Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 15/2002
Kindheiten in Ost und West: Zu Christoph Heins Von allem Anfang an und Claire Beyers Rauken
Wolfgang Ertl
I.
In einem 1996 erschienenen sozialwissenschaftlichen Sammelband mit Studien zur Sozialisation von Kindern vor und nach der Wende fordert Hans-Dieter Schmidt, daß einer "Analyse der Erziehungsbedingungen in der DDR [...] dringend diejenige der zeitgleichen Bedingungen in der alten BRD folgen" sollte: "Nur auf diese Weise ließe sich das weitverbreitete Vorurteil beseitigen, westlich der Elbe habe es damals nur ein demokratisches, humanistisches, tolerantes, entwicklungsfreundliches (und ähnlich positives) Erziehungsmilieu gegeben, dies im Gegensatz zu den allseits und allerorten finsteren und repressiven DDR-Verhältnissen."1 Im folgenden Vergleich von zwei Romanen aus den späten neunziger Jahren geht es zwar nicht um eine soziologische, literatursoziologische oder pädagogische Fragestellung, sondern um eine Analyse der Fiktionalisierung von zeitgleichen Kindheitserlebnissen. Der Wahrheitsgehalt dieser fiktionalen Kindheitsporträts und Darstellung der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Entwicklung ist dabei sicher nicht unbeträchtlich. Christoph Hein ist bekannt für seinen scharfen Blick auf die Gesellschaft und sein Selbstverständnis als Chronist seiner Zeit. In ihrem Bemühen um Authentizität hat sich Claire Beyer bei ihren langjährigen Recherchen für ihren Roman "mit Verhaltensforschung und Soziologie beschäftigt"2 und sogar Frauen interviewt, die die fünfziger Jahre als Kinder erlebt haben.3
Christoph Heins 1997 erschienener Roman Von allem Anfang an reiht neun Episoden aus dem Leben des zwölf- oder dreizehnjährigen Daniel aneinander, die einerseits so wohldurchkomponiert sind, daß sie fast allein stehen könnten, die sich andererseits aber zu einem Gesamtbild erlebter Kindheit in der Anfangsphase der DDR-Geschichte zusammenfügen.
Der Vergleich mit der Biographie des Autors legt zunächst nahe, daß es sich um ein weitgehend autobiographisches Werk handelt. Es scheint, als sei auch Christoph Hein wie so mancher Autor aus der DDR nach der Wende endlich dem Drang erlegen, sich autobiographischer Bilanzziehung zuzuwenden, etwa im Gefolge Günter de Bruyns, der in seinem Buch Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur (1999) fordert: "In Sachen der Selbsterkenntnis sollten wir mehr für Geschichtsschreibung sein als für Dichtung, mehr für die Autobiographie als für den Roman."4 Christoph Hein vergleicht seine schriftstellerische Tätigkeit gern mit der eines Chronisten. Wie er in seinem Vortrag "Abstand, Distanz und Nähe" von 1994 ausführt, geht es ihm um Chronik seiner Zeit und Gesellschaft und um genaue Aufzeichnung des Gesehenen und Erlebten:
[I]ch bemühe mich dabei, den Tugenden der alten Chronisten nachzueifern, nämlich ohne Haß und Eifer Bericht zu geben, sine ira et studio. Das erfordert gleichermaßen Distanz und Nähe. Ich kann nur über das Eigene sprechen, anders gesagt: ich muß in dem Zu-Berichtenden zuvor mich selbst entdecken und ausforschen. Ich muß begreifen, daß die Geschichten, die ich zu erzählen habe, Geschichten von mir und über mich sind. [...] Chronist sein heißt dann, zuallererst von sich selbst Bericht zu geben. Das fördert, denke ich, den genaueren Blick und die gründlichere Sicht. Und es verhindert - vielleicht - das rasche Urteil.5
Zu den unschwer erkennbaren biographischen Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur Daniel und Christoph Hein gehören dementsprechend die Herkunft der Familie aus Schlesien, die Kindheit des Pfarrersohns in einer mitteldeutschen Kleinstadt und der Besuch eines Gymnasiums in Westberlin. Die Teilnahme Daniels am Dramatischen Zirkel der Schule und überhaupt seine, wenn auch altersbedingt notwendigerweise unreflektierte, Sensibilität der Beobachtung seiner Umwelt könnten auch im Sinne einer sich ankündigenden Künstlernatur als autobiographisches Moment verstanden werden. Der Eindruck des Authentischen, den der Roman wohl der Genauigkeit im Detail der erzählten Ereignisse aus dem Leben des Jugendlichen verdankt, wird sicher noch verstärkt durch die Plausibilität des Autobiographischen.
Solche Aufzeichnungen von Kindheitserinnerungen dürfen sich zwar auf besondere Vertrautheit mit dem Gegenstand berufen, ihre Vollständigkeit leidet aber bekanntlich an Gedächtnisschwund, und ihre Authentizität ist arg gefährdet durch die Neigung zu nachträglicher Beschönigung oder Dramatisierung und gar Selbsttäuschung. Auf Günter de Bruyns oben zitierte Wertschätzung des Autobiographischen gegenüber dem Fiktionalen folgen auch einige skeptische Betrachtungen zur "Schwäche des Gedächtnisses", die der Wahrhaftigkeit der Autobiographie ihre Grenzen setzt: "Jede Wahrheit ist zeitbezogen. Jeder Rückblick trägt die Irrtümer und die Erkenntnisse der inzwischen vergangenen Zeit mit sich. Da ich nicht mehr so bin, wie ich zur erinnerten Zeit war, spielt alles, was inzwischen mit mir geschehen ist, in die Erinnerung mit hinein."6 Gleich im ersten Kapitel von Heins Roman meldet sich der offensichtlich erwachsene Erzähler zu Wort mit einem Kommentar zu der Lückenhaftigkeit seiner Erinnerung, -- er spricht von "eine[m] regelrechte[n] Mottenfraß"--, der sich wie ein Echo auf de Bruyns Überlegungen liest. Er wolle deshalb versuchen,
die Lücken zu füllen mit dem, was ich erlebt, und mit dem, was ich gesehen, aber nicht verstanden habe. Mit dem, was ich gehört habe, aber was mir nicht erzählt wurde. Und mit dem, was vor meinen Augen geschah und was ich dennoch nicht sah. Damals. Ich versuche, die Geschichten zu vervollständigen, sie mit den Bruchstücken der Erinnerung anzufüllen, mit Bildern, die sich einprägten, mit Sätzen, die aus dem dunkel schimmernden Meer des Vergessenseins dann und wann aufsteigen und ins Bewusstsein dringen. Manche dieser Bruchstücke haben schartige Kanten, die in mir etwas aufreißen. Kleine Schnitte in der Haut, aus denen etwas hervorquillt.7
Ähnlich wie in Christa Wolfs Erzählung "Blickwechsel" (1970) und ihrem Roman Kindheitsmuster (1976) ergibt sich in Heins Buch die doppelte Perspektive des pubertierenden Jugendlichen und rückblickenden Erwachsenen, der sich in einer gänzlich neuartigen historischen Situation befindet. Nun ist diese Einblendung einer Erzählerreflexion über die Schwierigkeit bei der Rekonstruktion der Geschichten aus der Kindheit und die erzählerische Lösung des mosaikartigen Zusammenfügens von Bruchstücken allerdings ebenso aufschlußreich wie rar im Gesamttext. Sie fällt fast aus dem hier selbstgesteckten erzählerischen Rahmen. Wie der Erzählerkommentar selbst ankündigt, dominiert tatsächlich die kindlich-jugendliche Perspektive Daniels. Es kommt der Ezählung durchaus zugute, daß sich nicht allenthalben ein um die weitere Entwicklung der DDR und ihr Ende wissender Erzähler einschaltet.
Wie Christine Cosentino in ihrem Aufsatz zu autobiographischen Werken der neunziger Jahre ausführt, fehlt bei Hein der "für de Bruyn so wichtige Aspekt bewußt angestrebter, klar erkennbarer Selbstauseinandersetzung des erfahrenen Autors".8 In einem Interview von 1994 hat Christoph Hein ausdrücklich seine Aversion gegen psychoanalytische Literarisierung bekundet und das Moment des Spielerischen hervorgehoben, womit er besonders die "Möglichkeiten des Potenzierens" des eigenen Lebens meint.9 Hein hat selbst wiederholt darauf hingewiesen, daß es sich um eine fiktive Autobiographie handelt, ja daß Von allem Anfang an nicht autobiographischer sei als alle seine früheren Prosawerke, einschließlich Das Napoleon-Spiel. Neben der weitgehend durchgehaltenen Erzählperspektive des jugendlichen Daniel verstärken auch die dialogischen Passagen, in denen andere Charaktere, wie Magdalena oder der Großvater, aus ihrem Leben erzählen, den fiktionalen Charakter des Buches.10 Die Entstehungsgeschichte des Romans ist übrigens dank eines ausführlichen Berichtes von Heins Lektorin Angela Drescher besonders gut dokumentiert. Demnach gab es mehrere Fassungen und verschiedene Pläne für die Kapitelanordnung. Als Titel hatte Hein ursprünglich "A. M. B. - Kleines Buch", später "Anna Magdalena Birke und ich. Kleines Buch" anvisiert, was möglicherweise darauf hindeutet, daß der mit soviel Wärme charakterisierten Tante Magdalena noch mehr Raum zugedacht war. Zu den Spielformen des Fiktionalen gehört, wie Drescher ausführt, "Autobiographie vorzutäuschen". Von allem Anfang an arbeite mit den Mitteln des Biographischen, [sei] aber keinesfalls eine Autobiographie": "Selbst wenn Elemente aus Christoph Heins Biographie zu erkennen sind (er erklärt, 10 Prozent des Erzählten seien Rudimente eigenen Erlebens, 90 Prozent erfunden - aber wer sollte wiederum diese Aussage nachprüfen können?), sind sie untrennbar in Erfundenes verwoben."11
Die Formulierung des Titels findet sich in Tante Magdalenas Antwort auf Dorles Klage, daß sich die Mutter und Großmutter immer streiten und nichts mehr so sei wie früher, als die Großeltern noch in Holzwedel wohnten und die Kinder die Sommerferien auf ihrem Hof verbringen konnten:
Dem Leben muss man von allem Anfang an ins Gesicht sehen. Ihr seid jetzt alle zusammen, das ganze Jahr über. Ihr müsst euch nicht mehr trennen, ihr könnt euch jeden Tag sehen. Das ist einfach so schön, dass man sich manchmal streiten muss. (140)
Auf diesen Kontext der Lebenshilfe der gütigen Tante für das Kind läßt der verkürzte Teil dieser Aussage, der als Titel übrig geblieben ist, kaum schließen. Er bleibt mit seiner Vieldeutigkeit in der Schwebe. Sicher läßt er sich auch auf das erzählerische Credo des nüchternen Blicks auf die Geschichte der DDR in ihren Anfängen beziehen. Das Buch beginnt übrigens mit dem Ende, d.h. der Übersiedlung Daniels nach Westberlin.
Die Darstellung unbeschwerter Kindheit nimmt breiten Raum ein und gibt dem ganzen Buch einen warmen Grundton. Das Unerklärte, Unverstandene, von dem im zitierten Erzählerkommentar die Rede ist, bleibt aber fast durchgehend präsent, im familiären und intim-persönlichen Bereich sowie dem gesellschaftlichen und politischen. So ist Daniel zum Beispiel beunruhigt darüber, daß die Mutter monatelang nicht mit dem Vater spricht, wie sich später herausstellt, weil sie schon wieder schwanger ist. Daniel hat Angst, die Eltern könnten sich scheiden lassen. Er erfährt auch durch Tante Magdalena von der Eifersucht seiner Mutter. Von "rätselhaften Andeutungen" der Mutter wird gesprochen (28).
Genau in der Mitte des Buches steht das Kapitel "Am Russensee". An diesem wegen Minengefahr für die Öffentlichkeit gesperrten See kommt es dazu, daß Daniel seinem älteren Freund Jochen und Pille beim Liebesakt zusieht und seine erste Ejakulation erlebt. Zu der Verwirrung des pubertierenden Jungen kommt seine Fassungslosigkeit, als er erfährt, daß Pille in die Partei eintreten werde:
Aber wenn Pille in die Partei eintrat, war das vielleicht doch nicht so schlecht, wie Vater und Großvater sagten. Ich hatte ihre Brüste gesehen, die großen roten Brustwarzen, das feuchte Schamhaar, von dem die Wassertropfen herabrollten. Diese Bilder mischten sich in meinem Kopf mit der Partei, und ich war verwirrt. (99)
Das Thema der erwachenden Sexualität steht auch in dem Kapitel "Die schlummernde Venus und die Hausordnung" im Mittelgrund, in dem Daniel seiner nackten Freundin Mareike beim Tanz zusieht. Der Darstellung dieser intimen Pubertätserlebnisse kommt sicher größere Bedeutung zu als der Ausmalung des historisch-politischen Hintergrundes, wie Dennis Tate betont:
The post-unification desire to read it as a source of information about the GDR of the middle 1950s or for the clues it may provide to the GDR's subsequent downfall should thus rapidly give way to a proper consideration of its literary value, allowing the possibility of placing it in the broader German cultural context which stretches back a century to classical accounts of adolescence such as Frank Wedekind's Frühlings Erwachen and Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törless.12
Das heißt nicht, daß Hein in diesem Buch den gesellschaftlich-politischen Kontext gänzlich ausgeklammert hätte. Er ist, im Gegenteil, wie Tate nachweist, sorgfältig rekonstruiert. In der Episode mit Pille wird das sinnliche Erlebnis erotischer Schönheit mit dem Ausdruck politischer Pragmatik verknüpft. Pille weiß, warum sie in die SED eintreten will: "Wer was ändern will, muss da eintreten. Und ich will was erreichen. Ich will was aus meinem Leben machen, etwas Richtiges" (99). Ironischerweise erfährt Daniel später von seiner Großmutter, daß Pille, "dieses dumme Ding", sich ein Kind hat machen lassen und keinen Vater dazu habe: "Diese Trine hat sich für ihr Leben ruiniert" (141). Die historische Dimension bleibt zwar im Hintergrund, durchdringt aber trotzdem alle Lebensbereiche. Die subtile oder auch eklatante Vernetzung der Bereiche des Persönlichen und Politischen wird immer wieder sichtbar, allerdings weitgehend ohne daß der kindlich-jugendliche Protagonist sie durchschaut. Altersbedingt fehlt ihm sowieso auch das Interesse für das Politische.
Einige weitere Episoden, in denen der politische Kontext im privaten Leben aufscheint, seien noch erwähnt. Die Kinder beobachten zum Beispiel das "verschwörerische Verhalten" (29) des Vaters, wenn sich Gemeindemitglieder, die in den Westen zu fliehen planen, mit ihm besprechen oder von ihm verabschieden. Zu Weihnachten bekommen sie Taschenkalender aus dem Westen, die sie wegen der darin verzeichneten Feiertage und politischer Witze nicht mit in die Schule nehmen dürfen. Der Großvater wird als Gutsverwalter entlassen, weil er sich weigert, in die Partei einzutreten und sich den "Bestimmern" (81) unterzuordnen: "mit einem Parteiabzeichen kriege er kein Ferkel groß" (78). Ein Besuch der Familie bei David, der in Westberlin das Gymnasium besucht und in einem Schülerheim wohnt, fällt zusammen mit den Tagen des Aufstandes in Ungarn von 1956. Daniel ist fasziniert von der Leuchtschrift am Kurfürstendamm, wobei ihn nicht so sehr die Nachricht über die Niederschlagung des Aufstandes durch russische Panzer beeindruckt, sondern die Gelassenheit und Unberührtheit der Westberliner Passanten, die er für weltmännisch hält.
Von besonderem Interesse ist der Themenkreis Religion und Kirche, allerdings erstaunlicherweise auch nicht so sehr für Daniel. Als Pfarrerssohn muß er sich einerseits abfällige Bemerkungen über seinen als Pfaffen titulierten Vater gefallen lassen und wird zu den "politisch unreifen Schülern" (194) gerechnet, denen der Besuch der Oberschule in der DDR verwehrt wird. Andererseits hat seine Herkunft aus dem religiösen Elternhaus den Vorteil, daß er wie sein älterer Bruder David in Westberlin aufs Gymnasium gehen kann, was ihn zwar auch etwas beunruhigt, aber doch ebenso sehr reizt. Der obligatorische Kirchenbesuch am Sonntag morgen ist ihm und seinem Bruder ebenso "unerfreulich und bedrückend wie die Vormittage in der Schule": "Er war für mich sogar ärgerlicher, da der Schulbesuch ein allgemeines Missvergnügen war, ein Schicksalsschlag, dem sich keiner meiner Freunde und Altersgenossen entziehen konnte, der Kirchgang aber für keinen der anderen Schüler eine Pflicht war, bis auf eine streng katholische Mitschülerin, die dauernd die Messe ihrer Kirche besuchte" (169). Am Altarbild in seiner Kirche, das die vier Evangelisten abbildet, beeindruckt Daniel vor allem der Evangelist Lukas mit den grünen Augen und dem gelassenen, teilnahmslosen Blick auf den Gekreuzigten.
Daniels Wunsch, wegzuziehen aus der kleinen Stadt, ist auch eher psychologisch begründet als ideologisch beeinflußt. Der Vergleich zweier ähnlicher Passagen in Von allem Anfang an und Heins 1985 erschienenem Roman Horns Ende zeigt übrigens eine erstaunliche Abmilderung der negativen Sicht auf die Kindheitsjahre in dem Roman nach der Wende. Horns Ende beleuchtet die Umstände, die zum Selbstmord von Horn, einem Museumsdirektor einer Kleinstadt, führten. Die Geschichte spielt ebenfalls in den fünfziger Jahren in der DDR und wird durch die verschiedenartigen Brillen mehrerer Stadtbewohner, die sich auf ihre individuelle Art an das Ereignis zurückerinnern, rekonstruiert. Eine der Perspektiven ist die des Kindes Thomas, der in einigen Zügen durchaus Daniel ähnelt. Die Jahre der Kindheit sind in Horns Ende allerdings, ganz dem düsteren Gesamtbild der schonungslosen Chronik einer korrupten und lieblosen Gesellschaft entsprechend, dermaßen unerquicklich, daß Thomas sich nichts sehnlicher wünscht, als sich von der Stadt Guldenberg "und den schlimmen elf Jahren [s]eines bisherigen Lebens vollständig zu lösen":
Ich wollte sie vergessen, austilgen, so gründlich, als seien sie nie gewesen. [...] Und ich wollte nicht mehr hören, daß die Kindheit die schönste Zeit eines Lebens sei, daß alle Erwachsenen sich angeblich nach dieser furchtbaren Hilflosigkeit, nach diesem Umhergestoßensein, diesen mich bis in die Träume bedrückenden Abhängigkeiten sehnen. Ich wollte erwachsen sein, um allein über mich verfügen zu können. [...] Ich war überzeugt, daß mein späteres, wirkliches Leben wunderbar werden, daß ich selbst über mich erstaunt sein würde. Ich würde diese Stadt verlassen, verlassen und vergessen, und mit ihr alle mir angetanen Kränkungen und Demütigungen. Ich würde gehen, um endlich zu leben.13
Daniel kommt dagegen eigentlich erst durch die Frage Kades vom Zirkus Veltroni, ob man in der Stadt leben könne, zu der ihn selbst überraschenden Antwort: "Nein, hier kann man nicht leben. [...] Die Stadt ist langweilig" (109). Es ist auch fast mehr Imponiergehabe des Jungen gegenüber Kade, wenn er ihm stolz berichtet, daß er in zwei Jahren wie sein älterer Bruder nach Westberlin gehen würde. Daniels Wunschvorstellung , mit den Veltronis in die Welt zu reisen, ähnelt der Passage aus Horns Ende, ist aber mehr Ausdruck einer kindlichen Schmoll- und Trotzhaltung und naiver Träumerei als bittere Reflexion über die Kindheitsjahre als nicht wirklich gelebtes Leben:
Seit Tagen, seitdem ich zum ersten Mal die Plakate der Veltronis gesehen hatte, dachte ich daran, heimlich aus der Stadt, aus dem Elternhaus zu verschwinden. Alles hinter mir lassen, die Schule, die Lehrer, die Streitigkeiten und Schlägereien auf dem Schulhof [...] Und meine Eltern wollte ich bestrafen. Wenn ich verschwunden war, würden sie es bereuen, dass sie mich so wenig beachtet und Dorle und die Kleinen unaufhörlich vorgezogen hatten. Einfach mit den Veltronis mitreisen, aus der Stadt weg, durch das ganze Land. Ich würde die Welt sehen, und irgendwann, nach vielen Jahren, würde ich wiederkommen, und alle würden mich bewundern. (115, 116)
Im letzten Kapitel des Buches ist dann zwar von Daniels Verbitterung wegen der "Langeweile" und "Ereignislosigkeit" im Leben der Kleinstadt und in seiner Familie die Rede. Immerhin ist Daniel der "Gedanke, daheim zu bleiben und nicht in die aufregende, aber beunruhigende Großstadt zu fahren, [...] nicht unangenehm" (188).
In einem Interview von 1997 sprach Hein davon, daß wir "irgendwann [...] auch die letzte fürchterliche Wahrheit über die DDR erfahren [werden]: Sie war ein ganz gewöhnlicher deutscher Staat."14 Es ist genau diese Normalität in den Freiräumen oder auch Nischen privater Lebensformen und den staatlichen Bevormundungen und Restriktionen, die sich in Von allem Anfang an abzeichnet. Heins jüngerer Dichterkollege Steffen Mensching sprach 1992 von den "Inseln der Kindheit in einem Meer aus Lügen", über die "vielleicht irgendwann Romane geschrieben" werden.15 In Von allem Anfang an geht es um solche Inseln, aber nur zum Teil. Das Buch ist weit entfernt von nostalgischem Rückblick und beschränkt sich keineswegs auf die lichten Momente unbeschwerter Kindheit und Jugend, sondern offenbart die Widersprüchlichkeit der Anfangsphase der DDR. Bei aller Wärme, die das Buch, besonders auch im Vergleich mit Heins früheren Prosawerken auszeichnet, bewahrt es die Genauigkeit des Chronisten sine ira et studio. Wir finden weder scharfe Verurteilung noch Beschönigung der DDR der fünfziger Jahre. Wie Dennis Tate bemerkt:
The striking absence of the simplified ideological stocktaking (whether for or against the GDR) which had such a distorting effect on the work of ex-GDR authors in the first half of the 1990s makes Von allem Anfang an in a refreshing sense a Nach-Wende-Roman, setting the tone for the more measured reassessment of life in the GDR which can only properly begin as the turbulence of the years of transition begins to subside.16
II.
Claire Beyers Debütroman Rauken erschien im Jahr 2000, drei Jahre nach Heins Von allem Anfang an. 1947 im Allgäu geboren, lebt sie heute in Markgröningen bei Ludwigsburg und arbeitet als Bankkauffrau. Sie hat Lyrik und Kurzprosa verfaßt, sowie das Textbuch zu dem Musical von Horst Dillmann Camille Claudel. Ich bin die Königin der Steine.17 Die Protagonistin ihres Romans ist das Mädchen Vroni, das in den frühen fünfziger Jahren im Allgäu aufwächst. Im Unterschied zu Heins Roman ist Beyers Buch ein durchweg dunkler, melancholischer Grundton zu eigen. Das Mädchen, zu Beginn als Sechsjährige gerade erst in der Schule, ist am Ende 13 Jahre alt. Es erlebt seine Kindheit in den Zwängen einer bayrischen Großfamilie, der ein hartherziger Großvater vorsteht, von dem die ganze Familie finanziell abhängig ist und der auch als Bürgermeister, Bäcker und Metzger die Macht im Dorf ausübt. Vroni wird von ihrem jähzornigen, brutalen Vater mißhandelt, der als Invalide aus dem Krieg zurückgekehrt ist, und findet auch bei ihrer apathischen und lieblosen Mutter keinen Schutz.
Zuflucht, Verständnis und Hilfe findet das geplagte Kind, das immer wieder als Sündenbock für die mißlichen Geschicke der Familie hinhalten muß, nur bei Figuren außerhalb der Familie. Da ist der beim Großvater angestellte russische Kriegsgefangene Ivan, der Vroni Märchen erzählt und ihr hilft, ein Protokoll des Großvaters zu entwenden, das Information über die schmutzigen Intrigen der Gemeinde gegen die jüdische Fabrikantenfamilie enthält. Er wird deswegen vom Gut verjagt. Besonders ins Herz geschlossen hat Vroni den Klavier spielenden Krüppel Pierre, ihren als Mozart verkleideten "Prinzen", aus dieser jüdischen Familie, mit dem zu spielen ihr streng verboten ist, in dessen Haus sie aber glückliche Stunden der Verzauberung erlebt:
So waren die Stunden im verbotenen Haus. Sie vergaß den harten Tritt von Vaters Stiefeln, seine gespannte, knochige Faust, die schlug, was sich ihr näherte, ihr eigenes Weinen und den Geruch des Todes. Sie schaute auf Pierre. Sein schiefer Gnomenkörper wurde geheilt durch seine Hände und durch seine Musik. Sie hörte mit ihrer Haut, sah, wie sie sich zusammenzog, weinte das stumme Weinen der nicht gefundenen Worte. (14)18
Nach der vom Großvater erzwungenen Übersiedelung nach München findet die jetzt fast achtjährige Vroni in dem ehemaligen Lehrer Albert, der nach dem Krieg als Hüter des Denkmals Bavaria tätig ist, einen neuen Freund und Vertrauten. Ansonsten ist das Kind in seiner außerfamiliären Umwelt völlig isoliert: "Die Spiele der Dorfkinder waren ihr fremd" (89).
Claire Beyers Buch ist keine Autobiographie, sondern ein in der dritten Person erzählter fiktionaler Text, dessen erzählerische Instanz keineswegs im Sinne sachlicher Aufzeichnung einer Kindheitsgeschichte hinter die Romanfiguren zurücktritt. Der im wesentlichen chronologisch gegliederte Text stellt den Gesamtzusammenhang einer sich in bedrückender Atmosphäre zaghaft entwickelnden kindlichen Lebensgeschichte dar. Im Unterschied zu dem doch eher dramatischen Temperament Heins macht sich das lyrische Naturell der Dichterin bemerkbar. Beyers metaphernreiche Prosa ist ebenso präzise wie anschaulich. Zahlreiche Poetisierungen und einige märchenhafte Anklänge19 geben einerseits Aufschluß über die besondere musische Sensibilität des Mädchens: "Vroni suchte nach Bildern für ihre Angst" (97), heißt es einmal. Sie sind aber andererseits auch Teil der gestalteten zeichenhaften Gesamtstruktur, durch die sich die körperlichen und seelischen Nöte des Kindes erschließen. Im Gewölbekeller des großen Hauses zum Beispiel "floss dunkles Wasser" aus den "kleinen Spalten und Vertiefungen": "Für Vroni war es das Blut der Steine, und sie fürchtete sich davor, es zu berühren" (16). Nachdem der wütende Vater einmal ihr Zimmer verlassen hat, sitzt Vroni "vor dem Spiegel, der einen Riss hat, von oben nach unten, sieht sich darin, geteilt wie ein Holzscheit im Hof" (21).
Nach einem Selbstmordversuch der Mutter werden Vroni und ihre jüngere Schwester von Onkel Max und Tante Hanni aufgenommen, die "wie Zauberer aus dem Nichts gekommen" waren und "ihr und der kleinen Cilly, die nun mit Murmeln spielte oder Schlösser aus Spielsteinen baute, einen Schutzschild aus Wärme um die Schultern" legten (70). An dieser Stelle wird Vronis Leben bezeichnenderweise als Buch bezeichnet, "das sie gerade las": "Sie fürchtete, dass es enden würde, aber die letzten Seiten waren von Beginn an darin eingebunden" (70). Als dann der Großvater kommt, um sie und ihre Mutter aus der Pflegeanstalt wieder in sein Haus zu holen, heißt es: "Es war da, das von ihr so gefürchtete Ende des Buches war da" (71). Hier wird die Fiktionalisierung des Lebens selbst thematisiert.
Verzweifelt sucht das Kind Rettung vor der bevorstehenden erneuten Tyrannei des Vaters und öffnet sich dem freundlichen Nachbarn Januarius Werz in der Hoffnung, bei ihm und seiner Frau bleiben zu dürfen. Der Nachbar aber belehrt sie: "Das mit dem Dableiben gehe nicht, das Leben sei beschlossene Sache, der Einzelne könne nichts dagegen tun" (96). Nach dem Tod des Großvaters muß Vroni dann wieder mit dem Vater zusammenleben. Er hat jetzt die "Macht, und er verteidigt sie mit allen Mitteln" (99).
Vroni flüchtet sich jetzt immer mehr in ihre Träume:
Sie fand die Tage und Abende in sich. Trug ihr neues Leben wie einen Strauß Mimosen vor sich, hütete die zarten Blumen vor Zugluft und lauten Worten, band ihre Träume hinein und hatte noch Platz darin für Musik. Erzählte Pierre, dem Verschollenen, atemlos von ihrem neuen Zuhause, versprach, ihn zu finden, wenn sie erst älter wäre, alt genug, den Großvater zu fragen, ohne seine Antwort fürchten zu müssen. Ja, so viel wollte sie erreichen mit dem Wachsen (88).
Auf einem ihrer Botengänge kommt sie an einer Kapelle vorbei, an der eine Inschrift angebracht ist, die von der Vierteilung des Viehdiebs Korbinian Lederle berichtet. Vroni identifiziert sich mit dem Hingerichteten. In einer Tagtraumszene manifestiert sich jetzt aber der erwachende Wille zum Widerstand:
Vroni suchte sich eine weiche Mulde abseits des Weges, warf sich ins Gras, streckte Arme und Beine von sich. An jeder ihrer Gliedmaßen spürte sie die eisernen Schellen, Ochsen zogen sie auseinander, bis sie Halt schrie und die Tiere stoppten. Die Richter und Schergen wurden unsicher, versuchten die Ochsen weiter anzutreiben, aber das Halt von Vroni galt mehr als die Peitschenhiebe der Treiber. Halt. Halt. Der Schmerz verschwand, und waren es die Ochsen gewesen, die anhielten, sah sie jetzt ihren Vater, sah sein Hirschhornmesser, und auch er konnte nicht zuschlagen, ihr Halt! in der weichen Grasmulde stoppte jede Qual. Sie schrie es hinaus, bis die Vögel auf den Bäumen aufgeschreckt davonstoben und schließlich ihre Stimme versagte. Korbinian Lederle, weinte sie dann leise, warum hast du es nicht wenigstens versucht! Die stumme Zwiesprache mit ihm wurde zum festen Bestandteil auf ihrer Wegstrecke, der Schrei gelang ihr lauter und länger, niemals wieder war sie so frei und stark. (91, 92)
Es gelingt Vroni gegen Ende des Romans schließlich, Pierres neue Wohnung in Augsburg zu finden. Seine verbitterte und verwirrte russische Großmutter verhindert aber ein Wiedersehen der beiden und klagt: "Niemals hätte sie in dieses braune Land gehen sollen. Alle Wege dort seien Blutwege" (119, 120). Sie beschimpft Vroni, die Enkelin des Großvaters, der ihrer Familie die Spinnerei und Lebensgrundlage ihrer Familie geraubt hat, als "kleine deutsche Nazi-Hure" (123). Es gibt Andeutungen, daß Vroni sich mit Selbstmordgedanken trägt. Einmal läuft sie auf Geleisen und springt erst vor dem entgegenkommenden Zug zur Seite, "weil sie sich nicht opfern kann" (125). Es bleibt am Ende in der Schwebe, ob sie die entsicherte Pistole des Vaters, in deren Besitz sie gekommen ist, auf sich selbst oder den wieder einmal wutentbrannten Vater richten wollte. Es heißt nur, daß sie es nicht tun konnte.
Im Haus ihres Onkels und ihrer Tante erfährt Vroni, daß der Vater nicht immer so gewesen sei: "Der Krieg sei schuld. Und die alte Hexe. Der Krieg, weil er die, die er nicht töte, trotzdem umbringe, denn er lasse sie ohne jedes Gefühl für Leben oder Tod, für Liebe oder Freude, für Wärme oder Kälte zurück. Und die alte Hexe sei die neue Frau des Förster-Opas, die sie alle aus dem Haus warf, um den mitgebrachten Balg, den mistigen, ins gemachte Nest zu setzen" (69). Vronis Mutter versucht auch in ihrer Hilflosigkeit, die Wutanfälle des Vaters durch seinen "Splitter im Kopf" und den Krieg zu erklären. Am Ende des Romans, in dem Augenblick, als Vroni mit als Monster bemaltem Gesicht den Vater daran hindert, die Pistole an sich zu reißen und laut sagt, daß sie jetzt keine Angst mehr habe, bricht der Vater zusammen: "Der Splitter. Ist Millimeter weitergewandert, fällt ihn wie einen Baum" (127). Als Vroni den Vater im Pflegeheim besucht, schaut sie in "fremde Augen": "Obwohl völlig angezogen, sitzt der Vater nackt da, und eine furchbare Scham lähmt alle Worte" (130).
Auch in Claire Beyers Roman stehen das alltägliche Leben im Kreis der Familie und die Privatsphäre des Kindes im Mittelpunkt. Der politische Kontext bleibt noch stärker als bei Hein im Hintergrund. Und doch ist auch in Beyers Roman die gesellschaftliche Situation der frühen fünfziger Jahre in Westdeutschland als die Kindheitsjahre der Protagonistin verdüsternder Schatten präsent. Claire Beyer "erzählt in ihrem Debütroman", wie Elke Heidenreich im Spiegel schreibt, "in dichten, beklemmenden Bildern ohne Kitsch und Wehleidigkeit ein todtrauriges Stück Geschichte."20 Wie es in einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung heißt: "[I]n der kindlichen Existenz spiegelt sich die Gesellschaft wieder, die junge Bundesrepublik mit seinem Wirtschaftswunder in der verletzten Seele des kleinen Mädchens."21 Die autoritären Machtstrukturen dieser Nachkriegsgesellschaft manifestieren sich in der korrupten Gemeindeverwaltung des kaltherzigen Großvaters und den familiären Abhängigkeitsverhältnissen. Hinter den habgierigen Intrigen, die zum Konkurs der Fabrik der jüdischen Familie und ihrer Vertreibung geführt haben, zeigt sich das häßliche Gesicht des Antisemitismus. Von "Kommunisten- und Judenanhang" (18) ist im Dorf die Rede. Über die Nazi-Vergangenheit hüllt sich diese Gesellschaft ansonsten in Schweigen: "[A]lles, was den Krieg betraf, bargen die Erwachsenen in verschlossenen, grauen Gesichtern" (85).
Aufschlußreich ist auch ein Blick auf die Rolle der Kirche. Daniel in Heins Buch hatte überraschend wenig im Sinne mit der Seelsorge der protestantischen Kirche seines Vaters. Und von Vroni heißt es, daß es "keine Gebete [waren], die sie kniend auf den harten Holzbänken sprach": "Sie sah auf das stumme Gegenüber am Kreuz. Manchmal schämte sie sich angesichts seiner Schmerzen und Nacktheit, kam dennoch immer wieder, es musste doch möglich sein, ein geeignetes Opfer zu bringen, um Gottes Hilfe herbeizurufen" (103). Von dem jungen Vikar, der sich ihrer annimmt, wird sie schließlich auch enttäuscht, da er ihr erklären muß, daß sie als Mädchen nicht bei der Messe ministrieren dürfe. Sie solle doch "an die zweitausendjährige Wahrheit der katholischen Kirche denken" (107). So findet sie auch in der Kirche keinen Trost. Gleich am Anfang des Romans erlebt das Kind entsetzt die Handlung der Letzten Ölung: "Ihm schien, dass mit dieser Zeremonie der Lebende in den Tod gestoßen wurde. Wer schon getraute sich, nach einer Letzten Ölung weiterzuleben" (5). Im Kontrast zu den Klängen von Pierres Mozartspiel, nach dem Vroni sich in ihrer Einsamkeit sehnt, heißt es an späterer Stelle: "Auch aus der Kirche kein warmer Klang. Von dort kam manchmal die Orgelmusik, schwer wie eine Grabplatte" (93).
Auch in Claire Beyers Roman bleiben ratlose Fragen des Kindes unbeantwortet. Im Unterschied zu Heins Text ist ein klagender Grundton unmißverständlich. Dabei finden sich dennoch keine vordergründigen Schuldzuweisungen. Die Wutausbrüche des trunksüchtigen Vaters lassen sich erklären durch seine Kriegsverletzung. Nachdem der Splitter im Gehirn sich ein wenig bewegt hat, verwandelt sich der gefürchtete Mann in ein hilfloses Wesen im Rollstuhl.
Von Vronis Freund Ivan stammen die folgenden Überlegungen zur Kindheit:
Da gibt es Kindertage und Tage. Kindertage sind doppelt so lang, zweimal so groß und vielmal so breit. Die wollen fast nicht enden. Und weil das so ist, ist auch jede Angst größer, jeder Hunger schlimmer, und an den Durst vermag er gar nicht mehr zu denken. Kindertage sind immer heller und dunkler, trauriger und fröhlicher. (34)
Vielleicht versteckt sich hinter Ivans Reflexion auch ein Hinweis auf autobiographische Besinnung der Erzählerin auf die eigene Kindheit, die zu dieser poetischen Prosadarstellung anregte, denn wie Ivan weiter ausführt: "Aber eines Tages werden [die Kindertage] einem weggenommen, und manche suchen danach ein Leben lang, und manche finden sie auch ganz spät in ihrem Leben wieder" (34).
Anmerkungen
1 Hans-Dieter Schmidt, "Erziehungsbedingungen in der DDR: Offizielle Programme, individuelle Praxis und die Rolle der Pädagogischen Psychologie und Entwicklungspsychologie", Sozialisation und Entwicklung von Kindern vor und nach der Vereinigung, hrsg. v. Gisela Trommsdorff (Opladen: Leske u. Budrich, 1996) 21.
2 Adrienne Braun, "Spätes großes Glück", Stuttgarter Zeitung 8. März 2001.
3 dg, "Ein Buch voller beklemmender Bilder", Bietigheimer Zeitung 28. April 2001.
4 Günter de Bruyn, Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verl., 2001) 13.
5 Christoph Hein, Die Mauern von Jerichow. Essais und Reden (Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1996) 112.
6 Deutsche Zustände 13.
7 Christoph Hein, Von allem Anfang an (Berlin: Aufbau-Verlag, 1997) 10-11. Seitenangaben in Klammern nach Zitaten aus dem Roman beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.
8 Christine Cosentino, "Überlegungen zu Formen autobiographischen Schreibens in der östlichen Literatur der neunziger Jahre," glossen 12 (2001): <www.dickinson.edu/glossen/heft12/autobiographien.html>.
9 Hyunseon Lee, "Günter de Bruyn - Christoph Hein - Heiner Müller. Drei Interviews," MuK. Veröffentlichungen zum Forschungsschwerpunkt Massenmedien und Kommunikation an der Universität - Gesamthochschule Siegen (1995/96): 46.
10 Vergl. besonders Dennis Tate, "'Mehr Freiheit zur Wahrheit': The Fictionalization of Adolescent Experience in Christoph Hein's Von allem Anfang an," Christoph Hein, hrsg. v. Bill Niven u. David Clarke (Cardiff: University of Wales Press, 2000) 117-134.
11 Angela Drescher, "Unvollständige Rekonstruktion: Über das Lektorat des Buches Von allem Anfang an von Christoph Hein," Christoph Hein, hrsg. v. Bill Niven u. David Clarke (Cardiff: University of Wales Press, 2000) 39.
12 Mehr Freiheit zur Wahrheit" 123.
13 Christoph Hein, Horns Ende (Darmstadt: Sammlung Luchterhand, 1987) 56.
14 "Der Kürbis, die Mauer und ein Gärtner in Berlin", Mitteldeutsche Zeitung 7. Oktober 1997.
15 Steffen Mensching, "Als ich ein Aligator war", Begrenzt glücklich. Kindheit in der DDR, hrsg. v. Wilhelm Solms (Marburg: Hitzeroth, 1992) 51.
16 "Mehr Freiheit zur Wahrheit" 132.
17 Claire Beyers Veröffentlichungen finden sich in verschiedenen Anthologien und dem Band Texte (Schwieberdingen: Dillmann, 1989).
18 Claire Beyer, Rauken. Roman (Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2000). Seitenangaben in Klammern nach Zitaten aus Rauken beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.
19 Elsbeth Pulver spricht in ihrer Rezension "Miniatur einer finsteren Kindheit" von einem "schwarze[n] Märchen" (Neue Zürcher Zeitung 1. März 2001).
20 Elke Heidenreich, "Verstummt, versteinert", Der Spiegel 1 (2001): 121.
21 Manuela Reichart, "Rauken statt Rosen", Süddeutsche Zeitung, Literaturbeilage 18. Oktober 2000.