Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 15/2002

Der Traum ein Leben? Textstrategien in Christoph Heins Roman Willenbrock
Christine Cosentino

In Christoph Heins bis dato letztem Werk, Willenbrock1 (2000), richtet die gleichnamige literarische Figur, ein erfolgreicher Gebrauchtwagenhändler mit osteuropäischem Klientel, einen entsicherten Revolver auf einen jungen Einbrecher und schießt auf ihn. Der mit Heins Texten vertraute Leser wird sich an das sieben Jahre früher veröffentlichte Napoleon-Spiel (1993) erinnern, in dem ebenfalls ein Schuß abgefeuert wird, der einen Menschen tötet. Die Motivationen für die Gewaltakte in den beiden Werken können allerdings nicht unterschiedlicher sein. Das von Kritikern generell wenig wohlwollend rezipierte Napoleon-Spiel wurde auf der Folie schillernder existenzialistischer Intertextualität interpretiert oder aber als Kritik Heins an gewissen postmodernen intellektuellen Posen, "a cynical disregard of ... moral responsibility."2 Vorrangig aber sah man das Buch als Porträt "der Banalität des Bösen in Gestalt eines Macht-Wessis"3 bzw. als satirische Übersteigerung "einer völlig undifferenzierten stereotypen Vorstellung vom Westler."4 Der Roman Willenbrock dagegen präsentiert das Psychogramm eines scheinbar durchaus friedfertigen Menschen, der in jungen Jahren zu DDR-Zeiten aus pazifistischen Gründen bei den Bausoldaten diente, der dann aber in der Wohlstandsgesellschaft des vereinigten Deutschland in einer Eskalation gegen ihn gerichteter Gewaltakte traumatisiert und verunsichert wird, sich zum rächenden Selbsthelfer profiliert und ebenfalls Gewalt anwendet. Er gerät, da der Rechtsstaat versagt hat und die Täter einfach nur über die Grenze abgeschoben wurden, in die destruktive Spirale von Rache und Vergeltung. Eine Waffe, die ihm beim anfänglichen Besitz nur eine psychische Zuflucht bedeutete, wird letztlich zum Gegenstand eines zynischen Machtbewußtseins: "Es machte ihm Spaß, eine richtige Waffe zu besitzen" (W 319).

Das Werk wurde in der Kritik sehr unterschiedlich besprochen. Es sei "ermüdend dokumentarisch"5 , hieß es. "Stilistische Eintönigkeit"6 wurde gerügt, die zu "unsinnlicher Prosa" führe, in der die "Triebkraft [Langeweile] ungebremst ihre Wirkung entfalte."7 Eine solche Kritik verkennt den geschickten Erzählstil und die ausbalanzierte Konstruktion der Fabel, deren Sogkraft gerade aus der endlosen Fülle von Details schöpft, die der Autor mit kühler Distanz, diagnostischem Scharfblick und akribisch sachlicher Genauigkeit zu Protokoll gibt. Nach wie vor versteht sich Hein als Chronist, ein Chronist, der - wie Krzysztof Jachimczak in einem Gespräch mit Hein 1986 zusammenfaßte - "ohne Haß und Eifer darüber berichtet, was er zu sehen bekommt."8 Jachimczak arbeitet im Dialog mit Hein das Charakteristische dieses chronistischen Protokollstils heraus, das sowohl die in der DDR geschriebenen Werke prägt als auch die nach der Wiedervereinigung entstandenen: lapidare Sätze, die zumeist Feststellungen sind, Leerstellen und Subtexte, Ungesagtes, umfangreiche wie mehrdeutige Symbole und ein dialogisches Autor-Kunstkonsument-Prinzip. Mit letzterem ist die Hinwendung des Autors an einen aktiv partizipierenden Leser gemeint, der - wie Hein formuliert - "die Dinge, wo ich aufhöre zu sprechen oder nur wenig mitteile ... auch zu Ende führen kann."9 Heins protokollarischer Erzählstil spart Seelenanalysen einer literarischen Figur fast völlig aus. Willenbrocks Frau Susanne bilanziert entsprechend: "Er [Willenbrock] sprach wenig über Vergangenes und vermied es, von seinen Empfindungen und Gefühlen zu sprechen, obwohl sie immer wieder versuchte, ihn dazu zu bewegen" (W 217). Der Denkhorizont einer Figur, hier Willenbrock, offenbart sich in scheinbar unwichtigen, häufig banal wirkenden Details. Kurz, die Geschichte ist "voller Fallstricke."10

Der Leser wird erstaunliche Korrespondenzen zu Heins 1982 veröffentlichter Novelle Der fremde Freund (im Westen Drachenblut) entdecken, vor allem in der Verzahnung verweisender Symbole, leitmotivisch eingebauter Sätze und der bildlichen Gestaltung von Träumen. Erinnert sei an die Ärztin Claudia aus Der fremde Freund, die emphatisch immer wieder behauptet: "Mir geht es gut" bzw. "Ich bin zufrieden." Diese Behauptung erkennt der kritische Leser im Laufe der Handlung konträr jedoch als "Lebensverfehlung - vorgeführt als Daseinsglück."11 Erinnert sei ebenfallls an einen die Handlung einleitenden, kursiv gedruckten Alptraum, der die Heldin zeigt, wie sie mit einem namenlosen Begleiter eine zerborstene Brücke zu überqueren bemüht ist. Die dem Traum folgende Handlung offenbart, warum der Versuch scheitern muß: unbewältigte Problematik, vor allem unüberbrückbare Kommunikationsdefizite in Partnerschaft und Gesellschaft machen ein Vordringen zu neuen Ufern unmöglich. David Roberts deutete in seiner Analyse von Heins Fremden Freund die Bilder von Brücke und Abgrund, d.h. Oberfläche und Tiefe, als Herausforderung des Lesers, zwischen manifestem und latentem Inhalt zu unterscheiden, zwischen "what is said and what is not said."12 Das korrespondiert mit Heins Hinweis auf einen leitmotivischen Satz in dieser Novelle, der in sprachlich fast identischer Form und ebenfalls auf der Folie eines Brückentraumes den Subtext des Romans Willenbrock durchdringt. Hein kommentiert: "Wenn die Person sagt, sie sei zufrieden und ihr gehe es gut,
wird eigentlich immer etwas anderes, nicht das Gegenteil, aber etwas anderes noch erzählt."13

Den von Claudia formulierten, selbsttäuschenden Satz "Mit geht es gut ... Ich bin zufrieden" findet man in mannigfachen Variationen ebenfalls in Willenbrock. Auch hier herrscht das Motto: "Eigentlich war ich immer zufrieden" (W 52), "Ich kann nicht klagen" (W 52), "Damit muß man leben" (W 24), "So ist das Leben" (W 235), "Da nahm ich mir vor, mit meinem Leben zufrieden zu sein" (W 64). Susanne, Willenbrocks Frau, stimmt zu: "Uns geht es gut" (184).

Diese optimistische und salopp akzeptierende Lebenhaltung erweist sich jedoch als Lebenslüge und gescheiterter Versuch des Gebrauchtwagenhändlers Willenbrock, sich von den ihn umgebenden, ewig gekränkten Deutschen abzusetzen. Nicht zu Unrecht registriert ein Kritiker: "Was sie antreibt, diese Deutschen, ist das kohlhaasische Gekränktsein der kleinen Bürger angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit."14 Das Buch wimmelt von chronisch Gekränkten. Willenbrocks Zufriedenheitsprämisse - "Man kann sein Leben nicht damit verbringen, sich am Leben zu rächen" (W 134) - kehrt sich allerdings ins Gegenteil. Die ihm angetanen Gewaltakte und Denunziationen kränken ihn letztlich doch. Er erinnert sich an einen Satz, den er einmal gelesen hat: "Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein" (W 317). Erzähltechnisch ist im Sinne dieser Abgründigkeit im Menschen der bereits erwähnte Traum über eine Brücke von Wichtigkeit, der die Handlung einleitet. Erstaunlicherweise wurde er von der bisherigen Rezeption kaum oder gar nicht beachtet, vermutlich, weil er erzähltechnisch so geschickt in der Fabel verpackt ist, daß man ihn leicht überlesen kann. Wie gewichtig dieser Traum jedoch ist, bemerkt man beim zweiten Lesen, denn die ihn beherrschenden Bilder und Symbole greifen in die Handlung hinein, machen diese begreiflich und blenden letztlich in einen neuen, zweiten Traum, eine Art halluzinatorischen Tagtraum, der das im ersten Traum angedeutete Unvollendete in seiner Vollendung zeigt.

Der Traum wird im ersten Paragraphen des ersten Kapitels beschrieben. Um ihn verständlich zu machen, sei zuerst jedoch erwähnt, daß direkt in der Mitte des aus 23 Kapiteln bestehenden Romans, im Kapitel 11, in einer Kette eskalierender Verbrechen zwei russische Brüder nachts im Landhaus Willenbrocks einbrechen und daß es fast zum Totschlag kommt. Diesem Verbrechen vorausgegangen war der Diebstahl von sieben Autos von Willenbrocks Autohof. Dem folgte später ein weiterer Gewaltakt, bei dem der Hund des Nachtwächters vergiftet wurde. Bei einem erneuten Einbruch ziemlich am Ende der Handlung, der diesmal in Willenbrocks Wohnhaus stattfindet, greift der Verzweifelte zur Waffe und schießt, wobei er nicht weiß, ob er den davontaumelnden Mann nur verletzt oder getötet hat. Zwar wird nicht darüber gesprochen, aber Willenbrock dürfte nicht unbekannt sein, daß er seinen eigenen Wohlstand einem anrüchigen, von der russischen Mafia beherrschten Milieu verdankt. Dem erfolgreichen Gebrauchtwarenhändler und cleveren Konjunkturritter, der zu DDR-Zeiten Ingenieur in einer Rechenmaschinenfabrik war, ist nämlich vorrangig dank seiner osteuropäischen Kundschaft und seines mächtigen russischen Großkunden Krylow der Sprung in den neuen Wohlstand gelungen. In einem Circulus vitiosus von Gewaltakten ergibt es sich letztendlich wie von selbst, daß auch er zum gewalttätigen Akteur wird.

Bevor es jedoch zu der Serie von Verbrechen kommt, wird wie beläufig der bereits erwähnte Traum von der Brücke geschildert. Der Leser begegnet in diesem Kontext gleich zu Anfang der Handlung einen in Gedanken versunkenen Willenbrock, der ein pornographisches Magazin aus der Schublade zieht, darin herumblättert und sich an diesen Traum, - "einen dummen Traum", wie er meint - erinnert. Der Ton des Anrüchigen, Halbwelthaften, ja ins Verbrechermilieu Verweisenden ist damit geschickt gesetzt, denn das Wort Magazin ist ja bekanntlich nicht nur eine periodisch erscheinende Zeitschrift, sondern ebenfalls die Patronenkammer eines automatischen Gewehrs oder einer Pistole. Dem entspricht im Traum ein um den Bedeutungskern "Eisen" kreisendes Bildgefüge, das sich später in der Handlung in einer schier endlosen leitmotivischen Kette von eisernen Gegenständen verselbständigt. Eisenstangen, metallene Alarmanlagen, Tresore, Schlösser, Stahlriegel, Ketten, Messer, eine Pistole, kurz, ein "Schieß-Eisen" werden erwähnt:

In der Nacht hatte er geträumt, dass er auf einer eisernen Fußgängerbrücke, die über Eisenbahngleise führte, entlangrannte. Während er die nackten
Mädchen betrachtete, überlegte er, wo er die endlos lange Brücke schon einmal gesehen haben könnte. Im Traum war er einem Mann gefolgt, der
vor ihm herlief, ohne dass er ihn erreichen konnte. Er war immerzu nur hinterhergelaufen, in einem sich nicht verändernden Abstand. Er wußte
nicht, warum er ihn verfolgte, er wußte nicht, ob sie sich kannten, ob sie einander verpflichtet waren, was ihn mit diesem Mann verband. Er wußte
nicht einmal, wer dieser Mann war. Alles, woran er sich erinnerte, waren diese endlos lange Brücke und die diagonalen Verstrebungen, an denen er entlanglief, das metallene Klappern ihrer Schritte, der eigenen und der des Mannes, dem er hinterherlief. Die Brücke schien ihm vertraut zu sein. Ihm war, als wäre er irgendwann schon einmal auf ihr entlanggegangen, aber die undeutlichen verschwommenen Bilder in seinem Kopf klärten sich nicht, so sehr er sich auch bemühte.
(W 7)

Wer ist der Unbekannte und was verbindet Willenbrock mit diesem Namenlosen, von dem ihm anfangs noch ein Abstand trennt? Ist er es selbst, sein Alter ego? Eine spätere zweite Traumhalluzination, die im allerletzten Kapitel des Romans geschildert wird, gibt Aufschluß. Willenbrock, nachdem er selbst Zielscheibe von Gewalttaten zweier russischer Brüder geworden ist, richtet die Waffe auf einen Einbrecher und zielt. Er glaubt, diesen Mann zu erkennen: "Das Gesicht des Mannes, auf den er geschossen hatte, und jenes anderen Mannes, des Russen, der auf ihn eingeschlagen hatte, sie verschwammen ineinander" (W 316). Die gespaltene Person in den verschwommenen Bildern des ersten Traums, d.h. die Bewußtseinssplitter von Verfolger und Verfolgtem, sie werden in der alptraumhaften zweiten Vision eins. Man kann den Akzent auch anders setzen: der in die Enge gedrängte Willenbrock - unwillkürlich assoziiert man "gebrochenen Willen"15 - und der selbsthelferische Krylow werden eins. Die Überredungskunst des mephistophelischen russischen Großkunden und Versuchers hat gewirkt. Ein Abstand zwischen den beiden besteht nicht mehr. Der Teufelspakt ist besiegelt. Wie gestaltete sich auf diesem Hintergrund das Verhältnis dieser beiden so andersartigen und doch so gleichgesinnten Personen?

Krylow, der ungebeten die tödliche Waffe liefert, ist eine komplexe Gestalt, die verschiedene Interpretationsfolien für ein Verständnis des Romans liefert. Die konkrete Figur Krylow war früher Mitarbeiter der sowjetischen Regierung in der West-Europa-Abteilung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion machte er sich selbständig mit - so heißt es offiziell - dem Import und Export von Innovationen. Der aalglatte, mafiose Boß zahlt pünktlich, ist zuverlässig und stets bereit, dem staunenden Deutschen seine archaische Philosophie vom Recht des Stärkeren zu unterbreiten. Der gedemütigte Stolz seiner Heimat kränkt ihn, aber auch - so scheint es - das Unrecht, das Willenbrock von russischen Ganoven angetan wird. Mehr noch jedoch kränkt, ja traumatisiert ihn ein von deutschen Verbrechern verübter Gewaltakt im zweiten Weltkrieg: seine Mutter wurde vor den Augen des Vaters vergewaltigt und starb kurz danach. Ein problematisches Verhältnis also, wenn Besiegte und Sieger eines Krieges sich zu Siegern und Besiegten der Geschichte umkehren. Krylow, der von den Nazis Gedemütigte, nimmt die Gerechtigkeit, sprich Rache, in die eigene Hand, und das Opfer wartet bereits. Der erfolgreiche Selfmademan Willenbrock ist der schnellen Mark und einem fragwürdigen Wohlstand verfallen, und es scheint ihn durchaus nicht zu stören, daß sein eigenes Geschäft in nichts legitimer ist als das der Einbrecher. Das führt zu neuen, diesmal an ihm selbst verübten Verbrechen, und mit gewaltbereiter Wut öffnet er sich dem Einfluß des Rächers. So ist der Pakt mit dem Bösen, dem Teufel, in Willenbrock bereits programmiert.

Krylow ist im gespaltenen Bewußtsein Willenbrocks das andere "namenlose" Ich, zu dem am Beginn der Handlung - der Brückentraum suggeriert es - der Abstand der zivilisatorischen Fassade eingehalten wird. Dem "anderen Ich" bzw. Alter ego haftet von Anfang die Symbolik des Teufels an. Die Waffe, die Krylow später bringt, bezeichnet Willenbrock bezeichnenderweise als "teuflischen Apparat" (W 263). Auch als Krylow seine gut trainierten Schläger anbietet, nachdem er von den Einbrüchen auf dem Autohof erfahren hat, denkt Willenbrock intuitiv an den Teufel: "Sie sind verrückt, Doktor. ... Was denken Sie, wo wir leben. Das ist ein zivilisiertes Land, ich bringe mich in Teufels Küche, wenn ich die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehme. ... Ich lehne Gewalt ab, grundsätzlich." (56). Ein "verrückter Hund" (W 57), sinniert Willenbrock über den amoralischen Zyniker Krylow und fühlt Neid. Doch auch diese beiläufige Bemerkung enthält einen Fallstrick, verweist sie doch per Assoziation auf nämlichen Mephisto, der dem Tatmenschen Faust in Gestalt eines höllischen Pudels - im Griechischen "kynikos", d.h. "Hund", also "Zyniker" - erscheint. Krylow ist - laut Kritiker Gustav Seibt - der "Satan aus dem Osten, ... der das Recht wieder aus seinem Urgrund, der Gewalt"16 schöpft. Krylow fungiert ebenfalls als "Symbol und atmosphärischer Ausdruck"17 für die diffusen Gefährdungen der westlichen Zivilisation allgemein und den Verfall des verunsicherten Genußmenschen Willenbrock im besonderen.

Bemerkenswert ist der allmähliche Prozeß der Korrosion des Willenbrockschen Ichs, den sein Versucher bewerkstelligt. Anfangs glaubt Willenbrock noch an den deutschen Rechtsstaat. Angesichts der offenen Grenzen vergegenwärtigter er sich dann jedoch, daß dieser Rechtsstaat machtlos ist. Als die Justiz sich als überfordert und unzulänglich erweist und die Verbrecher ungeschoren entkommen, erhalten Krylows Empfehlungen eine erstaunliche Sogkraft und Faszination: "Sie müssen es unterbinden, sonst haben Sie hier bald regelmäßig unerwünschte Besuche. (W 53) ... Ich würde rasch handeln und danach alles vergessen" (W 54). Verunsichert und verwirrt beginnt Willenbrock, ohne daß er es will, über das Angebot des Russen nachzugrübeln. Ganz allmählich beginnt er, Dinge zu tun, die, wie er wähnt, nicht seinem Charakter entsprechen, der ja auf Zufriedensein programmiert ist. Einem ehemaligen Stasi-Informanten schlägt er ins Gesicht, seinen Bauarbeitern tritt er launenhaft und unbeherrscht gegenüber, und seiner Frau erzählt er von einem scheinbar längst vergessenen Kindheitserlebnis, wo der Großvater die Beschimpfung eines Nachbarn mit einem Faustschlag rächte. Dann, nach dem Einbruch in seinem Landhaus, kauft er eine Signalpistole, obwohl, so meint er, es "grotesk" sei, denn: "Er könne sich nicht vorstellen, sie in die Hand zu nehmen, um sie gegen einen Menschen abzudrücken" (W 232). Als Krylow dann die Waffe bringt, trifft er auf einen Menschen, dessen Abwehrkräfte erschöpft sind. Er, Willenbrock, der "vor Jahrzehnten den Dienst in der Armee verweigert und sich zu den Bausoldaten hatte einziehen lassen, um nie eine Waffe anfassen zu müssen, ... war [nun] unverhofft Besitzer eines Revolvers geworden, einer tödlichen Schusswaffe, kreuzgefährlich und mörderisch, dessen Besitz bereits strafbar war" (W 262). Vom Nervenkitzel bis zur Gewalttat ist es nur ein kurzer Schritt: "Es reizte ihn, die Waffe endlich einmal auszuprobieren und auf irgendein Ziel zu schießen" (W 290). Als bei ihm in der Garage eingebrochen wird, schießt er auf den Täter.

Willenbrock, der Ostdeutsche, der bravourös im Westen angekommen ist, repräsentiert einen Durchschnittsmenschen im deutschen Wohlstandsstaat der offenen Grenzen: einen materialistischen Tatmenschen, einen - laut Traum - gesichtslosen, namenlosen Jedermann. Nach dem Zusammenbruch der rechtsstaatlichen Sicherheiten, die für ihn einst so selbstverständlich waren, mutiert er zum rachsüchtigen Sicherheitsfanatiker, zum Opfer von Zwangsneurosen, die ihn zu immer größeren, wahnwitzigeren Ankäufen von Alarmanlagen treiben. Er wird zum "Antiheld der inneren Sicherheit"18. Das führt zur Umkehrung psychischer Dimensionen. Je mehr sich der innere Horizont dieses Normalo auf das Thema Selbstschutz verengt, d.h. der Namenlose (Krylow?) und das ihm folgende Ich zu einer Person verschmelzen, desto breiter wird in der Welt des empirischen kapitalistischen Realismus der Abstand zu Freunden, Bekannten und zu jeder Art von gesellschaftlichen Kontakten. Mißtrauisch und zynisch der Welt gegenüber, zieht sich Willenbrock in sich selbst zurück und wird sich selbst zum ärgsten Feind. Obsessiv wartet er auf den Einbrecher und dessen Rache, sollte dieser überlebt haben. Der Circulus vitiosus der Rache ist geschlossen. Die beiden ineinander verzahnten Träume sind Wirklichkeit geworden: das Unbewußte hat sich im Bewußten manifestiert.

Im Leben der Ärztin Claudia aus der Novelle Der fremde Freund hat sich im Laufe der Handlung nichts verändert. Das Bildmaterial ihres Traumes suggeriert es. Für die namenlose männliche Person, die sich auf der zerborstenen Brücke unlöslich und fast gewalttätig in die Hand der weiblichen Ich-Sprecherin krallt, bedeutet Bindung im wirklichen Leben nur erzwungene, bis zur Vergewaltigung gesteigerte Annäherung. Willenbrock jedoch ist in der Tat ein anderer geworden. Das im ersten Traum projizierte, noch unvollendete Unheilvolle ermüdet und höhlt ihn aus, als er es zu verstehen versucht. Dann vergißt er die Bilder genauso schnell, wie er die Skrupel über sein fragwürdiges Gewerbe verdrängt. Der zweite halluzinatorische Traum verwirrt ihn jedoch, deutet auf Bewußtseinsstörungen und die Zerfaserung der Ich-Struktur. Als er seine Frau am Schluß des Romans mit einem Nachbarn sieht, in dem er zynisch einen Liebhaber vermutet, " [presste er] die linke Hand auf die Waffe, die auf dem Fensterbrett lag ... Dann legte er den Revolver in den Safe zurück" (W 319). Diese Episode spielt sich im Frühling ab mit den Obstbäumen in Blüte. Die Kritikerin Dorothea Dieckmann sieht darin Korrespondenzen zu Büchners Lenz.19 Dem ist zuzustimmen. Verwirrt, desorientiert, isoliert, allein - so lebt Christoph Heins Willenbrock dahin wie einst die literarische Figur seines berühmten Vorgängers.

Endnoten

1. Christoph Hein, Willenbrock. Roman (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000). Im folgenden abgekürzt mit W.

2. Graham Jackman, "'Nur wo er spielt, ganz Mensch'? Christoph Hein's 'Das Napoleon-Spiel'", The German Quarterly 72, Nr. 1 (1999): 27.

3. Jürgen Kanold, "Memoiren eines Bürokraten", Schwäbisches Tageblatt 22. Juni 1993.

4. Christine Cosentino, "Die Gegensätze Übergänge: ostdeutsche Autoren Anfang der neunziger Jahre", The Germanic Review 69, Nr. 4 (1994): 149.

5. Dorothea Dieckmann, "Tristesse totale. Christoph Heins Roman 'Willenbrock'", Neue Zürcher Zeitung 6. Mai 2000.

6. Volker Hage, "Wildwest im Ossiland. Christoph Hein erzählt in seinem neuen Roman 'Willenbrock' vom scheinbar erfolgreichen Leben eines ehemaligen DDR-Bürgers nach der Wende", Der Spiegel 19. Juni 2000.

7. Katrin Hillgruber, "Ein Antiheld der inneren Sicherheit. Umbauten, Neubauten, Steuererklärungen und ein Einbruch mit schwerwiegenden Folgen: Christoph Heins Roman 'Willenbrock'" Badische Zeitung 23. Juni 2000.

8. "Wir werden es lernen müssen, mit unserer Vergangenheit zu leben. Gespräch mit Krzysztof Jachimczak, 1986", in: Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, hg. Lothar Baier (Frankfurt/M.: Luchterhand Literaturverlag 1990) 51.

9. "Wir werden es lernen müssen, mit unserer Vergangenheit zu leben",... 54.

10. Agnes Hüfner, "Wagen für den Osten. Christoph Heins Roman über die Geschäfte des Bernd Willenbrock", Süddeutsche Zeitung 24./25. Juni 2000.

11. Rolf Michaelis, "Leben ohne zu leben", in: Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder ... 144.

12. David Roberts, "Surface and Depth: Christoph Hein's 'Drachenblut'", The German Quarterly 63, Nr. 3/4 (1990): 480.

13. Christoph Hein, "Die Intelligenz hat angefangen zu verwalten und aufgehört zu arbeiten. Ein Gespräch", Öffentlich arbeiten (Berlin und Weimar: Aufbau Verlag, 1987) 158.

14. Gerhard Schulz, "Schonzeit für Helden. Christoph Heins Roman 'Willenbrock' erzählt von den Kränkungen der kleinen Leute", Frankfurter Allgemeine Zeitung 8. Juli 2000.

15. Helmut Böttiger, "Die Sicherheiten schwinden. Von der Zerrüttung der Tatmenschen: Christoph Heins 'Willenbrock' und der kapitalistische Realismus der Gegenwart", Frankfurter Rundschau 24. Juni 2000.

16. Gustav Seibt, "Alles wird Asien. Das Ende der zivilisatorischen Sicherheiten: Christoph Heins neuer Roman ist ein düster-schwarzes Denkspiel über die Grenzenlosigkeit seit 1989", Die Zeit 21. Juni 2000.

17. Helmut Böttiger, "Die Scherheiten schwinden ..."

18. Katrin Hillgruber, "Ein Antiheld der inneren Sicherheit ..."

19. Dorothea Dieckmann, "Tristesse totale ..."