Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 15/2002


Zu Hans Joachim Schädlichs Ostwestberlin

Der Qdamm fängt mit 11 an. Wo sind 1 bis 10? [...] 1 bis 10 sind im Krieg Herr Schott[..] wendet sich Süßigkeiten Der Presse und Souvenirs zu [...] The Guardian[...] Abendblatt[...] Daily Mail [...] Bild Leiche zersägt Teile in Gefriertruhe Wahrheit Kaffe aus Nikaragua Kerzen aus der DDR Genosse sucht Wohnung [...] BZ Millionen erkältet Jetzt hilft nur noch [...]Leute kooft Wurscht die Russen kommen. In Moskau sind sie schon[..]1 [...]Der Kunde Du wirst sein wie ein bewässerter Garten Jesaja achtundfünfzigelf Das Mädchen Nach dir Herr verlanget mich. 2. [...]Achtung Raucher Tschernobyl ist überall.3 [...] An der Seite Unter dem Banner über die Mauer.

Schott, die Mittelpunktsfigur in Hans Joachim Schädlichs Titelerzählung "Ostwestberlin", die 1987 in einem Sammelband seiner Texte im Rowohlt Verlag erschienen war, schlendert durch das Kunterbunt von Stimmen und Geräuschen, Essensgerüchen und Autoabgasen, Restaurants, Kaufhäusern, Schaufensterdekorationen und Zeitungskiosken, durch den riesigen Jahrmarkt um Gedächtniskirche, Tauentzien, Kudamm, Fasanen-, Meineke- und Joachimsthaler Straße im Zentrum Westberlins. Er läßt sich vom Rhythmus der Stadt bis an die Mauer treiben, kommt aber nicht weiter, da er am Betreten Ostberlins von einem Grenzposten der DDR gehindert wird. Ob er sich wirklich ein Flugticket kauft, um mit einer PAN AM Maschine, von Frankfurt kommend, den Osten zu überfliegen, oder ob er es sich nur vorstellt, bleibt unklar. Jedenfalls erscheint ihm jenes Tabuland aus der sicheren Distanz der Flughöhe eines amerikanischen Flugzeugs, das in Berlin Tempelhof landet. Soweit die äußere Handlung des letzten von insgesamt 21 Texten, die mit Ausnahme der Erzählung "Schattenbehältnis" (1971)4 aus den ersten 10 Jahren nach der Übersiedlung des Autors von Ostberlin in den Westen stammen.5

Nichts passiert, was über Schotts Spaziergang im Westen und seinen Überflug des Ostens hinausgeht; und doch geht es in diesem kleinen Text um nicht weniger als die Grundfrage jeglicher Zeit, "wie man zer welte solte leben" (Walter von der Vogelweide, "Ich saz ûf eime steine"). Doch wer ist Schott, der diese Frage für sich entschieden hat? Und was ist das für eine Welt im Deutschland der späten achtziger Jahre? Die Mittelpunktsfigur bleibt dem Leser zunächst fremd, ja verschlossen, weil es wenige direkte Aussagen zu Schott gibt und die vielen versteckten Hinweise auf ihn sich erst im Gesamtzusammenhang dieser Erzählung und dem Vergleich mit anderen Texten des Sammelbandes erschließen. Ist der Autor gleichermaßen an der Enthüllung wie der Verhüllung seiner Mittelpunktsfigur interessiert? Und was besagte diese erzählerische Entscheidung?

Der Erzähler bezieht sich an verschiedenen Stellen auf einen "Herrn Schott". Also handelt es sich wohl um einen Mann in den "besten Jahren", dem Autor Schädlich nicht unähnlich vielleicht; beide sind auch Brillenträger. Dieser Herr in den besten Jahren also schlendert durch die Straßen um die Gedächtniskirche im Zentrum Westberlins, wird von dieser oder jener Werbung angezogen, diesem und jenem Gespräch abgelenkt, wird angesprochen, entzieht sich, etwa einem Herrn Knoll, der ihn an Beerdigungen erinnern will, und geht auch nicht auf Angebote einer bibelfesten Hure ein. Er sei zu müde, sagt er, höflich um Verständnis bittend. Mit niemandem verabredet, macht er es sich in verschiedenen Gaststätten bequem, weil er wohl gern unter Menschen allein ist. Auch mag er einfache Kost, verspeist eine Folienkartoffel mit Schwant und krossen Zwiebeln, trinkt Irish Coffee in einem Restaurant, Bier im nächsten und Capuccino im folgenden. Aber er kauft nichts von den verführerischen Angeboten der Geschäfte, weil er sich entweder nicht für Materielles interessiert oder einfach kein Geld hat. Trotzdem legt er eine Mark in den Geigenkasten eines Straßenmusikanten und eine weitere in die Hand eines Mannes, der ein Schild mit dem Wort "Hunger" vor sich hingestellt hat. Erkennt sich Schott in beiden Gestalten wieder? Eine eindeutige Antwort ist schwerlich möglich, doch wäre es schon sehr merkwürdig, wenn in so einem konzentrierten Text nicht alles auf die Mittelpunktsfigur bezogen wäre. Daher geht man wohl nicht fehl in der Annahme, den Straßenmusikanten als Synekdoche für Künstler insgesamt und damit auch für einen Autor, einen Autor vielleicht wie Schott - ist Schott ein Autor? - oder Schädlich anzusehen. Und richtig ist wohl auch, daß der hungernde Penner, ein Bild der menschlichen Bedürftigkeit und Entwurzelung, das Schott zu spontaner Hilfeleistung bewegt, eine gewisse Affinität zu eben diesem Hilfeleistenden hat. Leser könnten sich sogar vorstellen, daß Straßenmusikant und Penner Alternativfiguren zu Schott sind, die gleichzeitig auf die schlimmen frühen Westberliner Jahre des Autors Schädlich verweisen.

Die Weigerung der DDR-Grenzsoldaten, Schott in den Ostteil der Stadt zu lassen, legt nahe, daß er ursprünglich aus dem Osten Deutschlands kommt. Ist Schott nun in Westberlin zu Hause, oder ist er Emigrant und Fremder geblieben? "Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt nur auf Fremde. Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erforderte andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben, [...]," heißt es bei Walter Benjamin in einer Rezension zu Franz Hessels Spazieren in Berlin.6 Schott scheint stark von dem Pittoresken und Exotischen Westberlins beeindruckt, erweist sich also, nimmt man Benjamins Diktum ernst, als Fremder, eventuell als Neuankömmling, in der Teilstadt, der all die Farben, Geräusche, Gesprächsfetzen und Gerüche, die dieses Westberlin um den Kurfürstendamm herum ausmachen, zum ersten Mal in sich aufnimmt, vergleichbar wiederum dem Autor Schädlich nach seiner Übersiedelung von Ostberlin nach Hamburg und dann nach Westberlin. Gleichzeitig jedoch beginnt sein Spaziergang, geographisch gesehen, an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, benannt nach dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Rudolph Breitscheid, der 1943 im KZ Buchenwald durch einen Luftangriff der Alliierten ums Leben kam, also an einem geschichtsträchtigen Ort. Schon diese Symbolik kennzeichnet Schott als einen Menschen, dem es um Vergangenheit und Erinnerung geht, eine Feststellung, die durch seine erste Frage im Text bestätigt wird. Schott will wissen, wo der Qdamm anfängt, und gibt sich damit als einen Menschen auf der Suche nach der Vergangenheit der Stadt und, wie zu zeigen sein wird, nach seiner eigenen Vergangenheit zu erkennen. Er ist somit, wieder nach Benjamin, auch als ein Einheimischer anzusehen und nimmt damit die hybride Form eines einheimischen Neuankömmlings an, der sich in der neuen Umgebung möglicherweise zum ersten Mal seiner eigenen Vergangenheit versichert und somit beginnt, sich heimisch zu fühlen. Doch was für eine Vergangenheit ist es? "In jedem Menschen sind alle seine Zeitalter versammelt,"7 sagte Alexander Kluge in einem Interview. In Schott haben gleich drei ihre Spuren hinterlassen.

Der Kudamm fängt mit der Hausnummer 11 an, "1 bis 10 sind im Krieg", die Erklärung eines Polizisten bricht ab. Schott und die Leser jedoch wissen auch so Bescheid, die Häuser sind im Krieg zerbombt worden. Schott ist alt genug, Swingzeitalter vielleicht, daß er die Beschädigungen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche durch alliierte Bomber noch selbst erlebt haben könnte. Ja, das Zwitterhafte, Inkompatible der Ruine des alten Kirchenschiffs mit dem modernen Nachkriegsturm in der Mitte Berlins mag ihm als Metapher seines eigenen Schicksals erscheinen, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf schmerzhafte Weise gegenüberstehen.

Schmerzhaft, weil sich in die Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart auch Betroffenheit und Schuld zu mischen scheinen. Aber auch das wird nur angedeutet. So erschrickt Schott an der Ecke Kudamm, Joachimsthaler Straße, als ein Yamahafahrer, der bei Gelb sein Motorrad hochreißt, durchstartet und auf dem Hinterrad vorbeirast. Erinnert ihn dieses Bild an ein Trauma? Vielleicht an die dokumentarisch belegte Figur Fritz aus Schädlichs Text "Mechanik", der auch im Sammelband Ostwestberlin enthalten ist. Nahe läge das schon, denn dieser Fritz, der von seinem Vater in eine psychiatrische Klinik gebracht und Anfang der vierziger Jahre von den Nazis auf Grund der Euthanasiegesetzen ermordet wurde, war von einem Motorrad gestürzt.8 Ist Schott auf eine nicht genannte Weise von den Verbrechen der Nazis betroffen oder in weitem Sinne als Individuum oder als Deutscher sogar in sie verstrickt? Immerhin läuft Schott mit gesenktem Kopf, der Scham evoziert, über die Joachimsthaler Straße bis zum jüdischen Kaufhaus Wertheim. Und es kann doch kein Zufall sein, es muß auch mit dieser Textstelle zu tun haben, daß das Thema Krieg und Schuld noch einmal und direkt in einem Kneipengespräch aufgenommen wird.

Schott spricht dort mit einem ehemaligen amerikanischen Soldaten, der ihm erklärt, daß sein Sohn in Heidelberg geboren sei und daß er im nächsten Krieg wiederkäme, "aber", fügt er hinzu, "better no more Kriegs is zu gefährlich." Herr Schott sagt "Ja".9 Dieses kurze, eine Weiterführung des Gespräches abwürgende "Ja" will sagen: Natürlich hast du recht. Aber auch: Das sagst du so einfach, keine Kriege mehr, aber es ist nicht so einfach. Ich weiß das besser. Das kannst du mir glauben. Ich weiß von diesem Motorradfahrer, Fritz, von dem Kampf der Nazis gegen jüdische Kaufhäuser, wie Wertheim, und von den Bomben. Schotts kurzes "Ja" in dem Gespräch, sein Erschrecken vor dem Motorradfahrer und die Neigung seines Kopfes auf dem Weg zu Wertheim öffnen ein Fenster, durch das einen Moment lang Licht auf das ansonsten verschlossene Innere Schotts fällt, welches mit dem Tausendjährigen Reich zu tun hat, der ersten geschichtlichen Epoche, die sich in seiner Seele abgelagert hat. Es ist eine Epoche der Verstrickungen und Verwundungen, die der Erzähler nicht erklären, und von denen sich Schott nichts anmerken lassen will. Diese Verstrickungen und Verwundungen mögen sogar von Einigem sprechen, das selbst Schott nicht vollkommen klar ist, und sich womöglich auf Vergeblichkeit reimt.

Hat Schotts Spaziergang ein Ziel? Zweimal erscheinen in der Erzählung Werbematerialien von Busunternehmen zum preisgünstigen touristischen Besuch Ostberlins. Schott drängt es offenbar in den von der Mauer abgeschirmten Teil der Stadt. Wahrscheinlich hat er dort noch Verwandte und Freunde. Möglicherweise will er sich seiner zweiten, seiner Nachkriegslebensepoche im anderen Teil der Stadt und seiner Wunden vergewissern, die ihn zum Weggehen bewogen hatten. Auch wäre es vorstellbar, wenn es ihm, bestärkt durch das überwältigende Gefühl von Freiheit, das er um den Kudamm herum erfährt, nun nicht mehr glaubhaft oder gar akzeptabel erschiene, daß die Welt im Osten gerade für ihn gesperrt sei. Genaues erfährt man auch in diesem Punkte nicht. Sicher ist nur, daß sich sein Verlangen nicht erfüllen läßt. Er steht auf einer Liste der im "demokratischen Berlin" Unerwünschten, "seiner Herkunft wegen", wie ihm ein Soldat am Grenzübergang Invalidenstraße zu verstehen gibt.11 Offenbar hat sich der Stadtteil seit seinem Weggehen nicht verändert. Er ist noch immer unerwünscht im Lande seiner Herkunft. Den Lesern wird klar, die Grenze zwischen Ost und West, zwischen Imperium und persönlicher Freiheit im urbanen Gewirr des Stadtteils im Westen ist für Schott unüberwindbar, hat sich im Stadtkörper tatsächlich und im Kopfe Schotts metaphorisch versteinert. Es gibt keinen Weg zurück. Schotts Herkunftsland ist für ihn zu einem Un-Ort, einem imaginären Ort geworden, dessen Gravitationskraft er zwar nicht entfliehen kann, der ihm aber doch trotz aller Vertrautheit so fremd geworden ist, dass er sogar dessen Regeln vergessen hat oder zumindest mit den Gedanken spielt, dass sie vielleicht nicht mehr gelten würden. Denn dass man ihn nicht in den Osten lassen würde, hätte er sich eigentlich denken können.

Vergewissern will er sich des Ostteils der Stadt jedoch auch gegen den Widerstand seiner Machthaber. So imaginiert er einen Flug mit der PANAM, die Ostberlin von Frankfurt her überfliegt, und zwar auf der gleichen Route, auf der die Alliierten während der Berliner Blockade vom Juni 1948 bis zum Mai 1949 den Westteil der Stadt versorgten. Aus dem Flugzeugfenster sieht er dann auf dem Mittelstreifen einer Straße "Trabant, Wartburg, Trabant, Wartburg, Trabant Lada" - die öde Einheitlichkeit der sozialistischen Autoproduktion. An den Kiosken hängen statt Daily Mail und Financial Times die sowjetischen Zeitschriften Sowjetskaja Pedagogika und Meschdunarodnaja Schisn aus. Und über den alten Berliner Gebäuden schweben Losungen des sozialistischen Staates: "der unzerstörbare Kampf SEDKPdSU", "fest an der Seite der arabischen Völker". So kennt er es wohl noch von früher.

Obwohl die vorgestellte Sicht der Figur Schotts aus dem amerikanischen Flugzeug etwas Befreiendes hat, weil sie die gesetzte Grenze überschreitet, verweist sie natürlich gleichzeitig auf eine gewisse Hilflosigkeit, denn betreten kann er den Ostteil der Stadt eben nicht. Allerdings schmerzt das nicht mehr, und in literarischer Hinsicht erweist sich diese Perspektive als Vorteil, weil er eine dem Gegenstand angemessene Perspektive ermöglicht. Was nämlich für einen Flugzeugpassagier natürlich erscheint, daß er von oben keine Menschen sehen, keine Geräusche hören, keine Gerüche riechen kann, evoziert im Kontrast zu der "explodierenden" literarischen Darstellung Westberlins ein Gefühl der Leere, Enge, Uniformität und Fremdheit, ein Gefühl, das durchaus der Präferenz Schotts und wohl auch der des Autors für den "Qdamm" entspricht. Die letzten beiden Worte der Erzählung, "über die Mauer", beschreiben daher nicht nur einen Tatbestand, nämlich, daß das Flugzeug gerade über die Mauer geflogen ist, sondern teilen auch ein Gefühl der Erleichterung mit. Es ist die Erleichterung dessen, der nun wirklich alles hinter sich gelassen hat. Diese drei Wörter und die davor stehenden Bruchstücke politischer Losungen der DDR: "Es lebe Alles für Je stärker um so Vorwärts, An der Seite Unter dem Banner" enthalten somit auch die Geschichte eines endgültigen Abschieds aus dem kommunistischen Imperium und einer Ankunft in einer neuen Welt, die nun seinen dritten Lebensabschnitt bestimmt.

Freilich ist dieses Westberlin für Schott kein bequemer Diwan, denn er muß sich ja in dieser neuen Umgebung behaupten, muß sie sich aneignen. So ist es zwar auf der einen Seite eindeutig, daß sich Schott gegen die Hegemonität des Ostteils der Stadt und für die Kakophonie Westberlins entschieden hat, das Straßenkünstlern, Huren, Pennern, Marktschreiern, Cappuccinobrauern und polyglotten Zeitungslesern Raum gibt. Doch reicht das, ihn zu trösten? Fast physisch spürt er, daß die ewige Gegenwart des chaotischen, ja blasphemischen Nebeneinanders aller Werte auf den Märkten des Westens ihm zwar eine arg benötigte, persönlich anonyme Freiheit gewährt, aber auch sein eigenes Schicksal in den Sog des beliebig Austauschbaren zieht. Schott ist daher auf andere Art als am Alexanderplatz auch am Qdamm gefährdet. So ist der Moment der Ankunft, des politischen Sich-zu-Hause-Fühlens im Westen der Stadt auch gleichzeitig der Moment, der ihn seine existentielle Fremdheit, ja Verlorenheit in neuer Umgebung ahnen lässt, eine Fremdheit, die sich auch in der gewählten Nähe des Textes zur Ästhetik der in anderer Zeit Unbehausten, zur Ästhetik der klassischen künstlerischen Avantgarde widerspiegelt.

Schott umkreist auf seinem Spaziergang um Tauentzin und Kurfürstendamm ja nicht nur einen politischen und geschichtlichen Ort sondern auch einen ästhetischen. Am Kurfürstendamm 217 schrieb Robert Musil von 1931 - 1933 seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften,10 im Prinzeß-Café, Kurfürstendamm Nr. 16 arbeitete Walter Benjamin vor dem ersten Weltkrieg am Ursprung des deutschen Trauerspiels, in der Nr. 10 befand sich das Romanische Cafe, in dem sich die Boheme, besonders die bildenden Künstler, der zwanziger Jahre traf., und am Kurfürstendamm Nr. 26, nahe der Kreuzung an der Schott von einem Yamaha-Fahrer erschreckt wurde, war das Café des Westens (vormals Café Größenwahn) angesiedelt, in dem Herwarth Walden seine Zeitschrift Der Sturm entwarf und in dem sich der Aktion-Kreis um Franz Pfempfert und Kurt Hiller trafen. Kann man von einem Zufall sprechen, oder ist es nicht viel mehr eine Hommage an die klassischen "Wilden" des deutschen Expressionismus und deren intellektuelle Begleiter, wenn Schädlich seine Mittelpunktsfigur die Stadt in expressionistischer Manier erfahren läßt? Das große Maß an fast karnevalistischer Freiheit, das Schott trotz oder gerade wegen seiner schmerzlichen Besinnung auf Geschichte um den Kurfürstendamm herum empfindet, reflektiert sich auch in der Schreibweise des Autors, der in seinem Text an die Stilmittel der in der DDR unterdrückten und verschütteten Tradition des Expressionismus anknüpft, oder besser, sie zitiert, und damit das Signal gibt, auch ästhetisch im Westen angekommen zu sein.

Schädlich arbeitet in dieser Erzählung vor allem mit der Montage von authentischen Materialien, einem Stilmittel, das den Kunstcharakter seines Textes zum Problem erhebt, so wie es Expressionismus und Dadaismus schon am Beginn des zwanzigsten Jahrhundert in ihrer Frontstellung gegen herkömmliche Kunstvorstellungen der Hochkultur getan hatten. In seiner Erzählung lösen Werbesprüche Gesprächsfetzen von Passanten ab, kalauern Straßenverkäufer über Politik, bieten sich bibelfeste Huren an, und politische Parolen im Osten machen sich an Häuserfassaden bemerkbar, die noch aus anderen diktatorischen Zeiten stammen. Und das alles wird in parataktisch angeordneten Sätzen und Halbsätzen beschreiben. Der ästhetische Verweis is klar: Es geht um Realität und um Episches, nicht aber, z. B. um die kunstvolle Ausgestaltung eines merkwürdigen Vorfalls, wie es eine traditionelle Novelle verlangte.

Es fällt nicht leicht, diese kleine, aber bedeutende Erzählung in einen Zusammenhang einzuordnen, der über den Text hinaus weist. Geht man vom Ort der Handlung und der Schreibweise der Erzählung aus, könnte man meinen, "Ostwestberlin" sei ein spätes Echo auf Döblins Berlin Alexanderplatz, nämlich die Beschreibung einer sich entfaltenden Stadt mit den ihr eigenen Lauten, Gerüchen und Sehenswürdigkeiten, in welcher der aus dem Gefängnis entlassene kleine Gauner Franz Biberkopf zum neuen Menschen wird. Auch Schott wurde ja, so muß man annehmen, aus einem Gefängnis entlassen, selbst wenn es nur ein metaphorisches Gefängnis mit allerdings echten physischen wie mentalen Restriktionen war. Doch ist der Anspielungsraum von dem Döblins weit entfernt. Um es auf einen groben Nenner zu bringen, Berlin Alexanderplatz kennt weder das nazistische Reich noch das sowjetische Imperium. Auch wäre es möglich, Schädlichs Text als ein frühes Beispiel der in den neunziger Jahren in Mode gekommenen Berlinliteratur zu lesen. Alle jungen Autoren wohnen ja heutzutage in und schreiben über Berlin, hat man den Eindruck, wenn sie nicht gerade die nazistische Vergangenheit aufarbeiten, Popliteratur produzieren oder an Wenderomanen werkeln.12 Doch fehlt den meisten dieser Werken die Tiefe der geschichtlichen Dimension, die so zentral in Schädlichs Text vorhanden ist.

Obwohl die Erzählungen in Ostwestberlin über die dort vermittelten Erfahrungen Einzelner hinaus auf Exemplarisches verweisen und obwohl biographisch orientierte Interpretationsansätze bei allen Texten Schädlichs mit Vorsicht zu genießen sind, weil sie, wie ein fiktiver Autor in seinem Roman Schott (1994) einmal sagte, den Erfindungsreichtum von Autoren vernachlässigen, lassen sich in diesem Texten trotzdem versteckte Verweise auf die Biographie des Autors finden. Schädlich selbst gab in verschiedenen Interviews Auskünfte über die schwere frühe Zeit in der Bundesrepublik, Auskünfte, die durchaus zu diesen Texten passen, so daß es nahe liegt anzunehmen — wie es Martin Ahrends, Armin Ayren, Sabine Brandt, Maja E. Gwalter und Sybille Cramer in ihren Rezensionen von Ostwestberlin auch getan haben —,13 daß es in dieser Schreibphase des Autors sehr viele Bezüge zwischen Biographie und Fiktion gegeben hat:

Die Affinität der literarischen Texte in Ostwestberlin zu den Erfahrungen des Autors Schädlich von seiner Ausreise aus Ostberlin bis zu seinem langsamen Heimischwerden im Westen der Stadt gibt — entgegen Theodor Buck, der davon spricht, daß der Erzählband keine thematische Einheit hat 14 — diesen Texten ihre thematische Kohärenz. Das wird deutlich, wenn man die Erzählungen seines Bandes Ostwestberlin in der Reihenfolge liest, in der sie abgedruckt wurden. So geht es im ersten Text um die Unbilden des Lebens in einer Diktatur ("In abgelegener Provinz" und "Aber einer"), dann um die Ausreise einer Familie aus der DDR ("Einzelheit"), weiterhin um die Erfahrungen eines Autors im Westen ("Luft"), um ein Tier, das aus seinem ursprünglichen Lebensraum weggefangen und dann im Zoo dumpf brütend ausgestellt wird ("Halme, Zweige, Fluß"), um Klinikpatienten ("Unter Wegen"und "Halber Tag"), um Alpträume eines Flüchtenden ("Nacht, zweiter bis dritter August", dann um einen Penner, der in der Toilette des Bahnhofs Zoo übernachtet ("Fürchtegott vergnügt"), die Flucht aus häuslichen Verhältnissen "Müde aber wach") und die Schreibschwierigkeiten eines Autors ("Irgend etwas irgendwie") Am Ende des Bandes steht dann die Ankunftserzählung "Ostwestberlin", die viele Motive noch einmal aufnimmt und so als eine Art abschließende persönliche Beschreibung der langen Ankunft des Autors in Westberlin anzusehen ist.

Auch lassen sich Einzelheiten in der Erzählung "Ostwestberlin" biographischen Gegebenheiten im Leben des Autors zuordnen. Sie deutet der gesenkte Kopf Schotts vor dem Kaufhaus Wertheim auf die Zugehörigkeit von Schädlichs Vater zum nazistischen "Kampfbund gegen jüdische Kaufhäuser", der rasende Yamaha-Fahrer verweist auf einen Onkel Fritz in Schädlichs Familie, der von den Nazis auf Grund der Euthanasiegesetze ermordet wurde, und Schotts Begegnung mit dem Straßenkünstler und Obdachlosen mag ganz real oder metaphorisch an die frühen schweren Jahre Schädlichs im Westen erinnern.

Allerdings sind die Erfahrungen und Gefühle Schotts nicht ausschließlich auf die persönliche Biographie Schädlichs zu beziehen; Schott ist ja vor allem eine literarische Figur. Vielmehr verweist die Figur Schott auch immer auf exemplarische Erfahrungen von Exilanten — Schädlich selbst hat sich überigens nie als Exilanten gesehen — Vertriebenen, Geflüchteten, Ausgewanderten und Versteuten aller Zeiten. Wenn es nicht so vollkommen aus dem Kontext genommen wäre — immerhin hatten die Pioniere des theoretischen Postkolonialismus Edward Said, Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin ja nicht das sowjetische Imperium und dessen sich befreiende Kolonien in Osteuropa oder die Diaspora osteuropäischer Intellektueller im Auge — möchte man in den Kurzgeschichten von Ostwestberlin postkoloniale Texte sehen, Texte, die ihre Mittelpunktsfiguren aus dem realen und geistigen Zentrum des kommunistischen Imperiums herausschreiben. Besonders augenfällig wird das an der Erzählung "Halme, Zweige, Fluß", das sich kolonialer Metaphern wie Tier, Jagd, Wildfänger und Zoo bedient, um die Situation eines aus seiner vertrauten Umgebung herausgefangenen Großwilds zu beschreiben, das dem Imperium zwar entkommen war, aber ob seiner Tiergestalt in neuer Umgebung als Kuriosität ihm Zoo ausgestellt wurde. Dieser Eindruck, als eine Art exotisches Tier ausgestellt zu werden, ist sicher von vielen Ostlern nach dem Kollaps der DDR geteilt worden. Doch sind es nicht nur die Safari-Metaphern in "Halme, Zweige, Fluß", sondern auch die Armut und Unbehaustheit in der neuen Umgebung in "Fürchtegott vergnügt", die anhaltende Angst vor den Soldaten, den Symbolen der Macht des Imperiums, im Alptraum eines Flüchtenden ("Nacht, zweiter bis dritter August") und die nur langsam überwundene Hilf- und Hoffnungslosigkeit eines Patienten in der Nervenklinik im neuen Land ("Halber Tag"), die von den Schwierigkeiten eines neuen Anfangs desjenigen sprechen, der eine gehaßte, aber vertraute Umgebung verlassen hat, ohne sich sogleich dem Neuen öffnen zu können.

Der im thüringischen Reichenbach geborene Hans Joachim Schädlich ist einer der vielen Autoren, die in den siebziger Jahren unter dem Druck staatlicher Repressionen die DDR verließen und ihre neue Welt intensiv und mit neuen sprachlichen Mitteln beschrieben, ohne daß die Literaturkritik oder das literarische Feuilleton in seinen Texten die Erfüllung des Wunsches nach der literarischen Gestaltung der Ankunft in westlicher Gesellschaft zu sehen vermochten, d. h. ohne seine Texte, im Sprachgebrauch der neunziger Jahre, als Wendetexte zu sehen. Das mag auf der einen Seite verständlich sein, weil der zum Jahrgang 1935 gehörende Schädlich zwar den größten Teil seines Lebens in der DDR verbracht, sich aber stets als deutschen, nicht als DDR-Autor verstanden hatte und daher auch keine "persönliche politische Wende" vollziehen konnte. Folglich konnte er auch nicht als ein gewendeter Autor rezipiert werden. Man wünschte sich jedoch, daß ihm und anderen Autoren, die noch vor der Öffnung der Mauer aus dem Osten weggingen und dieses Weggehen und ihr Leben im Westen schon seit langem reflektieren, mehr Beachtung geschenkt würde, spricht doch aus ihren Werken ein Reichtum an Erfahrung, auch sehr schmerzlicher Erfahrung, mit zwei unterschiedlichen sozialen Systemen und zwei Visionen des "wie man zer welte solte leben ", deren Kenntnisnahme in gegenwärtigen Diskussionen postkolonialen und postkommunistischen Denkens von großer Bedeutung wäre.


Endnoten

1 Hans Joachim Schädlich, "Ostwestberlin," Ostwestberlin (Reinbeck: Rowohlt Verlag, 1987) 168/69.

2 Ostwestberlin 165.

3 Ostwestberlin 170.

4 "Schattenbehältnis" ist eine Geschichte zur Reichskristallnacht im Jahre 1938 und wurde noch in der DDR geschrieben.

5 Siebzehn der 21 Texte waren schon vorher in verschiedenen Publikationen erschienen.

6 Walter Benjamin, "Die Wiederkehr des Flaneurs", Gesammelte Schriften Band III (Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1980) 194.

7 Alexander Kluge: "Gefühle sind das Eigentum & Mac 226; Jeder hat so einen Bauern in sich. Der ackert auf den Feldern der Erfahrung": Der Autor Alexander Kluge im Gespräch über natürliche Zeit und Übereilung, Not und Wendigkeit, Irrtümer und das Böse. Interview mit Reinhard Kahl taz 13. 8. 2001.

8 Einen dokumentarischen Bericht über das Schicksal Fritz' findet sich unter dem Titel "Mechanik" in Ostwestberlin.

9 Ostwestberlin 175.

10Ostwestberlin 176.

11 In den Materialien zu Ostwestberlin findet sich ein Hinweis auf Musils Berliner Adresse. Vorlass Hans Joachim Schädlich. Literaturarchiv Marbach. Handschriftenabteilung

12 Ich übertreibe nur leicht, denn von Andreas Neumeisters Ausdeutschen über Wladimir Kasimers Russendisko, Inka Pareis Schattenboxerin, Herbert Beckmanns Atlantis Westberlin, Thea Dorns Berliner Aufklärung bis zu Michael Rutschkys Berlinroman, einem im Internet angesiedelten Hypertext geht es wesentlich um Berlin und das Leben in einer realen oder mythischen Großstadt. Zum Teil schreibt man aus einem noch spürbaren Vergleichsgestus des alten Ostens mit dem kapitalistischen Westen heraus, wie Klaus Schlesinger in seinem neuen Roman Trug (2000). Oder man sieht die Stadt nach langer Abwesenheit mit neuen kritischen Augen, wie der Wahlberliner Peter Schneider in Eduards Heimkehr (1999). Teilweise versucht man auch, sich der Stadt, oder vielmehr des Stadtteils, seiner Jugend zu vergewissern, wie Peter Wawerzinek mit Mein Babylon (1995). Oder Berlin wird, wie in Thea Dorns Kriminalroman Berliner Aufklärung, zum tödlichen Abenteuerspielplatz. Anderen Autoren erscheint die Stadt als realer Ort, der gleichzeitig als Metapher für einen "coolen" urbanen Lebensstil steht, wie ihn Ulrich Peltzei in Stefan Martinez (1995) beschreibt und Richard Wagner in Im Grunde sind wir alle Sieger ironisiert. Könnte man ihn als den auf sich bezogenen den Lebensstil, der von Heinz Bude, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, entdeckten Generation Berlin bezeichnen?

13 Siehe Martin Ahrends, "Berlin-Ost und Berlin-West", Die Zeit 22. Januar 1988; Sibylle Cramer, "Die nicht unbekümmerte Benutzung von Auge und Sprache. Prosa von Hans Joachim Schädlich aus zehn schwierigen Jahren: 'Ostwestberlin'", Süddeutsche Zeitung 3. Dezember 1987, S. 2; Armin Ayren, "Ein Einsamer im Supermarkgebirge. Prosa von Hans Joachim Schädlich: 'Ostwestberlin', Stuttgarter Zeitung 12. Dezember 1987, S. 50; Sabine Brandt, "Des Unglücks vielfältige Namen. Hans Joachim Schädlichs Prosaband 'Ostwestberlin'", F .A. Z. 31. Oktober, 1987; und Maja E. Gwalter, "Kurze Texte zum langen Ankommen. Hans Joachim Schädlichs: 'Ostwestberlin'", Neue Zürcher Zeitung 3. Mai 1988, S. 29.

14 Theo Buck schrieb in seinem Aufsatz in der KLG: Thematische Einheit darf von einer solchen Sammlung füglich nicht erwartet werden. Theo Buck, "Hans Joachim Schädlich", Heinz Ludwig Arnold (Hg.) Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - KLG, Loseblattwerk