Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 15/2002
Die Frage nach kultureller Identität und nationaler Geschichte in den Werken deutschsprachiger AutorInnen der Gegenwart
Elke Segelcke
Alle (komplexen Gesellschaften) schreiben regelmäßig ihre dominante nationale Mythologie neu, um Machtwechsel, politische Interessen und Zeitgeschmack zu reflektieren [
] Die Vergangenheit ist ein zentrales Schlachtfeld für den Kampf der kulturellen Identitäten, kommentiert die Australierin Leonie Naughton die Filmproduktion nach der Wende in ihrem Aufsatz Wiedervereinigung als Siegergeschichte. [1]
Entsprechend häufen sich nun, nachdem die Nation als politische Leitidee über fünfzig Jahre lang für die Deutschen erledigt war, nach Ende des Kalten Krieges, dem Zerfall der bipolaren Weltordnung und der Neuentdeckung nationaler Symbole durch die Wende von 1989 die Selbstvergewisserungsdebatten und historischen Kontroversen um die jüngere deutsche Geschichte und die eigene Nation trotz oder gerade wegen der Herausforderung der tradierten Hegemonie der westlichen Kultur durch ethnische Minderheiten. Obwohl sich die Deutschen nach der kürzlichen Reformierung des Staatsangehörigkeitsrechts erstmals in ihrer Geschichte nicht mehr als Abstammungsgemeinschaft, sondern als Bürgernation und Einwanderungsland verstehen, wird neuerdings von konservativer Seite eine deutsche Leitkultur der nationalen Mehrheit gefordert und die seit der Vereinigung beobachtbare Konjunktur von Heimat nimmt ebenso zu wie die rechtsextreme Gewalt gegen Fremde.
Im folgenden soll es in dieser Untersuchung anhand literarischer und kulturkritischer Diskurse darum gehen aufzuzeigen, wie die derzeitige Identitätsdebatte um die nationale Kultur in Deutschland von deutsch-türkischer, deutsch-jüdischer und deutscher Seite aufgenommen wird. In diesem Zusammenhang wird neben Zafer Senocaks essayistischen und novellistischen Kommentaren (Atlas des tropischen Deutschland, 1992; Gefährliche Verwandtschaft, 1998), Jürgen Habermas Beitrag zur multikulturellen Realität (Die Einbeziehung des Anderen, 1999), Gisela Eckers Analyse des wiederentdeckten Heimatbegriffs (Kein Land in Sicht. Heimat weiblich?, 1997) und Daniel Cohn-Bendits/ Thomas Schmidts Studie Heimat Babylon (1993) auch die deutsch-jüdische Perspektive mitberücksichtigt werden unter Heranziehung von Barbara Honigmanns Band Damals, dann und danach (1999): denn Geschichte und Erfahrungshintergrund der Juden als der größten Minderheit anderen Glaubens, die wie keine andere Minderheit im Deutschen aufgegangen war, gilt es nach Meinung Senocaks für die andersgläubigen Minoritäten endlich produktiv zu machen. [2] Die Verbindung von türkischer und jüdischer Minoritätsidentität findet ihren Niederschlag zudem auch in Senocaks 1998 erschienenen eigenen Roman Gefährliche Verwandtschaft, in dem der Erzähler von vermischter deutsch-jüdischer und türkischer Herkunft (nach der Rückkehr aus Amerika, wo er den Fall der Mauer verpaßt hat) sich als Enkel von Opfern und Tätern durch das Erbe der großväterlichen Notizbücher der Vergangenheit seiner Familie und damit der deutsch-jüdisch-türkischen Geschichte wie auch der kontroversen Identitätspolitik in Deutschland nach 1989 stellen muss.
Nationale Geschichte als Schlüsselrolle bei der Frage nach der Offenheit für Andere: diese Position vertritt Zafer Senocak als einer der derzeit wohl wichtigsten Vertreter der zweiten Generation, wenn er 1995 -- im Jahr der Gedenk-Veranstaltungen und der einsetzenden Debatte um das geplante Holocaust-Mahnmal -- in einem Interview im Berliner Tagesspiegel mit dem vielsagenden Titel Darf man Türken und Juden vergleichen, Herr Senocak? den Deutschen eine Konzeption von der Geschichte als ethnisch-kollektivem Gedächtnis attestiert, als persönliches Erlebnis der Nation, zu dem Andere keinen Zugang haben und das nach den Verbrechen der Nazis an die Schuldfrage geknüpft bleibe, obwohl an die Stelle von Erinnerungsarbeit wohl eher die Verpackung der Geschichte in Gedenkreden und Rituale getreten sei. [3] Eine ähnliche Sicht wurde kürzlich in einem Spiegel-Artikel auch von Bernhard Schlink vertreten, für den die Fixierung auf die traumatische Vergangenheit nur die Kehrseite der Verdrängung darstellt. [4] So könnte die Auflösung des ethnisch definierten Geschichtskonzepts nach Senocak eine Entlastung für die Deutschen von ihrer historisch eher negativ geprägten Selbstwahrnehmung bringen, was von Bedeutung sowohl für die Mitgestaltung der deutschen Zukunft durch die Einwanderer vor allem der dritten Generation wäre, als auch für die friedliche Entwicklung des Nationalstaats. [5] Um die heutigen Widerstände in Deutschland gegenüber den Einwanderern wirklich zu verstehen, müsse das Negieren der eigenen Geschichte (bis zur Wiedervereinigung auf eine jeweils west- und ostdeutsche Weise praktiziert) überwunden und der Nationalsozialismus aus der unverbindlich abstrakten Ebene des feierlichen Rituals der deutschen Vergangenheitsbewältigung herausgeholt und wieder in die deutsche Geschichte eingefügt werden: eine Kritik also an der Verklärung des Nazismus als ein einmaliges und mysteriöses Phänomen, die unter anderem auch Hagen Schulze teilt, wenn er im Vorwort zu seiner 1996 erschienenen Kleinen deutschen Geschichte in Anspielung auf die deutsche Historiographie bemerkt, daß auf die goldene Legende vom geradlinigen Aufstieg des germanisch-deutschen Reichs(
) die schwarze Legende vom bösen, total verfehlten deutschen Sonderweg folgte. [6]
Zeitverschobene Parallelen zwischen der Minderheitengeschichte der Juden und der Türken sieht Senocak nach einer über dreißigjährigen türkischen Migrationsgeschichte insofern, als eine Mehrheitsgesellschaft vor allem aufgrund unterschiedlicher Religion die Anderen trotz zunehmender Assimilation als nicht zugehörige Fremde betrachtet, was auch noch auf die im Land geborene und hinsichtlich ihres wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs angepasste dritte Generation zutrifft. Entsprechend äußert eine seiner Romanfiguren in Gefährliche Verwandtschaft: Die Deutschen haben nichts aus ihrer Geschichte gelernt [
], jetzt haben sie sich die Türken ins Land geholt. Dabei sind sie nicht einmal mit den Juden zurechtgekommen.[7] Veränderungen könnte allerdings eventuell ein Trialog zwischen Christen, Juden und Türken bringen, also zwischen Christen, Juden und Moslimen (Verwandtschaft, S. 89), wie der deutsch-jüdisch-türkische Erzähler reflektiert, denn ohne die Juden stünden die Türken in einer dichotomischen Beziehung zu den Deutschen und damit in den Fußstapfen der deutschen Juden von einst (Verwandtschaft, S. 90). Eine Auflösung der deutsch-jüdischen Dichotomie durch Einbeziehung der Türken könnte dagegen sowohl Deutsche wie Juden von ihren traumatischen Erfahrungen als auch von ihrem verfehlten Schulddiskurs erlösen. Entsprechend ihrer langen, verhältnismäßig ruhigen gemeinsamen Geschichte im Osmanischen Reich müßten dazu die Türken in Deutschland ihrerseits die Existenz der Juden (wieder)entdecken und zwar nicht nur als ein Teil der deutschen Vergangenheit, an der sie nicht teilhaben können, sondern als Teil der Gegenwart, in der sie leben (Verwandtschaft, S. 89). Allerdings schränkt der Ich-Erzähler seine optimistischen Überlegungen gleich wieder ein, zu denen ihm die Wirklichkeit wenig Anlaß gebe. Im Zusammenhang mit der seit der Wiedervereinigung aktualisierten Frage, wer ein Deutscher sei und wer nicht, werden denn auch an den Türken die Grenzen des Deutschseins getestet. Juden, die sich über ihr Deutschsein klar werden wollen, entdecken im Spiegel die Türken (Verwandtschaft, S. 90).
Bei der kürzlichen Verabschiedung von der ethnisch definierten Abstammungslehre bleibt ein Überdenken der kulturellen Identitätskomponente allerdings ausgespart; auch weiterhin überwiegt ein ungebrochener Begriff von Identität: die Minderheiten bleiben damit trotz Anpassung andersartig und weiterhin Fremde, womit für Senocak die Diskussion über das neue Ausländergesetz weitgehend vor allem an der zweiten Generation der in Deutschland aufgewachsenen türkischen Immigranten vorbeigeführt wurde. [8]
Auf die historischen Bedingungen der nationalistischen Abkapselung der verspäteten deutschen Nation und des damit zusammenhängenden deutschen Kulturbegriffs als Grundlage der bürgerlichen deutschen Identität in eindeutiger Abgrenzung gegenüber den Nachbarn, besonders von Frankreich, hat vor allem Norbert Elias in seinen Arbeiten immer wieder hingewiesen. Entsprechend verweist Senocak darauf, daß im Gegensatz zum französischen Begriff der Zivilisation, der neben dem nationalen auch einen global orientierten, kosmopolitischen Anspruch habe, herausgebildet durch den Kolonialismus (das Fremde wurde dort väterlich-fürsorglich und erdrückend umarmt anstatt ausgegrenzt), die deutsche Kultur nur dann absorbiert, wenn sie das Fremde einschmelzen kann (Atlas, S.57). Diese Antithetik zwischen französisch republikanischem Ideal der zivilen Assimilation und dem deutschen eher ethnisch orientierten Modell führt hinsichtlich des Status des kulturellen Immigranten in beiden Ländern zu unterschiedlichen Spannungen. Je näher man den Deutschen kommt, um so fremder wird man aus deutscher Sicht. Daß die Deutschen dazu neigen, den Spiegel zu zertrümmern, in dem ihr Bild auftaucht (Verwandtschaft, S. 106), erklärt für Senocak auch, warum die gegenwärtige Integration von Kunst und Kultur von Minderheiten in die deutsche Kulturlandschaft so schwierig ist, und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Geschichte der Juden in Deutschland: denn auch die Wirkung der Aufklärung auf das Judentum mit all ihren Folgen bis zur Emanzipation und Assimilierung (Atlas, S. 16) hat die Auslöschung der jüdischen Minderheit nicht verhindern können.
Diese Bilanz des Scheiterns einer deutsch-jüdischen Kultursymbiose zieht auch Barbara Honigmann, die auf der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln 1984 mit Mann und Kindern die DDR verließ, sich in Straßburg ansiedelte und in der dortigen Gemeinde heimisch wurde. Ihr Essay Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir (aufgenommen in den Band Damals, dann und danach von 1999) zeichnet anhand der Generationsfolge ihrer Väter die zunehmende kulturelle Entfremdung der Juden in Deutschland nach und läßt sich durchaus als Replik auf das im Interview von 1995 geäußerte türkisch-jüdische Anliegen Senocaks lesen, wenn sie am Ende ihrer dem Leser gerade mitgeteilten Geschichte überlegt, ob sie diese nicht einer ihr in Straßburg zufällig begegnenden türkischen Familie erzählen sollte, um deren Bild von den Juden zurechtzurücken, das offensichtlich genauso schief hängt wie unseres von ihnen. [9] Während ihr Urgroßvater als ein Sohn der Aufklärung sich noch gleichzeitig für die Emanzipation der Juden in Preußen und die demokratischen Belange der deutschen Liberalen von 1848 eingesetzt hatte, hatte sich der Großvater als ordentlicher Professor der Medizingeschichte bereits völlig assimiliert und der Vater verleugnete schließlich ganz Judentum und bürgerliche Herkunft, indem er sich nach dem Exil als Bürger der DDR der kommunistischen Partei unterwarf -- womit ihre Eltern, ähnlich der zweiten Generation der Türken, am Ende zwischen den Stühlen bzw. Kulturen saßen. Nach diesen Erfahrungen des gescheiterten Eintritts in die deutsche Kultur hat sich die Nachgeborene für die Rückkehr zu einem bewußten Judentum und die Trennung von Deutschland entschieden, um allerdings kulturell im Schreiben immer wieder dorthin zurückzukehren. Mit Senocak teilt sie auch die Kritik am überspannten deutschen Schulddiskurs, der nur mit Blick auf die schreckliche Geschichte ohne eigentliches Wissen um das Jüdische geführt werde, so daß ihr erst dieses Nicht-voneinander-loskommen-Können als die so oft beschworene deutsch-jüdische Symbiose erscheint (S. 16).
Vor diesem Erfahrungshintergrund spricht sich Senocak in seinen gesammelten Essays Atlas des tropischen Deutschland aus dem Jahre 1993 sowohl gegen Assimilation als auch gegen Absonderung und Ghettoisierung aus und stattdessen für eine multikulturelle Gesellschaftsperspektive mit uneingeschränkten Bürgerrechten und dem Aushalten von Differenz(en), die allerdings eine Veränderung des jeweils eigenen Bewußtseins und einen neuen multiplen und fluiden Identitäsbegiff im Sinne postmoderner und postnationaler Verhältnisse voraussetzt und damit die verstärkte Post-Wende Obsession mit Bezug auf eindeutig festgelegte Identitäten unterläuft. So will auch Homi Bhabha die Frage der kulturellen Differenz als produktive Desorientierung verhandeln und nicht als Festschreibung einer vereinnehmbaren Andersartigkeit. In Die Verortung der Kultur unternimmt er den Versuch einer Neudefinition von intersubjektiven und kollektiven Erfahrungen von nationaler Gemeinschaft im multikulturellen Zeitalter von Emigration, Migration und ethnischer Hybridität. Danach wird die ambivalente kulturelle Identität des Individuums nicht festgelegt auf eine kohärente ethnische Position, sondern begriffen als Verknotung und Überschreitung der divergierenden ethnischen, klassen- oder geschlechtsspezifischen Zugehörigkeiten. [10] Indem nach Senocak dem Druck der Assimilierung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft ein Gegendruck der Konservierung von seiten der Minderheit entspricht, meistens umschrieben mit Begriffen wie kulturelle Identität, gehen die Beteiligten in beiden Fällen von der Illusion aus, ihre Identität sei ungebrochen und ohne weiteres voneinander zu unterscheiden (Atlas, 44). Die Veränderung überlieferter Traditionen wird aber erst dem gelingen, der gelernt hat, Perspektiven zu wechseln, das Fremde wie etwas Eigenes und das Eigene aus der Distanz zu betrachten (Atlas, S. 19).
Im Zusammenhang mit der nationalen Geschichte wird von Senocak auch die Art und Weise der öffentlichen deutschen Thematisierung des europaweiten Zuwachses rechtsradikaler und nationalistischer Bewegungen kritisiert, da diese im Rahmen der Muster deutscher Vergangenheitsbewältigung bleibt: durch Schuldspruch (anstelle von Analyse aktueller Vorgänge) sprechen sich die Einzelnen von der Schuld los (vgl. Atlas, S. 33). Einen hohen Anteil an der Fehleinschätzung des Wiedererstarkens des Nationalismus, (der zumeist mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, sozialer Verunsicherung und Vertrauensverlust in die Politik erklärt wird), hat dabei wiederum der ritualisierte Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland, wo der Rechtsradikale immer ein Sonderling mit Glatze sein muß, ungeachtet der Tatsache, daß die fast vierzig Prozent NSDAP-Wähler 1932 ganz gewöhnliche, brave deutsche Bürger , süchtig nach Stabilität und Ordnung gewesen sind (Atlas, S. 56). Radikaler Nationalismus und Rassismus in Europa und besonders in Deutschland sind demnach also nicht nur Ideologien der Negation, sondern bieten durchaus Identifikationsmöglichkeiten wie Familie, Sprache, und Heimat in historischer Kontinuität an, die aufgrund der emanzipatorischen Entwicklungen in den pluralistischen Demokratien an Bedeutung verloren haben und durch diese Ideologien wieder aufgewertet werden. Entsprechend folgert Senocak, daß bei der rechten Wählerschaft zur sozialen Protest komponente noch die Komponente kulturelle Identität hinzukomme (Atlas, S. 57).
Seine Analyse bietet sich auch als Erklärung an für die seit der Vereinigung erneut beobachtbare Konjunktur von Heimat in den unterschiedlichsten Medien, wobei der Begriff von der Bundeszentrale für politische Bildung eingesetzt wird als Chiffre für den Anspruch auf eine vertraute Welt, für Kohärenz, Transparenz, Überschaubarkeit und Geborgenheit, als Retterin gegenkalte Funktionslogik, strikte Zweckrationalität, Anonymität und Vereinzelung über alle Brüche der Vergangenheit hinweg, wie Gisela Ecker in ihrem Band von 1997 Kein Land in Sicht. Heimat weiblich? recherchiert hat. [11] Sie endet ihre Einleitung mit der auch von Senocak geteilten Einsicht, daß im Gegensatz zu Nation und Vaterland, die mit Schuld belastet sind, [º] Heimat den Rekurs auf einen Ort der Unschuld ermöglicht, über den neue Setzungen von Sinn und Identität legitimiert und kontinuierlich gestiftet werden können. Der Preis dafür ist [allerdings, ES] das Verschwinden und die Tilgung von Differenz/en, indem universalistisch ein einheitlicher Ort als nationales Symbol gesetzt wird und zwar aus der Warte eines Kollektivs, das Probleme mit seiner Identität hat. [12]
Heimat als kulturelles Konstrukt mit allen Konventionen des Genres findet sich teilweise auch in westlichen Wendefilmen, in denen der Osten als Heimat definiert wird im Sinne eines dem Westen verloren gegangenen vorindustriellen Paradiesesmythischen Ursprungs, wo Phantasien von sozialer Integration, Gemeinschaft und Harmonie umgesetzt werden, wie Leonie Naughton in ihrer Analyse zur Filmproduktion nach der Wiedervereiniguing nachgewiesen hat. Dabei kommt sie im Rekurs auf Walter Benjamins Philosophie der Geschichte zu dem Ergebnis, daß die Wiedergewinnung des Ostens als Heimat gerade in einer Zeit der politischen Umwälzungen und des konfliktgeladenen Wiederaufbaus es dem westlichen Sieger erlaube, auf diese Weise die kulturelle Identität und Geschichte des östlichen Besiegten zu bestimmen und damit aus der Siegerperspektive zu marginalisieren. [13]
Im Rückgriff auf Freuds psychoanalytisches Denkmodell des Unheimlichen hebt Homi Bhabha jeglichem Heimatkonzept entgegengesetzt stattdessen die unumgängliche Ambivalenz unserer multikulturellen Welt hervor, die eine Vorstellung von Nation und den Trost der Zugehörigkeit zu einem heimisch-vertrauten Ort immer mit der unheimlichen, aber unvermeidbaren Bedrohung verschränkt, die von dem kulturell Anderen ausgeht, wonach demzufolge das Andere nie außerhalb von uns, sondern innerhalb eines jeden kulturellen Systems verortet ist . [14]
Ganz ähnlich konstatieren Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem 1993 erschienenen Band Heimat Babylon das Bedürfnis nach Heimat als eine Phobie vor dem Fremden und als ein Bedürfnis nach Übersichtlichkeit angesichts einer von Ungleichzeitigkeit, Widersprüchlichkeit und Vielfalt geprägten (Post-)Moderne, die ihren Ausdruck findet in der uneinheitlichen, offenen und konfliktgeladenen multikulturellen Gesellschaft. So sind die Ausländer lediglich die Boten der (post)modernen Unübersichtlichkeit, nicht die Botschaft, die auch in einem fremdenfreien Deutschland weiterbestehen würde, so daß es zur Heimat Babylon keine Alternative gibt. Mit dem Ruf der Rechten nach einem fremdenfreien Deutschland, also nach der Ausgrenzung des Fremden, verbindet sich für Cohn-Bendit die Illusion, das Bedürfnis nach Heimat befriedigen zu können, während eine bessere Antwort auf die bereits bestehende Einwanderungsgesellschaft die Integration von Fremden auf der Basis allseitiger Anerkennung der demokratischen Regeln wäre. [15]
Senocak, für den Heimat überhaupt nur in den Bezügen existiert, d.h. in seinem Verhältnis zu Sprache, Literatur und Körper, geht es dagegen bei seinen Multikulturalismus-Vorstellungen um mehr als um Integration und Akzeptanz von Grundgesetz und allgemeinmenschlichen Werten der Mehrheit. Angesichts des komplizierten Beziehungsgeflechts zwischen Eigenem und Fremdem ruft er im Falle der türkischen Minderheit zur Weiterentwicklung eigener Tradition im kritischen Gegenlicht einer pluralistischen Gesellschaft auf (Atlas, S. 19). Andererseits aber sollten gesellschaftliche Freiräume die eigene kulturelle Identität ermöglichen (d.h. vor allem Sprache, Religion, Mythologie und Symbole), die somit in das Kulturgut des Landes, in dem die Minderheit lebt, aufgehen und die Saat kultureller Vielfalt in der Gesellschaft bilden (Atlas, S. 24). Damit könnte die Anwesenheit einer Minderheit , die sich durch kulturelle, historische und religiöse Differenzen von der Mehrheit unterscheidet, sich als ein wichtiges Korrektiv bei der Wiederentdeckung eines neuen deutschen Nationalgefühls erweisen (Atlas, S. 17).
Im Gegensatz dazu allerdings sieht er die seit der Vereinigung und den damit neuentdeckten nationalen Symbolen anhaltende nationale Identitätsdebatte in Deutschland von der Konstruktion einer höchst diffusen Zusammengehörigkeitstheorie bestimmt, die beim Versuch der Schaffung eines neuen wieder vereinten Nationalstaats danach drängt, daß nationale und kulturelle Identität der Bürger identisch zu sein hat und damit an den gegenwärtigen Realitäten eines multikulturellen Europas vorbeigeht. So hatte der Fall der Mauer, der Zusammenbruch der alten Ordnung, nicht nur eine befreiende Funktion. Neue unsichtbare Mauern sind entstanden: Identität, d.h. die Frage nach Herkunft und Zugehörigkeit, ist zum Ersatz für Geborgenheit geworden. Der Protagonist Sascha in Gefährliche Verwandtschaft, der durch seine amerikanische Gastdozentur das historische Ereignis des Mauerfalls verpaßt hat, fragt sich nach seiner Rückkehr nach Berlin 1992 eingedenk des Holocaust und des deutschen Konzepts nationaler Geschichte als Elite der Erinnerung, ob er überhaupt noch hierher gehörte (Verwandtschaft, S. 121). Jetzt, wo die Mauer gefallen ist und man mich nach meiner Zugehörigkeit fragt, reflektiert der deutsch-jüdisch-türkische Ich-Erzähler und Autor mit deutschem Paß, kommt alles wieder hoch: ich habe erfolgreiche Kollegen, die sich alle ihrer Herkunft zu erinnern wissen, denn, sich der Herkunft erinnern bringt Erfolg. Man muß sich von den Deutschen absondern, um sichtbar zu werden (Verwandtschaft, S. 129). Dieses (nicht nur) türkische Dilemma in Deutschland könnte Senocak zufolge schon bald ein deutsches Dilemma in einem vereinten Europa sein [...]. Denn ein Gemeinwesen, daß keine Minderheiten in sich, als ihr angehörig akzeptieren kann, kann sich nur schlecht in ein multinationales System einordnen, in dem es selbst wiederum nur eine Minderheit darstellen wird ( Atlas, S. 25).
In seiner jüngsten Studie Die Einbeziehung des Anderen (1999) beantwortet Jürgen Habermas die Herausforderung des traditionellen Nationalstaats im Inneren durch die Sprengkraft des Multikulturalismus und von aussen durch den Problemdruck der Globalisierung mit einem Bekenntnis zur gleichberechtigten Koexistenz auf der Basis eines Verfassungspatriotismus [16], auf den sich in letzter Zeit wiederholt auch Politiker wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer berufen. Da wir aus der Sicht von Habermas in unseren pluralistischen Gesellschaften heute mit Alltagsevidenzen leben, die sich immer weiter vom Modellfall eines Nationalstaats mit kulturell homogener Bevölkerung entfernen, gibt es zur Vielfalt an kulturellen Lebensformen, ethnischen Gruppen, Konfessionen und Weltbildern für ihn keine Alternative, es sei denn um den normativ unerträglichen Preis ethnischer Säuberungen (S. 142). Allerdings steht für ihn der Anspruch auf gleichberechtigte Koexistenz unter dem Vorbehalt, daß die geschützten Bekenntnisse und Praktiken den [jeweils, ES] geltenden Verfassungsprinzipien nicht widersprechen dürfen (S. 142) und damit nicht um den Preis der Fragmentierung der Gesellschaft erkauft werden sollten (S. 174).
Der Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft, die ausgeht von ökonomischen, demographischen und politischen Notwendigkeiten und zusammengehalten wird vom Begriff des Verfassungspatriotismus, ist zwar zu begrüßen als ein erster Schritt. Dennoch läßt sich bezweifeln, daß es dafür zur Zeit in Deutschland eine Mehrheit gibt. Solange nicht ausgegangen wird von aktuellen empirischen Analysen über den Bewußtseinsstand und die Symbolwelt der Einwanderer und von dem Interesse an der Kultur und Eigenheit der Anderen, sondern von statischen Bildern, mit denen die Mehrheitsgesellschaft den Fremden begegnet, bleibt es fraglich, ob Zahlen und äußere Faktoren ausreichen, um eine Gesellschaft zu schaffen, die die Innenansichten und die Symbole der Beteiligten einander bekannt macht [º] und so neue Identitäten und Identifikationen an die Stelle der zerfallenden setzt (Atlas, S. 40).
Anmerkungen
[1] Leonie Naughton zitiert hier aus Eric Rentschlers Studie The Ministry of Illusion in ihrem Aufsatz Wiedervereinigung als Siegergeschichte", Apropos Film 2000. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung (Berlin: Das Neue Berlin, 2000) 243.
[2] Zafer Senocak, Atlas des tropischen Deutschland (Berlin: Babel, 19932 ) 16/23. Im folgenden mit Seitenangaben im Text zitiert als Atlas.
[3] Darf man Türken und Juden vergleichen, Herr Senocak? Tagesspiegel (13-14 April. 1995): 26. Kurz erwähnt wird dieses Interview im größeren Kontext türkischer Präsenz in der deutschen Kultur auch in Leslie A. Adelsons Aufsatz Touching Tales of Turks, German, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s", New German Critique 80 (2000): 93-124.
[4] Bernhard Schlink, Auf dem Eis", Der Spiegel 19, 2001: 84.
[5] Tagesspiegel 26.
[6] Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte (München: dtv, 1998) 7/8.
[7] Zafer Senocak, Gefährliche Verwandtschaft (München: Babel, 1998) 82. Im folgenden mit Seitenangaben im Text zitiert als Verwandtschaft.
[8] Zur Reformierung des deutschen Staatsbürgerrechts, das am 1. Jan. 2000 in Kraft getreten ist, und zu den Debatten und Gesetzen seit den achtziger Jahren vgl. William A. Barbieri Jr., Ethics of Citizenship: Immigration and Group Rights in Germany (Durham: Duke UP, 1998).
[9] Barbara Honigmann, Damals, dann und danach (München/Wien: Carl Hanser, 1999) 55. Im folgenden werden die Seitenangaben den Zitaten im Text nachgestellt. Zu Honigmanns neuer Identitätskonstruktion in Straßburg in Verbindung mit ihrer Entdeckung des jüdischen Kollektivs und einer Neuschreibung der jüdischen Geschichte vgl. den kürzlich erschienenen Aufsatz von Jeffrey M. Peck, Telling Tales of Exile, (Re)writing Jewish Histories: Barbara Honigmann and Her Novel, Soharas Reise",German Studies Review XXIV, 3 (2001): 557-569.
[10] Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur (Tübingen: Stauffenburg, 2000) IX.
[11] Gisela Ecker, Kein Land in Sicht. Heimat-weiblich? (München: Fink, 1997) 20/24.
[12] Ecker 31/27.
[13] Naughton 148/149.
[14] Bhabha X.
[15] Daniel Cohn-Bendit/Thomas Schmid, Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1993) 11/12.
[16] Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996) 141/143. Im folgenden werden die Seitenangaben den Zitaten im Text nachgestellt.