Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 15/200
Alchemistische Schriften als Ordnungsprinzip der Identitätsfindung:
Gabrielle Alioths Die stumme Reiterin
Silke R. Falkner
Gabrielle Alioth, Ökonomin aus der Schweiz, siedelte 1984 nach Irland um und betrat auch beruflich Neuland: Sie begann zu schreiben. Ihrem ersten Roman, Der Narr (1990), folgten Wie ein kostbarer Stein (1994) und Die Arche der Frauen (1996),1 und schließlich, 1998, Die stumme Reiterin.2 Alle vier Romane reflektieren Alioths eigene geographische Bewegungen in narrativer Technik, rhetorischen Figuren und Inhalten. Vorwärtsgetrieben werden die Erzählungen durchweg durch Motive der Reise und der Veränderung, und Alioths Technik des "Verbergens und Verschleierns"3 erfordert vom Leser eine zunehmend schwierigere Sinnsuche. Ich habe an anderer Stelle das Thema der Sinn- bzw. Textproduktion in der Reiterin untersucht, indem ich auf Wolfgang Isers wirkungsästhetische Theorie und Mikhail Bachtins Konzept der Redevielfalt zurückgriff.4 Dabei konnte leider das auch inhaltlich aufgegriffene Thema der Alchemie nicht angemessen ausgewertet werden, was ich nun hier tun möchte: Das Verschlüsselungsverfahren alchemistischer Schriften soll als narratives Ordnungsprinzip der Identitätsfindung aufgezeigt werden, wobei in diesem Fall mit Identität die Übereinstimmung von subjektiver Einschätzung des Ich und der Beurteilung der eigenen Person durch andere gemeint ist. Das Ich definiere ich für diese Zwecke empirisch als ein historisch bedingtes Ich mit seinen Erlebnissen. Eine Suche nach bzw. Konstitution von Identität findet in der Reiterin auf mehreren Ebenen statt: Der Protagonist Mathis fahndet nach seiner Identität, und der Leser nach der Identität des Protagonisten, sowie auch der mehrerer anderer Romanpersonen.
Der Roman besteht aus biographischen Bruchstücken verschiedener fiktionaler Personen, welche, bei häufigem Perspektivenwechsel, in Beziehung gesetzt werden mit historischen Geschehnissen des vierzehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts, sowie der Herzog Ernst-Legende5 und Motiven aus Wolframs Parzival. Die komplexe Erzählstruktur führt dazu, daß Leser zur Suche nach Mathis' Identität animiert werden und dazu gehört seine Herkunft, sein Name, seine Liebesbeziehung und die Tochter, die er vielleicht zeugt aber daß die aufgeworfenen Fragen sich nie befriedigend beantworten lassen. In der Reiterin suchen sechs Männer-alle auf verschiedenen Wegen-nach einem geheimnisvollen verlorengegangenen Stein. Für Mathis ist diese Suche verbunden mit der Suche nach und Konstituierung eigener Identität: Er begibt sich zunächst auf den Weg, um den eigenen Namen zu finden, nimmt später als Schreiber an der Suche nach dem Stein teil und übernimmt schließlich im Labor des Apothekers Angelus von Florenz das alchemistische Werk, das zur Genese des Steins führen soll.
Der Stein ist aus einer Krone verschwunden, die mit dem vor 967 hergestellten Reichsinsigne, der 'Aacher Krone' oder 'Deutschen Kaiserkrone' identifiziert werden kann: einem Oktagon mit gut durchdachtem politisch-theologischem Programm. Während vier der Platten die Vorstellung des Himmlischen Jerusalems aus der Apokalypse manifestieren, interpretiert man die dazwischenliegenden Platten als die "Roma Quadrata, das irdische Rom und Sitz der kaiserlichen Herrschaft."6 Der ursprüngliche Hauptstein dieser Krone, wohl ein Opal, wurde historisch durch einen Saphir ersetzt. Diese Krone wird im Roman durch eine Zeichnung des Alchemisten Angelus von Florenz zitiert, wobei alchemistische Elemente die Konstruktion der Krone überlagern. Graphisch wird die harmonische Einheit dargestellt, die der Stein in der Reiterin symbolisiert: eine Einheit von Leben und Tod, Schöpfer und Schöpfung, von Herrscher und Volk. Die Suche nach dem Stein reflektiert die Sehnsucht nach einem harmonischen Ganzen, wobei eine harmonische, sinnvolle Identität Teil des Ganzen ist.
Der Meister zeichnet einen Kreis: 'Alles kommt aus Einem.' Er dreht das Papier auf dem Tisch. 'Aus ihm werden die vier Elemente der Welt: Erde, Feuer, Luft und Wasser', er zeichnet ein Quadrat in den Kreis, 'und darüber ruhen die Mauern des Heiligen Jerusalem, das uns am Ende der Zeit erwartet.' Er zeichnet ein zweites Quadrat quer über das erste in den Kreis und verbindet die acht Ecken. 'Das ist die Schöpfung, das Reich und die Krone, und wenn es uns gelingt, die Teile wieder zu einem zusammenzufügen, haben wir den Stein gefunden.' (R 171)
Der Kreis ist unschwer zu interpretieren als eine alchemistisch ausgelegte geometrische Figur der Eisenreifen, die die acht Platten der Kaiserkrone von innen zusammenhalten-alchemistisch daran ist die Verschiebung des Kreises von innen nach außen, was die Darstellung der aristotelischen Theorie des einen Urstoffs ("Alles kommt aus einem") und der ebenfalls aristotelischen Elementenlehre erlaubt. Das erste Quadrat, als "die Mauern des Heiligen Jerusalem" bezeichnet, und so dem Programm der Reichskrone entsprechend, stellt jedoch in diesem vierten Roman der Autorin gleichzeitig diese vier aristotelischen Elemente dar. Das zweite, von Angelus nicht benannte, Quadrat signifiziert demnach sowohl den irdischen Sitz des Reiches, als auch das Quadrat der aristotelischen vier Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken). Das Oktagon der Reichskrone wird in Angelus' Zeichnung zum Oktagon der Alchemie, welches einen Teil des 'kosmischen Diagramms' des Steins der Weisen ausmacht.7
Gleich Wolframs Gral und dem Hauptstein der Krone kann nur der Eingeweihte den Lapis philosophorum erkennen. Mathis bestätigt im alchemistischen Labor, "[d]er Stein ist der Unsichtbare, der Heilige, der gesegnete, der eine in allem. In seinem Glanz, heißt es, verschmelzen alle Farben, versöhnen sich alle Gegensätze; er verbindet Himmel und Erde" (R 171). Im Zentrum steht jedoch nicht nur der Stein, sondern auch der Mensch. In alchemistischen Büchern liest Mathis, "[n]ur wer selbst eins ist, wird das Eine schaffen" (R 171). Der Mensch, der "selbst eins ist" wird in Zusammenhang gebracht mit der Einheit der Materie und Elemente; d.h., der Mensch steht nicht nur im Zentrum, sondern er verkörpert auch die Harmonie. So symbolisiert der Stein die Identität des Menschen.
Der Apotheker Angelus von Florenz hat die Alchemie zunächst in Verbindung mit der Krankheitsbekämpfung kennengelernt: Als die Pest in Prag umging, habe er "die nutzlosen Kräuter in seinen Beeten betrachtet. Das Erbarmen habe ihm das Herz zerrissen. Da sei ihm die Tafel aus grünem Smaragd in den Sinn gekommen" (R 152), auf der "der dreimal weise Hermes das Werk beschrieben [habe]" (R 147, siehe auch 169). Mit dieser Tafel ist die Tabula Smaragdina des fiktiven Begründers der Alchemie, Hermes Trismegistos, gemeint, ein kurzer arabischer Text-einer der wichtigsten der gesamten Alchemie.8 Darin beschrieben findet sich die Herstellung des "gebenedeiten Stein[s] der Philosophen"-so bezeichnet beispielsweise von dem Alchemisten Bernhardi, der im fünfzehnten Jahrhundert gelebt haben mag.9 Angelus' Instruktion, "das Obere gleicht dem Unteren, das Innere liegt im Äußeren"(R 132), entspricht dem hermetischen: "Wahrhafftig / sonder lügen / gewiß / und auff das aller warhafftigst / daß diß so unten ist / ist gleich dem obern / und diß so oben ist / ist gleich dem undern / damit man kan erlangen Miraculen oder wunderzeichen eines einigen dinges [...]."10
Die Tabula Smaragdina belehrt, wie alle alchemistischen Texte, verschlüsselt und wird auch im Roman vielfach in dieser verschlüsselten Form mündlich rezipiert. Als Mathis beispielsweise einen anderen Alchemiekundigen nach der Tafel fragt, antwortet dieser: "Wahr, wahr ohne Zweifel und gewiss: das Untere gleicht dem Oberen, das Obere dem Unteren, zur Vollendung der Wunder des Einen. Und wie alle Dinge aus Einem sind, so werden auch alle aus Einem geboren. Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter der Mond, der Wind hat es im Bauch getragen, die Erde gesäugt, und seine Kraft ist vollkommen, wenn es wieder in Erde verwandelt ist"(R 176).11 Angelus habe "Tag und Nacht [...] in den geheimen Büchern gelesen, bis er die Ziffern und Zeichen verstand" und der Kaiser und seine Untertanen die Pest überstanden hatten (R 152-53). Die Bücher "beschreiben Pflanzen, Tiere, Steine und Metalle, und wie sie dem Menschen nützen und schaden"(R 146)-sowie die Herstellung des Steins der Weisen, den der Meister nun mit Hilfe seines alchemistischen Wissens zu schaffen sucht.
Obgleich der Lapis philosophorum möglicherweise gar kein Stein war, nicht einmal die Natur eines Steines hatte12, sondern ein Pulver, ein Elixier, vielleicht gar eine spirituell-materielle Einheit,13 wird er in diesem Roman, wie bereits in Angelus' Zeichnung deutlich wurde, mit dem gesuchten Stein aus der Kaiserkrone gleichgesetzt, allein schon durch transformierte Schreibweise. "Den Stein selbst aber [...] nannte der dreifach große Hermes den Waisen"(R 176) heißt es beispielsweise-hier wird das übliche 'ei' des "Weisen" der hermetischen Philosophie mit dem 'ai' des "Waisen" der Kaiserkrone (siehe z.B. R 55, 169, 227) vertauscht und dadurch der Stein zu einer möglichen Projektionsfläche verschiedenartiger Geschichten transformiert. Wie die oktagonale Kaiserkrone überlagert wird von dem Oktagon der Elemente und Qualitäten des 'kosmischen Diagramms' des Lapis philosophorum, so auch die Einheit des Reiches von dem von Aristoteles stammenden und für die Alchemisten zentralen Prinzip, daß "alle ding von einem ding allein beschaffen."14
Mathis hilft Angelus bei den typisch alchemistischen Verfahren, wird von ihm belehrt, und übernimmt schließlich seine Aufgaben im Labor. "Was die Natur beginnt", lehrt Angelus' alchemistisches Wissen, "kann durch die Kunst vollendet werden", (R 145) nämlich, wie die Tabula Smaragdina in ihrer verschlüsselten Weise andeutet, "durch einen weg und disposition."15 Dies geschieht vor allem durch Destillation, worunter man fast jeden Vorgang verstand, "bei dem ein Stoff von einer Stelle zur anderen geschafft wird [...] und der mit einem [...] Wechsel des Aggregatzustandes verbunden ist."16 Das Laboratorium im Kellergewölbe unter Angelus' Apotheke hält dazu die als "Alembik" bezeichneten "Glaskolben mit [...] spitzen Schnäbeln" bereit (R 146) den, so Thomas Brachert, "Helm des Destillierungsapparates."17 Der Apotheker behauptet, "mit seiner Kunst könne er das Verlorene wieder erschaffen" d.h., den verlorenen Stein-und zudem "Wohlstand, Wohlbefinden und Weisheit" (R 147) Der gesuchte Lapis philosophorum wurde nämlich im Mittelalter nicht allein als Agens bei der, naturgemäß den Wohlstand befördernden, Metallumwandlung (in Gold) verstanden, sondern auch als Allheilmittel mit lebensverlängernder und verjüngender Wirkung.18 Dies setzt den hier herzustellenden Stein auch wieder mit dem lapsit exillîs, dem Gral in Wolframs Parzival in Verbindung. Während der versuchten Herstellung des Steins verwendet Angelus typisch alchemistische Verfahren.19 Er "destilliert [...] silbrige Flüssigkeit" (R 154), "um ihren Geist zu befreien" (R 155), gibt den "Vater der Metalle" (R 151), Sulphur, hinzu, und verschließt alles in einem Gefäß, welches "rund sein [soll] wie der Sternenhimmel, der die Schöpfung lenkt, rund wie das Ei, aus dem das Leben schlüpft" (R 156). Unter Hitzeeinwirkung muß in dem hermetischen Kolben zunächst alles zerfallen, denn "alles [...] wird aus dem Tod" (R 161), und das Entstehende wird wie "der Schwanz des Pfauen" vielfarbig schimmern (R 163). Da der Stein der Weisen immer die Vereinigung von Gegensätzen manifestiert, ist auch hier eine Brücke zu Wolframs Parzival geschlagen, in dem ja Grals- und Artuskreis harmonisch vereinigt werden, und zum Stein der Krone, der die Einheit von Gott, Kaiser und Volk symbolisiert.20 Aus Büchern lernt Mathis wie bei der Synthese "die Farben sich ändern" (R 168). Für ihn ist der Stein "das Herz und die Lösung. Durch ihn werden Wünsche zu Wirklichkeit, Mist zu Gold, und er lässt das Junge aus der Asche des Alten steigen" (R 171),21 und anhand des Gelernten beobachtet er die Veränderungen im Glaskolben mit entsprechendem alchemistischen Emblemdenken: "Im Bauch des gelben Salamanders wächst er, und aus dem roten schlüpft er" (R 171). Der Salamander symbolisierte nicht allein die Feuerbeständigkeit mancher Stoffe, sondern war auch einer der vielen Namen für den Lapis philosophorum selbst.22 Dessen verschiedenartige Eigenschaften erscheinen Mathis im Augenblick der Genese: "Die Wände des Topfes beben, als atme etwas darin. Klar wie ein Karfunkelstein, flüssig wie Wachs, beharrlich im Feuer wie der Salamander, rot wie Blut und lebendig, heißt es" (R 172).
In dem Moment, wo die Synthese des alles vereinenden Lapis philosophorum bevorzustehen scheint, zerstört eine Explosion das Labor, wobei Mathis schwere Verbrennungen erleidet und die Leiche des bereits vor Abschluß des Experiments verstorbenen Angelus verschwindet (R 172-75).23 Aus dem verschlossenen Gefäß über dem Feuer ist nichts geblieben, als "ein weißer Batzen, der sogleich zu Sand zerfiel"-vielleicht aber auch, so heißt es an anderer Stelle, "ein Kiesel, und Mathis steckt ihn in die Tasche seiner Kutte" (R 173, 176).
Die bei der Suche nach dem Stein der Krone bzw. dem Versuch der Synthese des Lapis philosophorum ausgedrückte Sehnsucht nach einem harmonischen Ganzen wird, so zeigt es die das Labor vernichtende Explosion, nicht erfüllt. Das manifestiert sich auch an einem in diesem Roman mehrfach verwendeten Symbol, der Schlange, die ihren Schwanz verschluckt. Der sogenannte "Uroboros" oder "Ouroboros" es kann sich dabei um eine Schlange oder einen Drachen handeln-steht in der Alchemie für die Einheit der Materie und der Elemente.24 Doch in der Reiterin wird nach der Explosion seine Existenz infrage gestellt, und damit auch seine Bedeutung die harmonische Einheit der Materie und Elemente ist einzig eine Erinnerung (R 175, vgl. auch 6).
Diese Erinnerung soll in Mathis' später abgefaßter Schilderung der Geschehnisse bewahrt werden. Er berichtet von seiner Teilhabe an der Steinsuche bis zur Explosion im Keller des Angelus von Florenz, in der Hoffnung, "dass dann die Schuldigen ihre Strafe fänden, die Verschwundenen zurückkehrten und dass Gott das, was er getrennt hatte, wieder zusammenfügte" (R 180), kurz, daß die Harmonie wiederhergestellt würde, deren Sinnbild, der Stein, nun fehlt. Doch man schenkt seinen Worten keinen Glauben. "Warum" , fragt der Ratsschreiber zu Nürnberg, dem Mathis seine Niederschrift gibt, "sollte ein einziger Stein so wichtig sein?" (R 181), und beantwortet sodann die eigene Frage: "Gewiss [...] hätten wir längst von dem verschwundenen Stein gehört, wäre die Geschichte wahr" (R 183). Mathis' Sehnsucht nach Harmonie bleibt so unerfüllt wie die der Leser, die sich um eine sinnvolle und auf ein Ziel hinauslaufende Interpretation aller Hinweise in diesem Roman bemühen und nun endlich wissen wollen, wer Mathis 'wirklich' ist: Woher er kommt, was sein 'wahrer' Name ist, und ob er eine Tochter hat oder nicht. Im Kontext der vielsträngigen und durch zahlreiche Widersprüche gebrochenen Handlung muß nicht nur Mathis sondern auch der Leser selber die "Einheit und Harmonie aller Dinge" hinterfragen.
Leser befinden sich, und jetzt entnehme ich dem Roman eine Metapher, in einem rätselhaft geheimnisvollen Labyrinth, dessen Spiralen sich immer wieder von einer Mitte entfernen. Solche Spiralen manifestieren sich in der Reiterin bildhaft, von Mathis auf die Rückseite eines geheimnisvollen Dokuments gezeichnet (R 215, 250), als die verschlungenen Wege zu einer Burg (R 217) und im Steinboden einer französischen Kathedrale (R 213). Labyrinthe wurden tatsächlich in gotischen Kathedralen, den "steinerne[n] Büchern der Alchemie" auf Steinböden gemeißelt oder an die Wand gemalt.25 Die Illustration zeige, so in der Reiterin, wie "[i]n Kreisen und Kehren [...] ein Weg von außen nach innen [führe], und immer wieder [...] sich von der [...] Mitte [entferne]" (R 213). Diese Mitte wird christlich als die Erlösung oder der wahre Glaube ausgelegt (R 213); in der Alchemie jedoch ist das sogenannte 'Labyrinth Salomons' ein Symbol "für die unendliche Existenz und die Wandelbarkeit der Materie",26 verbürgt aber auch die Schwierigkeiten beim alchemistischen Werk. Denn wiewohl den Alchemisten die Herstellung des Steins der Weisen der Mittelpunkt ihrer Bemühungen bedeutete, war diese Herstellung doch das meistgehütete Geheimnis ihrer Schriften und wurde nur verschlüsselt wiedergegeben. Bei Bernhardi lesen wir: "Die Sapientes aber / dardurch man gelehrt / unnd nicht betrogen werden mag / sind die gute Bücher / die es darstellen in frembden namen / und in dunckelen worten. Du solst auch wissen / daß mans in keinen Buch es heiß wie es woll / mit klaren und außgetruckten worten finden wirdt / sondern allein in Figuren und Parabolen."27 Artephius, Alchemist des 12. Jahrhunderts, warnte ebenfalls davor, diese Verschlüsselung hermetischer Texte zu verkennen:
Ist dann auch etwa diese Kunst [...] voll Geheimnüssen? und du Narr meinest daß wir die allergrössesten Geheimnüssen offentlichen lehren? das magstu wol warhafftig wissen [...] wer die Worte der andern Weisen auffnimpt und verstehet / nachdem sie lauten / und wie die gemeine Bedeutung der Namen ist / demselben mangelt der Faden Ariadnæ, das ist / das rechte Leiteseil oder Richtschnur / und mitten in den krummen Wegen deß Irrganges muß er vielfältig irren [...].28
Stattdessen rät er, über den gewöhnlichen Wortsinn der Texte hinauszugehen, den uneigentlichen Ausdruck zu respektieren, und das verhüllte Geheimnis durch Interpretation und Kombination verschiedener Stimmen zu eruieren: "liß stetig die Bücher / den ein Buch eröffnet das ander / dencke den Sachen tieffsinnig nach."29 Genau dieser intertextuellen Methode bedürfen Leser des Aliothschen Romans, denn ohne Verständnis für Bezüge auf Wolframs Parzival, die Herzog Ernst-Legende, sowie historische Geschehnisse, läßt sich die Reiterin gewiß nicht enträtseln. Der Grund für das Verstecken der alchemistischen Geheimnisse sei, so der Mathematiker und Alchemist Roger Bacon (um 1219- um 1292),30
the contempt and neglect of the secrets of wisdome by the vulgar sort, that knoweth not how to use those things which are most excellent. And if they do conceive any worthy thing [...] they do exeedingly abuse that their knowledge [...] so that he is worse than mad that publisheth any secret, unlesse he conceale it from the multitude, and in such wise deliver it, that even the studious and learned shall hardly understand it.31
Das wirklich wertvolle Geheimnis werde nur durch "riddles and figurative speeches," eben verschlüsselt weitergegeben.32 Auch Mathis liest in einem der alchemistischen Bücher des Apothekers Angelus: "Dort, wo wir offen sprechen, haben wir nichts gesagt. Wo wir aber etwas verschlüsseln und in Bildern niederschreiben, haben wir die Wahrheit verhüllt"(R 161), was minuziös Alioths stilistischem Programm des "Verbergens und Verschleierns" entspricht, und es nimmt nicht Wunder, daß dieser Roman seine Nähe zu alchemistischen Schriften nahelegt durch die Kapitelüberschriften "Wasser", Luft", "Feuer" und "Erde", sowie durch die in diesem Rahmen nicht mehr ausführbaren, zahlenmystische Elemente, die in der mittelalterlichen Alchemie durch die Rezeption der pythagoräischen Schule und pseudoaristotelischer Schriften eine bedeutende Rolle spielten.33
Die Alchemie ist nun jedoch eine Geheimwissenschaft im doppelten Sinn, nämlich eine Wissenschaft, die ein Geheimnis verschlüsselt, das selber wieder ein Geheimnis enthält. Ein enträtseltes Geheimnis verweist immer wieder auf ein anderes, und, so wird gewarnt, wer "das Geheimnis verrät, wird verflucht und stirbt an Schlagfluß."34 Decknamen für Chemikalien und Prozesse, Geheimschriften und Pseudepigraphien sind gewollter Bestandteil des alchemistischen Diskurses, d.h., daß nicht nur der erwähnte Hermes Trismegistos, sondern auch auch Bernhardi und Artephius, selbst wenn sie historisch existiert haben sollten, wohl kaum Urheber der erwähnten Zitate sind.35
Dem alchemistischen Diskurs entsprechend widersetzt sich der Roman einer zusammenhängenden, ungebrochenen Geschichte. Er verweigert die Existenz einer einzigen Realität oder Interpretation von Sinn und vor allem: Er verhindert die Aufdeckung einer glaubhaft-harmonischen Identität des Protagonisten selber-für ihn wie auch für den Leser. "Jedesmal, wenn die Geschichte erzählt wird ist es eine andere" (R 79) heißt es gar in der Reiterin.
Selbst aufmerksamstes Lesen vermag das Plot der Reiterin nicht verbindlich aufzulösen, die 'wahre' Identität des Protagonisten Mathis zu dechiffrieren. Und so bildet das alchemistische 'Labyrinth Salomons' das Muster für den Aufbau der Reiterin: die unendliche Existenz und die Wandelbarkeit der Materie bezeichnend, meint es hier das eigentliche Thema des Romans: das Forschen nach der (eigenen) Identität und damit das Geschichtenerfinden und -erzählen. Der 'Uroboros' versinnbildlicht demnach hier den sich immer weiter entwickelnden, endlosen und nie abgeschlossenen Vorgang der Sinnproduktion und Interpretation: der Verschlüsselung und Dechiffrierung. Die Suche nach dem Lapis philosophorum ist eine Allegorie für den Vorgang des Lesens, und auch des Lesens und Konstituierens von Identität. In Alioths Roman zeigen die zentralen alchemistischen Symbole 'Uroboros,' das 'Labyrinth Salomons' und der 'Stein der Weisen', daß die Konstituierung von Identität nie zum Abschluß kommen kann.
Anmerkungen
1Gabrielle Alioth, Der Narr (Zürich: Nagel und Kimche, 1990); Wie ein kostbarer Stein (Zürich, Nagel und Kimche, 1994); Die Arche der Frauen (Zürich: Nagel und Kimche, 1996).
2Gabrielle Alioth, Die stumme Reiterin (Zürich: Nagel und Kimche, 1998). Im folgenden abgekürzt mit R.
3Gabrielle Alioth, Persönliches Interview, 3. und 4. April 2000.
4 Silke R. Falkner, "Sinnkonstitution durch Wahrheitsvielfalt: Gabrielle Alioths polyphoner Roman Die stumme Reiterin", Seminar (2002).
5Die literarische Rezeption der Herzog Ernst Legende ist nachzulesen bei Hans-Friedrich Rosenfeld, der auch die Ausgabe von "Herzog Ernst D" besorgte: Herzog Ernst D. (Tübingen: Niemeyer, 1991).
6 Heinrich Pleticha, Des Reiches Glanz. Reichskleinodien und Kaiserkrönungen im Spiegel der deutschen Geschichte (Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1989) 17.
7 Vgl. z. B. die Darstellung in Lawrence M. Principe, "Lapis philosophorum", Alchemie: Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, hrsg. Claus Priesner und Karin Figala (München: Beck, 1998) 218.
8 Die Frage nach dem eigentlichen Ursprung des Textes bleibt bis heute ungeklärt; die älteste bekannte Version ist ein arabisches Dokument aus dem 8.-9. Jahrhundert; für die jüngere Forschung entdeckt durch Eric John Holmyard, "The Emerald Table", Nature 112 (1923): 525-526. Zuerst abgedruckt und kritisch ediert von Julius Ferdinand. Ruska, 'Tabula Smaragdina': Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Literatur, Arbeiten aus dem Institut für Geschichte der Naturwissenschaft 4. Heidelberger Akten der von-Portheim-Stiftung 16 (Heidelberg: Winter, 1926). Siehe auch die Rezension von George Sarton, "'Tabula Smaragdina': Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Literatur by Julius Ferdinand Ruska", Isis 9 (1927): 375-377; und Manuel Bachmann und Thomas Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie (Basel: Schwabe, 1999) 28ff.
9 Bernhardi, Graf von der Marck und Tervis, Von dem Gebenedeiten Stein der Weisen, in: Opuscula Chemica, hrsg. Joachim Tanck (Leipzig: Rosen, 1605) 38. Bernhardis Name mag eine Variation des Bernard(us) Trevirensis oder Trevisanus sein; siehe William R. Newman, "Barnardus Trevirensis", in Priesner/Figala 78; und Bernhard Dietrich Haage, Alchemie im Mittelalter: Ideen und Bilder - von Zosimos bis Paracelsus (Zürich: Artemis, 1996) 57.
10 Zitiert nach der Übersetzung von Bernhardi 39.
11Vgl. Tabula Smaragdina bei Bernhardi 39-40.
12 So Bacon zitiert nach William R Newman, "The Philosopher's Egg: Theory and Practice in the Alchemy of Roger Bacon", Le crisi dell'alchimia. Micrologus: Natura, scienze e società medievali 3 (1995): 91.
13 Vgl. Principe 216; Helmut Gebelein, Alchemie: Die Magie des Stofflichen (München: Diederichs, 1996) 45; Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen: Geschichte der Alchemie (München: Beck, 2000) 355-61.
14 Tabula Smaragdina, zit. nach Bernhardi 39.
15 Zit. nach Bernhardi 40.
16 Lawrence M. Principe, "Arbeitsmethoden", in Priesner/Figala 53.
17 Thomas Brachert, Lexikon historischer Maltechniken: Quellen - Handwerk - Technologie - Alchemie (München: Callwey, 2001) 16.
18 Claus Priesner, "Panacea" in Priesner/Figala 263-264.
19 Vgl. beispielsweise Principe "Lapis philosophorum" 216-19.
20 Selbstverständlich wurde Wolframs Gral in der Parzival-Forschung bereits mit dem Lapis philosophorum in Verbindung gebracht, vgl. z.B. Konrad Burdach, Der Gral (Stuttgart: Kohlhammer, 1974) 540.
21 Vgl. auch Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Text nach der sechsten Ausg. von Karl Lachmann. Einf. zum Text von Bernd Schirok (Berlin/New York: de Gruyter, 1999) 469, 8-10.
22 Vgl. Principe, "Salamander", in Priesner/Figala 316.
23 Dies, so stellt sich nun heraus, ist bereits die dritte Explosion im Kellergewölbe der Apotheke, "[a]ls der Topf des Meisters vor fünf Jahren zum ersten Mal zersprang, quoll Rauch und Asche in schwarzen Wolken aus dem Gewölbe über den Platz" (R 167), und als er "zum zweiten Mal zersprang, floss es weiß über den Boden, und der Meister wusste, dass er auf dem rechten Weg war" (R 168). Doch diese Information wird im Roman lange zurückgehalten, zur Verunsicherung der Leser beitragend, denn im Gegensatz zu anderen Motiven erweist es sich als handlungsrelevant. Angelus von Florenz tritt bereits in der ersten Nacht auf, die Mathis mit seinem Herrn während der Steinsuche in Prag verbringt-namenlos, aber behandschuht und mit einer Kapuze (R 31-32), und später während der den Prager Erlebnissen folgenden Reise, wo er den Schreiber nach einer mutmaßlichen Entführung medizinisch betreut (R 77-81)-wieder namenlos, "ein Gewand aus feinem Tuch und Handschuhe" (R 78) tragend. Nach der dritten Explosion ist es Mathis, der Handschuhe und Kapuze trägt, um seine verbrannte Haut zu schützen.
24 Emil Ernst Ploss et al., Alchimia: Ideologie und Technologie (München: Moos, 1970) 36a.
25 Gebelein 261.
26 Ploss et al. 18.
27 Bernhardi 88.
28 Artephius, "Von der geheimen Kunst / und Stein der Weisen / Geheimes Buch", in: Hermetischer Rosenkrantz (Hamburg: Nauman, 1659) 30-31.
29 Artephius 33.
30 Über Roger Bacons Gründe, sich der Alchemie zuzuwenden, siehe besonders Newman 1995, 76-78.
31 Roger Bacon, The Mirror of Alchimy (1597; New York: Garland, 1992) 65.
32 Bacon 65.
33 Vgl. Heike Hild "Pythagoras" in Priesner/Figela 293-294 und Bernard Joly "Aristoteles" in Priesner/Figela 58-59.
34 Zit. nach Bachmann/Hofmeier 10.
35 Vgl. zum "Sprachmuster der Alchemie" Schütt 141-148. Falkner, "Alchemistische Schriften" 12.