Tag rumsitzen und immer neue Zeichen produzieren, aber sie zu entziffern, das ist kompliziert. Dann nehme ich ein Blatt Papier mit vielen Zeichen, nehme eine Schere und zerschneide alles, auch einzelne Zeichen. Viele Zeichen, die ich mache, sind vielleicht während des Schreibens lesbar, später anders erkennbar...

W: Zeichnest du deine Lauttexte manchmal mit einem Tonbandgerät auf?

V: Unbedingt. Im Laufe von circa zehn Jahren haben sich mehr als einhundert Kassetten angesammelt. Daraus wird demnächst ein neues akustisches Hörspiel entstehen, "Retro.Phonie" (Arbeitstitel) im SWR 2, bei Eberhard Klasse. Der Sender heißt übrigens "Dschungel", toll! Wenn ich zu Hause übe, und mich auf meine Lautperformance vorbereite, nehme ich ab und zu auf.

W: Was bedeutet “OPK Futurist”?

V: Das ist ein Stückchen meiner Biographie. "Operative Personen Kontrolle Futurist´". Nach der Wende habe ich meine Stasiakte beantragt, und drei Jahre danach konnte ich mir den ersten Band anschauen. Die Beamten in der Gauck-Behörde haben gesagt, es gibt wahrscheinlich keinen zweiten Band. Ich habe nicht versucht, einen zweiten Band zu beantragen. Ich habe den ersten Band gelesen. Der Titel klang wie eine Auszeichnung für mich: “OPK", dann in Anführungsstrichen: “Futurist”. Die Stasioffiziere, ein Unterleutnant und ein Oberleutnant von der Bezirksverwaltung des MfS und vom Kreisvorstand Mitte wollten dringend wissen, was ein Sowjetbürger mit zwei Kindern in der Ostberliner Rosa-Luxemburg Strasse 11 macht. Diese Stasi-Leute waren wirklich dumm. Sie dachten, ich wäre irgendein Spion; ein Sowjetmensch, aber ein Spion. Meine ersten Lautgedichte, die ich in den Westen geschickt habe, haben sie alle kopiert, die Briefe haben sie geöffnet und kopiert. Es gab Berichte darüber, wie mein Briefkasten aussah, eine Bemerkung, dass nicht festgestellt werden konnte, wie meine Wohnung aussah oder dass ich nachmittags mit meinem II. (römisch!) Kind spazierengegangen sei. Es war alles so absurd, und es gab so viel Blödsinn.

Damals, in den achtziger Jahren, hatte ich angefangen zu experimentieren, und ich hatte mit Carlfriedrich Claus, unter anderem im Auftrag des Verlages der Kunst (Rudolf Mayer), an einigen futuristischen Projekten gearbeitet. Über Carlfriedrich Claus und Rudolf Meyer hatte ich dann Kontakte zu den deutschsprachigen Konkreten, aber auch zu Franzosen und Italienern gewonnen. Im Jahre 1983 habe ich in Italien einen kleinen Aufsatz über die russischen Futuristen veröffentlicht. Es ergaben sich Briefwechsel mit verschiedenen Lautdichtern aus der ganzen Welt und vor allem aus dem Westen Europas. Diese Kontakte in den Westen haben die Stasi zusätzlich auf mich aufmerksam gemacht haben. Als sie nach über drei Jahren endlich begriffen hatten, was das ist, der Futurismus, haben sie ihre Beschäftigung mit meiner Person, ohne, dass ich davon ne Ahnung hatte, aufgegeben. Oder nicht? Ich habe noch keinen 2.Band. Ich hab’s nicht leicht gehabt in der DDR. Ich war dieser Gesellschaft scheißegal, dieser sogenannten realsozialistischen Gesellschaft. Vor vier Jahren habe ich meinem Freund im Süddeutschen Rundfunk, Regisseur Eberhard Klasse, eine Kopie der Akte gezeigt, und wir haben daraus ein absurdes Hörspiel gemacht. Es heißt “OPK Futurist”. Es ist ein lustiges Hörspiel.

W: Wie hast du Carlfriedrich Claus kennengelernt?

V: Nach meiner Übersiedelung in die DDR kam ich zuerst ins Erzgebirge, nach Schneeberg. Claus lebte in Annaberg-Buchholz. Das ist auch im Erzgebirge. Aber ich musste nach Karl-Marx-Stadt fahren, um mich dort beim sowjetischen Konsulat zu melden. Da ging ich an einer Galerie, Galerie "oben" (sie gibt es auch heute) vorbei. Sie wurde von einer Künstlergenossenschaft (eine einmalige Sache in der DDR!) betrieben. Da ging ich rein, und da waren die Werke von Carlfriedrich Claus. Damals war ich verblüfft. Ich habe nichts verstanden. Ihn selber habe ich zwei Jahre später kennengelernt, als ich im Verlag der Kunst war, bei Rudolf Meyer. Rudolf Meyer hatte einige Projekte zu Ehren der russischen Futuristen organisiert und Ausstellungen gemacht. Er suchte einen Spezialisten auf diesem Gebiet. Ein anderer Künstler hat mich vorgeschlagen, und so wurde ich freier Mitarbeiter im Verlag der Kunst in Dresden. Carlfriedrich Claus arbeitete an diesem Sa-Um Podium, also dem Transrationalen Sprach - Podium für die Buchkunstausstellung 1982 in Leipzig. Meyer wollte im Rahmen der Buchkunstausstellung die russischen Futuristen ehren, aber nicht auf diese sozialistisch-realistische Art und Weise, wie man es mit Majakowski und Lissitzky gemacht hat. Er hat die Arbeiten der Suprematisten ausgestellt, von Kasimir Malewitsch, Olga Rosanowa und die Bilder der Futuristen mit den handgeschriebenen Texten. Außerdem waren auch die Konkreten, die phonetischen Dichter aus Westdeutschland, Frankreich und Italien nach Leipzig eingeladen. Claus und ich haben zusammen das Manifest von Krutschonych, das Manifest der transrationalen Sprache, also die “Deklaration der sa-umnischen Sprache” aus dem Jahre 1921 ins Deutsche übersetzt.

W: Hast du diese russische Tradition über Claus kennengelernt?

V: Nein, ich beschäftige mich seit 1968 mit dem russischen Futurismus. Wir mußten in der Schule immer Gedichte auswendig lernen von Puschkin, Lermontow, dann auch teilweise von Jessenin, Block etc. Das war für mich langweilig. Dann, auf einmal, hatten wir Majakowski im Programm, natürlich seine Parteigedichte. Da war ich schon 17 Jahre alt. Ich habe meinen Vater nach Majakowski gefragt. Mein Vater, als überzeugter Marxist, erzählte begeistert von Majakowski: “Das ist einer der besten Dichter; so einen Dichter gibt es nirgendwo im Westen, in Amerika. Er ist unser Stolz.” Dann hat er mir geholfen, einen Aufsatz über Majakowski zu schreiben, wobei die Russischlehrerin sofort gesehen hat, dass es nicht mein Russisch war und dass jemand mir geholfen hatte. Da ich ein sehr neugieriger Junge war, ging ich in die Bibliothek und las Majakowski. Ich dachte, ja, das ist ein tolles Poem: “Wladimir Iljitsch Lenin” oder “Gut und Schön”. Diese Gedichte haben mich vor allem durch die ungewöhnliche Versform fasziniert. Ich habe den Atem einer großen Utopie gespürt, und ich habe das alles romantisch gesehen. Dann bin ich auf den Namen Ilja Ehrenburg gestossen. Bei Ehrenburg fand ich Erinnerungen nicht nur an Majakowski, sondern auch an Majakowskis Zeitgenossen. Nach 2 Jahren war ich schon Soldat in der russischen Kaserne, und da war es aus mit meinen Träumen, mit meiner Romantik — Ich, Idiot, ich ging freiwillig, es hieß für mich, ich wollte hin! in die sowjetische Armee. Vorher, nach der russischen Abitur, war ich einfach Arbeiter, und ich hatte versucht, der Arbeiterklasse, dem Proletariat, Majakowskis Gedichte vorzutragen. Sie fanden mich bescheuert und dachten, ich wäre ein durchgeknallter Junge. Sie sagten: "Komm lieber, wir spielen Karten, saufen Wodka; du mit deinem Scheißmajakowski.” Ich war verzweifelt: “Er hat es für Euch geschrieben, diese Gedichte! Das ist doch der Dichter der Arbeiterklasse!” Später habe ich versucht, Majakowski in der Armee, in der Kaserne zu lesen, dann in der Uni. Eine Kollegin von mir bemerkte vor kurzem, als ich ihr darüber erzählte, das wären schon meine großartigen Performances...Aber. Ich war sehr naiv, ein Gutgläubiger. Gottseidank war ich nie in der Partei.

W: Woran arbeitest du?

V: Ich arbeite an der Realisierung meines “Akustischen Tagebuches” aus dem Jahre 1997. Es dokumentiert mein letztes Jahr in Berlin. Ich habe jeden Tag akustisch festgehalten. Das sind insgesamt 365 Tagebuchnotizen. Sie dokumentieren, was in meinem Sprechapparat, in meinem Mundwerk passiert, keine Alltagsereignisse, nur Stimmungen. Jeden Tag gab es so etwas wie ein Geräuschgedicht, ein Lautgedicht. Und dann habe ich fast jeden Tag versucht, aus der großen akustischen Außenwelt Laute aufzuzeichnen. Es ist ein langes Projekt, es heißt “Makrophon”. Außerdem versuche ich, ein kleines Stück von Daniil Charms auf eine Bühne zu bringen. Und für den Südwestfunk — Regie macht wieder Eberhard Klasse — bereite ich eine Hommage à Carlfriedrich Claus unter dem Titel “das unmögliche schaffen. meine begegnung mit carlfriedrich claus" vor.



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