Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 15/2002


"Wem dient ich? dient ich nicht / Dem eignen Schwein": Ost-West Kontraste, Erinnerungsspuren und Identitätssuche in Kerstin Hensels Lyrik und Erzählungen nach der Wende
Barbara Mabee

Vita
Wem dient ich? dient ich nicht
Dem eignen Schwein
Wem sagt ich (halbwegs züngelnd) was
Allein zu sagen mir den Kopf bedrohlich knicken
Ließ? Und alles bog man
Ab zum Nicken!
Nach Maulschelln heischt ich, da mich
Dieses rühmte, doch bläht sich mir das
Haupt vom Streicheln.
Das Speicheln hinter mir, vor mir das Schmeicheln.
Ich bin zerschlagen, vor ich schlage: was
Mich trifft.
Seh ich mich an und weiß: ich fresse Gift -
Es schluckt das Ekle mich, weil ich
Es bin. So häng ich an dem alten
Simplen Sehnen: sein was
Nicht anficht - und erwach:
Zu viele Höfe waren für mich lohnend
Der ich, im Hinterhofe wohnend,
Doch nur das Saure, nicht die Sau rausließ.
Ist was vorbei? Bin ich
Der Mächtigen Konterfei
Des Machtlosen nun frei?1

Die Vereinigung Deutschlands löste 1990 eine Suche nach Identität aus, die in einer Fülle von Autobiographien, Lebensbeichten, Lebensberichten und Rechtfertigungen von Schriftstellern der älteren Generationen ihren Niederschlag fand. Dagegen inspirierte sie viele der jüngeren DDR-Autoren, die nach 1950 in das Land "Hineingeborenen", zu Satiren, Parodien und aufbegehrend-ironischem Ton in sarkastischen Texten. In diesem Essay beabsichtige ich, in den Postwendetexten der 1961 geborenen Kerstin Hensel ihre literarischen Bestandsaufnahmen und Rückblicke zu analysieren, in denen sie häufig eine provokante Stellungnahme zur ehemaligen DDR und zum vereinigten Deutschland einnimmt und Ost-West Kontraste kritisch beleuchtet. In diesen Texten verbinden sich sarkastische und zarte Töne, sowie Ironie und Witz mit einer Bildersprache und Märchenmotiven, die ihrer Erinnerungsarbeit und Identitätssuche eine komplexe Vielschichtigkeit verleihen. Schwerpunkte werden auf die Gedichte aus ihrem kaleidoskopartigen Band Angestaut. Aus meinem Sudelbuch (1993), den Lyrikbänden Gewitterfront (1991) und Freistoß (1995), sowie ihren Erzählungen Im Schlauch (1993), Tanz am Kanal (1994) und Neunerlei (1997) gesetzt.

Ihr obiges Gedicht "Vita" aus Angestaut. Aus meinem Sudelbuch (1993) ist charakteristisch für Hensels spöttischen und spielerischen Ton in ihren Selbstreflexionsprozessen. Wie Hensel an anderer Stelle in ihrem Sudelbuch mitteilt, war Schreiben "ohne Angst und an allen Dummköpfen vorbei" (54) ihre Devise schon zu DDR-Zeiten, da sie sich von Kindheit an darum bemühte, Autonomie zu entfalten und eine eigene Position einzunehmen. Die Jury, die Hensel 1991 den Leonce-und-Lena-Preis für ihre Lyrik verlieh, lobte "das hohe reflektorische und formale Niveau" ihrer Gedichte sowie ihren Mut, auf die Gegenwart "mit eigener Stimme zu reagieren."2

Als Tochter einer Krankenschwester und eines Fließbandarbeiters bei den Barkas-Werken wurde sie in eine Familie in Chemnitz (Sachsen) geboren, in der es keine Bücher, keine Bilder, nur Denk-Klischees und eine Erziehung zu einer "angepaßten Figur" gab, die kein Abitur machen durfte, "weil eben unter Arbeiterkindern kein Gelehrter dabei sein sollte", wie sie Elke Erb l991 in einem Gespräch für den vom Luchterhand geplanten Band Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück mitteilte. Ironischerweise wurde das offene und höchst kritische Gespräch zwischen Hensel und Erb von der Herausgeberin Anna Mudry abgelehnt und erschien als separater Band l993 mit dem Titel Diana! (symbolisch für das dichterische Bewußtmachen als Jägerin mit offenen Augen ) gedruckt .

Daß Kerstin Hensel in den letzten Jahren der DDR als Privilegierte befördert wurde und ins Ausland reisen konnte, hängt offensichtlich mit ihrer energiereichen Fabulierkunst und ihrem Streben nach literarischer Kunstfertigkeit zusammen, aber auch mit ihrer repräsentativen Biographie, die Hermann Kant auf dem X. Schriftstellerkongreß l987 als Beispiel herausstellte. Sie war die einzige Autorin ihrer Generation, die in der DDR in größerem Umfang publizieren konnte und einen gewissen Freiraum hatte. Nach der 10. Klasse machte sie zunächst eine Ausbildung als chirurgische Krankenschwester und studierte von l982-1985 am Literaturinstitut J. R.. Becher in Leipzig. Danach war sie dramaturgische Mitarbeiterin am Kindertheater in Leipzig. Seit l988 ist sie Dozentin für "Deutsche Verssprache und Versgeschichte für Schauspieler an der Schauspielschule Berlin. 1989 erhielt sie den Anna Seghers Preis der Akademie der Künste, l991 den mit 12 000 Mark dotierten Leonce-und Lena Preis und 1995 ein Stipendium der Villa Massimo in Italien. Sie ist eine ausgewiesene Lyrikerin. Ihre ersten lyrischen Texten erschienen im Poesiealbum des Jahres 1986. Mit Hallimasch brachte sie l989 ihren ersten Erzählband heraus; ihr erster Roman Auditorium Panoptikum erschien l991, dem rapide eine Fülle von Lyrikbänden und Erzählbänden folgte, die inzwischen von der gesamtdeutschen Kritik mit Worten großer Anerkennung bedacht wurden.

Hensels bisheriges Gesamtwerk zeigt, daß sie schon immer eine Vorliebe für komisch-verfremdete, zynische, witzige und humorvolle Texte mit provozierenden Elementen des Makabren, Skurrilen und Absonderlichen hatte. Wie das Gedicht "Vita", eine Art rückblickende Selbstanalyse in Hensels Sudelbuch Angestaut, im Leitmotiv "Dienen" offenbart, waren anerzogenes Duckmäuserverhalten und Formen der Erbötigkeit Hensel schon von Kind auf verhaßt und beeinflußten ihre Poetik des Schreibens im Widerstand, als Protest gegen alles Angepaßte und Unterwürfige. Die benutzte Vulgärsprache in den Redewendungen wie "[d]em eignen Schwein" dienen oder "die Sau" rauslassen ist als Herausforderung an die Autorin wie auch an ihre Leser gerichtet, gegen stummes Dienen und Formen der Erbötigkeit eine eigene Position zu entwickeln. Die unregelmäßigen Verse, mal reimend, mal nicht, und Satzfügungen mit zerhacktem Rhythmus statt fließendem Enjambements verweisen auf eine Sperrigkeit, die in der Mitte des Gedichts die Ursache des Widerstandes und der Widerhaken aufdeckt: "Es schluckt das Ekle mich, weil ich / Es bin." Ihre Rückschau auf die stagnierenden Lebensverhältnisse und Lebenshaltungen in der DDR kreisen um das Verb "dienen" und den damit verbundenen Metaphernkreis zum persönlichen Verhalten des Individuums. Das Wort Schmeicheln im Kontext von Selbstbild erscheint in seinen negativen Varianten von Sucht nach Anerkennung, Vorteil und Belohnung und mündet in Selbstekel, weil sie von dem "Gift" immer wieder geschluckt hat und eine Sehnsucht hat es weiterhin zu "fressen", um den Mühen des Alltags zu entkommen.

Die klangverbundenen Wörter "Streicheln", "Speicheln" und "Schmeicheln" unterstreichen eine Assoziation mit etwas Negativem und drücken die Intensität des Verhaßten und Widerwärtigen aus. Dieses lyrische Selbstporträt verrät eine Art Identitätskrise der Autorin nach der Wende, die von Selbstzweifeln angesichts der unfreien Vergangenheit und unsicheren Zukunft ergriffen ist. Realität und Nüchternheit zwingen die Erwachte, in eine Art Selbstgericht mit sich zu gehen. Erinnerungen an Hinterhöfe werden wach und an die Zeiten, in denen Hensel als alleinstehende Mutter mit ihrem Kind eine Bleibe in diesen Hinterhöfen finden konnte. Die letzten drei Zeilen visieren eine unbestimmte Zukunft an, in der sich der einzelne selbst zurechtfinden muß: "Bin ich / Der Mächtigen Konterfei / Des Machtlosen nun frei?" Das Fragezeichen am Ende deutet auf eine Skepsis gegenüber der Zukunft und dem neu gewonnenen Freiheitsraum. In Verbindung mit dem Bild des Gift fressenden Ich intensiviert sich das negative Momentum der Selbstanalyse. Das Fragezeichen am Ende ermutigt weiterführende Selbstbefragung und Konfrontation mit Illusionen.

Hensel selbst hatte in einem Essay mit dem Titel "Gedächtnis-Schneise" in der Zeitschrift der literat vom 7. Juli 1991 ebenfalls über diese offenen Fragen zur Zeitenwende nachgedacht und ein poetisches Fazit gezogen:

Der Alltag, das Erleben aller Schrecken, dieser Wechsel der Ödnisse - und die Welt steht offen wie ein Fallrohr. [...]. Es war im Osten Deutschlands, im Wechsel unseres Jahrzehnts, ein sanftes Gleiten von Diktatur zur Diktatur zu verzeichnen. Dieser Vorfall bedarf keines höheren Tones: die Erinnerung aber an: hier stocke ich: was ist es denn wert, erinnert zu werden, das an Fortschritt des Menschentums gemahnte, was denn?! [...]. Schneller als man die Hände wechselte beim kameradschaftlichen Gruß, gleichen sich die Zeiten. Das Gedächtnis hat seinen Sitz in der Dichtung.3

Wie sehr sich Hensel eine Art Heimat in der Literatur geschaffen hat, offenbart sie in ihrer Rezension von Stephan Hermlins Abendlicht in dem Band Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Sie erklärt hier, wie sehr sie "bis ins Innerste ergriffen war von der Erzählung eines Sechzigjährigen. [...] Von "Abendlicht" eine Abrechnung mit der DDR (und dem Leben des Autors) zu verlangen ist hochgradig einfältig. Beständige Literatur folgt den Gesetzen der Kunst, nicht denen der Kulturpolitik" betont sie emphatisch. Hensel kommt zu der Einsicht zu Hermlins Abendlicht, daß bis heute, der "immer seltener werdende Schauer des absolut Großen [sie überkommt], immer wieder, wenn [sie] es lese. "4 Für Hensel ist offensichtlich eine Antwort auf Christa Wolfs Frage "Was bleibt?" ein enthusiastisches Bekenntnis zur Beständigkeit und Zeitdokumentation der Dichtung.

An vielen Stellen ihrer Texte äußert sich Hensel zu dem Abstraktum des komplexen Wortes "Macht." In ihrem Sudelbuch Angestaut schreibt sie auf höchst ironische und humorvolle Weise ihre Reflexionen zu diesem Gedankenkomplex auf unter dem Titel: "MACHT MACHT'S. Berliner Abende VI." Hier ist es die Macht des Kapitalismus, die eine Einladung evoziert, die sie persönlich zur Eröffnung des neuen Berliner HILTON-HOTELS bekommen hatte. Die mysteriöse Macht als höchste gesellschaftliche Instanz wird bei diesem nachgezeichneten literarischen Empfang ständig von Kerstin verspottet und ironisiert. Sie spricht von dem "exerzierenden Lächeln der Macht" (109) und vom guten Wein, "den die Macht pausenlos einschenkte" (110). In diesem Essay entwickelt Hensel sehr sorgfältige Kontraste zwischen Ost und West. Der kapitalistische Westen, den Hensel als Gast auf dieser Hilton-Hotel-Eröffnung sozusagen am eigenen Leibe erlebt, wird hier als Genußquelle und Anreiz für den Konsumverbraucher verhöhnt. In Hensels Formulierungen werden Assoziationen an typisches Schädigen des DDR-Staates durch Saufen und Fressen geweckt: "Den Kapitalismus schädigen, wo's nur geht, das heißt saufen und fressen, bis es zu den Ohren wieder rauskommt" (110). Am Ende passiert dann genau dies beim Verdauen des eben Erlebten auf dem Nachhauseweg, wie Hensel es höchst drastisch und humorvoll skizziert:

Noch einmal schüttelte der Kapitalismus mir die Hände und freute sich, daß ich gekommen war und einen tiefen Schluck Zukunft genommen hatte. Unter meinem Hals waberten verdächtig, gemischt mit Sekt, die unzähligen Speiseportiönchen, die ich genossen hatte. Ich gab sie, kaum der U-Bahn entstiegen, noch mitten auf dem Rosa-Luxenburg-Platz der Strasse wieder, von der ich gekommen war; und durch die gewohnte und liebgewonnene Hundescheiße, vorbei an den Säufern, Pennern, Krakeelern, ging ich und freute mich des Jahrhunderts (110-111).

In Hensels frühen Gedichten in Gewitterfront von 1991, von denen die meisten noch in den Jahren vor der Wende geschrieben wurden, zeigt sich ihre Poetik des Lauschens nach den unbequemen Dingen, die sie mit Namen nennen will. Hensel deckt verschiedenste Arten von Machtverhältnissen, die während der Endphase der DDR bestanden, in diesen Texten auf. Der Humor ist noch längst nicht so scharf ausgeprägt wie in den späteren Gedichten. Das Gedicht "Poetik" offenbart ihre von der Kritik als "bekannten Hexen- und Märchenton" bezeichnete spielerische Gestik und ihr Lustgefühl an der Sprache in der Märchenfigur Rapunzel. "Ich wohne in der Rinde / Des Kastanienbaumes vor meinem Fenster."5

Mit Freistoß (1996), einer Vokabel aus dem Fußballmetier und als Titelgedicht in ein West-Ost Fußballmatch gekleidet zwischen "Efzeh Bremen gegen Sechster Efzeh Chemnitz", Hensels Heimatstadt, schafft Hensel einen neuen Durchbruch zu polemischen und politischen Gedichten, Dialekt- und Rollengedichten. Diese Texte haben oft einen sarkastischen Ton, brechen aber ins Zarte um, besonders in Erinnerungsgedichten und privaten Liebesgedichten. Aus der Perspektive des doppelbödigen "Stunt-Ortes", so der Titel eines Gedichtes (46), führt die Dichterin ihre mit Humor und Ironie gespickten "Stunts" und vermeidet verbitterte oder nostalgische Verse. Sie verherrlicht nicht Vergangenheit als verpaßte Utopie, von der sich der reale Sozialismus bekanntlich ja absetzen wollte. Sie formuliert von ihrem Stunt-Ort aus lakonisch und nüchtern, wie in "Der neue Ton": "Was traute ich denen und trauer / Denen nicht nach." 6

In allen drei Erzählungen, Im Schlauch (1993), Tanz am Kanal (1994) und Neunerlei (1997), begibt sich Hensel auf literarische Erinnerungsfahrten in die alte DDR und nimmt noch einmal die gesellschaftlichen Verhältnisse als real-groteske Vignetten kritisch unter die Lupe, teilweise mit bösem Hensel-Blick oder lakonischer Ironie. Im Schlauch, betitelt nach einer verrufenen Kneipe in der Phantasie-Provinz Stinopel (stinknormal ist die Klangassoziation dieser DDR-Stadt), skizziert Hensel gleich mit den ersten Sätzen eine provinzielle DDR-Atmosphäre. Während der Familienvater Siegfried, das Partei-"Bonbon" (Abzeichen) am Revers,7 und Mutter Anneros mit falschem Dutt im Wohnzimmer auf das gerade 16 Jahre alt gewordene Geburtstagskind Natalie warten, zwingt Natalie ihren Bruder Aljoscha, ihr beim Verschließen eines Koffers behilflich zu sein. Danach zieht sie mit dem zentnerschweren Fluchtgepäck durch die Wohnung und den Hausflur in Richtung Altstadt. Ihr Ziel ist ein Abbruchhaus, in dem Getier und Ungeziefer aller Art und ein skurriler Mann hausen. Sie sucht hier die langersehnte Freiheit und findet sie auch für eine Weile. Rückblendend auf die 60er Jahre setzt die Erzählerin das außereheliche Treiben des realsozialistischen Ehepaars in grelles Licht. Der Vater Siegfried, Parteiarbeiter und FDJ-Funktionär, kehrt von einer Delegationsreise in die Sowjetunion nicht nur mit einem schillernden Liebes-Hämatom zurück, sondern auch mit einer ganzen Herde von Wanzen am Körper. Anneros hat derweil auf einem Pappkoffer im Gepäckbewahrungsraum des Bahnhofs von Oberaufseher Paffrath einen Sohn empfangen.

Die Figur des Oberaufsehers Paffrath erscheint auch in Tanz am Kanal und ihrem neuesten Roman Gipshut von 1999. Hensels intensive Protesthaltung gegen eine Vereinnahmung seitens angepaßter und "hohle Hymnen" singender Autoritätspersonen äußert sich in ihrer Karikatur des Oberkommissars Paffrath in allen drei Texten, aber besonders in Gipshut. Diese Figur des nach der Wende unveränderten, auf Genuß und Bequemlichkeit bedachten Polizisten in Gipshut war sechs Jahre vorher in Im Schlauch und fünf Jahre vorher in ihrer Erzählung Tanz am Kanal (1994) unter dem Namen Paffrath als ekelerregende Beschützerfigur skizziert. Offensichtlich ist dieser parallel gesetzten Beschützer- und Verführerfigur von Frauen ein symbolischer Wert zuzumessen, denn in allen drei Texten bietet Paffrath (der Klangwitz ist unverkennbar) weiblichen Charakteren in schwierigen Situationen Schutz und materielle Sicherheit an.

Im Schlauch ist er ein Angehöriger freundlich zuredender Volkspolizei, der das Mädchen ins Elternhaus zurückführt, nachdem er selbstkritisch seine Freiheitsträume als realtitätsuntüchtige Pubertätsphantasie durchschaut hat. In Gipshut bekommt Anna Fricke von Paffrath zu DDR-Zeiten einen verführerischen Heiratsantrag, den sie zunächst, vom Leben ermüdet, dankbar annimmt, bis sie auf einer Badekur Mut zur Selbstbehauptung bekommt: "Die Bäder hatten die Angstschlacken in mir gelöst, ich war nicht mehr stumm" (97). Dieses leise Erwachen einer selbstbewußten Haltungs seitens Anna Frickes bildet einen Kontrast zur schweigenden Mitmach-Haltung der aus der Psychiatrie entlassenen Protagonistin Gabriela, Tochter des Obermedizinalrates Ernst von Haßlau, am Ende des früheren Textes Tanz am Kanal 8. Anna versteht es in Gipshut, sich den hohlen Annäherungsversuchen des Oberkommissars zu entziehen, aber von dem Schlamm der gesellschaftlichen Lügen kann sie sich noch nicht ganz befreien als ihr der westliche Held aus Garmisch, Doktor Polti Hörnle, ebenfalls verführerischen Charme anbietet.

Tanz am Kanal liest sich zunächst wie die vorhergehende Erzählung Im Schlauch als eine enthüllende Rückschau auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR. Die Biographie der Ich-Erzählerin Gabriela von Haßlau ist unmittelbar mit der Wirklichkeit der DDR verknüpft. Der Vater, Venenchirurg und Klinikchef, vebietet ihr den Eintritt in die Pionierorganisation und geht schließlich sogar selbst in den Westen. Die Erzählerin stößt als Tochter aus altem anhaltinischen Adel in der Schule und in der Fabrik auf viele Schwierigkeiten, die sie schließlich mit der Volkspolizei und der Stasi in Berührung bringen. Als mit der Wende sich die Freiheit ihr und anderen öffnet, ist es zu spät für ihr Glück. Am Ende der Erzählung landet die "Simplizissima", wie Walter Hinck sie in einer Rezension nannte,9 in einem Obdachlosenmilieu, unter der Brücke. Teilweise muten in dieser Erzählung die Dinge wie alt eingefahrene Kliches von der grauen DDR und von einer auch nicht viel besseren Nachwendezeit an, aber Hensel versteht es mit ihrem satirisch-spöttelnden Ton, die Dinge aufzulockern und die Leser zu einem befreienden Lachen mitzureißen. Wie Hensel selbst in ihrem Essay "Gedächtnis-Schneise" konstatiert, sah sie den Gestus des Lachens und Gelächters als eine Art nötigen Widerstand und nicht etwa als Verdrängung von Verzweiflung:

[H]ätten wir uns denn in unserer tiefsten Verzweiflung, die, wenn man die Welt betrachtet, auch nur komisch ist, hätten wir uns opfern sollen? Einem Popanz von infantilen Lemuren? Ich habe nicht den geringsten Grund, auch nur eine Sekunde meines Lebens vor irgend jemand zu rechtfertigen. Wir waren nicht prominent genug - und lebten zudem in der Provinz - als daß unser Widerstand, unser Gelächter, für die Gazetten wichtig gewesen wäre. Wir waren und sind analytisch-poetische Geister, und unsere Hauptfrage ist noch immer: woher alles, was uns freut und ekelt, kommt. Ich schreibe von dem was gewesen war, was Ich gewesen war, und ich war niemand anders als ich jetzt bin. Ob das den Markt interessiert, interessiert mich nicht. Vielleicht mag man meinen, ist das auch die Nostalgie, von der ich anfangs sprach [...]. Die Deutschen neigen dazu, nicht ihre Vergangenheit, sondern ihr Leben zu verdrängen. Sie sind unfähig, unverkrampft zurückzublicken und nach vorn. Sie knebeln jede Lust." (35)

Hensels Lust zu fabulieren, skurrile Charaktere zu entwerfen und etwas Ungewöhnliches, Ungeheuerliches zu erfinden, zeichnet sich ganz stark in den 15 irritierenden, surreal-skurrilen Erzählungen in Neunerlei (1997) ab. Hier geht es um bizarre und rohe Irreführungen, um falsche Spiele, und sonderbare, inhumane Charaktere. Es sind Geschichten über gewalttätige, unglückliche und einsame Menschen in der sächsischen Provinz, aus der Hensel selbst und auch ihre Mentorin oder Seelenverwandte Irmtraud Morgner kamen. Nirgendwo findet sich Harmonie und Ruhe, sondern "Mordlust lauert überall" und lassen "gekippte Perspektiven" entstehen, wie Frauke Meyer-Gosau es trefflich in ihrer Rezension in Freitag formuliert.10 Hensel skizziert in diesen 15 absurd-grotesken und offen endenden Schreckensgeschichten orientierungslose Individualisten, die abseits der Gesellschaft stehen. Sie verfremdet sie teilweise zu merkwürdigen Charakteren in surrealen sächsischen Dörfern. Zu neuen Ufern brechen die Menschen auf, aber etwas Störendes wird ihnen immer wieder in den Weg gelegt. Der Ort Stinopel, der in Im Schlauch noch einen realsozialistischen DDR-Bezug hatte, ist hier unter gleichem Namen mit wenig Anspielungen auf die DDR gezeichnet, sondern als ein Ort in surreale Spähren: Eine Nymphomanin und ihr von den meisten Männern des Dorfes Stinopel gezeugter Sohn agieren melancholisch und unersättlich in der Landschaft, bis sie plötzlich von Teufel und Höllenkind hinter einem Haselstrauch aufgespürt werden und verunsichert mit den anderen Ortsbewohnern sich beweisen sollen.11 In der Erzählung "Zurzach" fassen zwei abgeschrubbte mysteriöse Frauenhände das vierjährige Mädchen Jacqueline um ihre raschelnde Hüfte und schieben es in einen Waggon. Später erfahren wir, daß die Hände der Spülfrau in einem Restaurant gehören und die Frau heimliche Treffen mit dem Koch im Heizungskeller des Restaurants plant.

Spiegeln sich vielleicht in diesen bizarren Geschichten in Neunerlei Absurditäten des DDR-Alltags wider, über die sich Hensel als amüsierte und genaue Beobachterin und Künstlerin totlachen möchte? Diese irrsinnigen Geschichten, durchsetzt von kafkaesken Elementen und phantastischen Beschreibungen, zeigen, daß sich Hensel ihre "Lust" am Fabulieren zu DDR-Zeiten nicht unterdrücken ließ. Es verwundert sie nicht, daß sie in ihrer Stasi-Akte, wie sie nach der Wende erfuhr, als "krank", "antisozialistisch" und "entartet" geführt wurde.12 Hensels Lyrik und Prosatexten nach 1989 ist deutlich abzulesen, daß die Wende und die Vereinigung Deutschlands sie in neue Bahnen gelenkt haben, auf denen sie sich vorwärts und rückwärts zwischen Träumen und Wirklichkeit bewegt--wie die Menschen in "Achter Bahnfahrt," der letzten Geschichte in Neunerlei.

Endnoten

1 Kerstin Hensel, Angestaut. Aus meinem Sudelbuch (Halle: Mitteldeutscher

Verlag, l993) 41.

2 Zit. nach Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 5. April 1991: 10.

3 Kerstin Hensel, der literat 33 (7. Juli 1991): 15.

4 Karl Deiritz und Hannes Krauss, Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR (Berlin: Aufbau 1993) 112-113.

5 Kerstin Hensel, Gewitterfront (Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1991) 88.

6 Kerstin Hensel, Freistoß (Leipzig: Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 1995) 60.

7 Kerstin Hensel, Im Schlauch. Erzählung (Frankfurt: Edition Suhrkamp, 1993) 30.

8 Kerstin Hensel, Tanz am Kanal (Frankfurt: Suhrkamp, 1997) 118.

9 Walter Hinck, "Simplizissima unter der Brücke", Frankfurter Allgemeine Zeitung 2. November l994: 25.

10 Frauke Gosau, "Mordlust lauert überall. Umstürzende Strassenbahnen, gekippte Perspektiven", Freitag 31. März 1999: IV.

11 "Stinopel", Neunerlei (Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1997) 134-165.

12 Wolfgang Müller-Harlin, "Frauen-Action ohne Freiheit. Kerstin Hensels Stück 'Hyänen'", Die Welt 9. Oktober 1999: 35.

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