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"Aufbruch in die Vergangenheit": Zu Heinz Czechowskis autobiographischer und diaristischer Lyrik seit der Wende
Wolfgang Ertl

Zum 65. Geburtstag Heinz Czechowskis erschien unter dem Titel Die Zeit steht still eine große Auswahl seiner Gedichte von 1958 bis 1999.1 "Will man von einem wesentlichen Moment, nämlich dem einer starken religiösen Bindung, absehen, so würde ich den Dichter Heinz Czechowski als einen unmittelbaren Nachfahren der berühmten Barockdichter bezeichnen", schreibt Günter Kunert in seiner Rezension des neuen Sammelbandes. Kunert sieht als "[a]naloge Themen": "Ausgeliefertsein, Einsamkeit, Menschsein als das Fragwürdige schlechthin, und immer wieder der Krieg, der in Czechowskis Werk niemals endet." Kunert geht auch auf das autobiographische Moment im Werk Czechowskis ein: "Liest man Czechowskis Gedichte als 'Lebenslauf', berichten sie von einer zunehmenden Heimatlosigkeit und Vereinsamung. So redet einer als Emigrant im eigenen Land. Er ist nicht gern, wo er herkommt, er ist nicht gern, wo er hingeht, nur fehlt ihm die Ungeduld Brechts, der den 'Radwechsel' beobachtet. Czechowski hat längst die Ziellosigkeit des Schreibens, des Wirkenwollens eingesehen. Er ist ein Getriebener, dem, im Gegensatz zu seinen barocken Kollegen oder den ideologiegläubigen Zeitgenossen, alles Teleologische abhanden gekommen ist."2 Im folgenden soll besonders die literarische Entwicklung des Dichters seit der Wende, d. h. seit dem Zusammenbruch der DDR und der Vereinigung Deutschlands, beleuchtet werden.

Heinz Czechowski, 1935 in Dresden als Sohn eines Beamten geboren, nahm nach Ausbildung und Tätigkeit als graphischer Zeichner das Studium am Institut für Literatur "Johannes R. Becher" auf (1958 bis 1961). Er gehört mit zu der Generation von Lyrikern, die besonders von Georg Maurer beeinflußt wurde, zur "Sächsischen Dichterschule", um Adolf Endlers Bezeichnung aufzugreifen. Czechowski hat mit zahlreichen Lyrik- und Prosabänden und essayistischen Stellungnahmen seine Spuren in der literarischen Szene der DDR hinterlassen, zwar weniger laut, provokativ und kunstvoll-virtuos als seine Generationsgenossen Volker Braun, Karl Mickel und Sarah Kirsch, aber doch unüberhörbar,3 nicht zuletzt durch seine skeptische Einstellung zum vorgeschriebenen Fortschrittsoptimismus. In einem Interview von 1984 zum Beispiel geht Czechowski auf die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz ein: "Die Maxime 'Man halte sich ans fortschreitende Leben'" sei "ebenso platt wie wahr." "Das fortschreitende Leben" sei "aber leider nicht mit dem Fortschritt identisch." Czechowski nennt als Beispiele die "Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts, die Potenzierung der Rüstung, de[n] Hunger - all das ... unaufhebbar mit jeder einzelnen Existenz verbunden."4

Das Jahr 1989 bringt für Czechowski Krankheit und eine schwere nervliche Krise, wie der Dichter sagt: "Seit 1989 ging es mit mir absolut bergab."5 In den ersten Jahren nach 1989 erscheinen gleichzeitig mehrere, zum Teil sehr kunstvoll illustrierte und sorgfältig zusammengestellte Gedicht- und Prosasammlungen, und 1993 legt Czechowski mit dem Buch Nachtspur6 ein umfangreiches und gewichtiges Werk mit Prosa und Lyrik von 1987 bis 1992 vor, "das Geschwätz [der großen Medien] darüber, daß den Autoren aus der DDR Themen und Sprache abhanden gekommen seien, weil sich die existentiellen Voraussetzungen und Herausforderungen für ihr Schreiben erledigt hätten", Lügen strafend, wie Gerhard Wolf in einer Rezension sagt. "Eine ruhige, besonnene Stimme, noch dazu wenn sie jetzt über einen Schweizer Verlag zu uns kommt", so Wolf weiter, "wird da kaum wahrgenommen. Ein Buch ohne spektakulären Plot, fern von exzentrischer Artistik, gar zwischen Vers und Prosa changierend, das ist wohl nichts fürs 'Literarische Quartett' und läuft schon dadurch Gefahr, keine große Öffentlichkeit zu erreichen."7 Es handelt sich um eine in sieben größere thematische Abschnitte untergliederte Sammlung von Texten, die tagebuchähnlichen Charakter aufweisen, da sie, meist datiert, zum Tagesgeschehen Stellung beziehen, dieses allerdings - ohne die strikt chronologische Anordnung persönlicher Eintragungen - vor dem Hintergrund persönlicher Lebenserfahrung und im weiteren historischen und politischen Kontext reflektierend.

Selbstironisch greift Czechowski die Problematik literarischer Produktivität in schwierigen Zeiten in dem folgenden Gedicht auf:

Nimms, wie es kommt, nimm es leicht,
Bedenke: es hätte
Auch anders kommen können. Ja,
Ich schreibe zu schnell: das Gedicht
Ersetzt mir das Tagebuch, Stenogramme
Des täglichen Lebens, gelebt
Zwischen den hohen Tönen der Bücher und
Den Banalitäten des Tages. So
Verweigert die Sprache
Sich nicht. Aber wie lange? Ich hink
den Vergleichen davon. Wohin
Mich der Weg führt,
Ist mir ein Rätsel. Noch
Wohne ich, noch
Gibts ein paar Menschen,
An die ich glaube.
Für andre zu reden,
Hat vielleicht doch
Einen Sinn? Dreihundert Zeilen
Pro Tag schrieb Zola:
Wie lange
Habe ich keine Zeile
Von ihm gelesen? (Nsp145)

Zur eigenen Kennzeichnung seiner poetischen Verfahrensweise beruft sich Czechowski auf den Goethe entlehnten Begriff des "Gelegenheitsgedichtes". Er versteht darunter "das Gedicht als Reaktion auf den erlebten Moment, den Kreuzungspunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem geschichtliche Erfahrung bewußt wird, notierbar."8 Zum ironischen Ton des Gedichtes "Nimms, wie es kommt, nimm es leicht" treten Aussagen, die sich an noch nicht Verlorenes klammern, was das Alltagsleben und den Kreis von Freunden betrifft, die dem Dichter Halt gewähren. Die Verse "Wohin / Mich der Weg führt, / Ist mir ein Rätsel" sind dagegen als Ausdruck von Ratlosigkeit, wenn auch - zumindest zu diesem Zeitpunkt - noch nicht Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft zu verstehen. Sein Weg führt ihn bald nach der Wende in den Westen. Seit 1993 sind die Stationen des Dichters Italien, wo er unter anderem an der Universität Turin Seminare über Klopstock hielt, Limburg an der Lahn und Schöppingen bei Münster, wohin es ihn im Zusammenhang mit Literaturstipendien verschlagen hat. Jetzt lebt er in Frankfurt am Main. In seiner Geburtsstadt Dresden fand er sich einmal als Gast wieder: "Die mehrmals geschleifte Stadt, die ich, als ich 1998 als Stadtschreiber dort gastierte, nicht mehr lieben lernte, weil ich sie nicht wiedererkannte und in ihr nicht mehr das Dresden wiederfand, das ich 1958 verlassen hatte."9

Czechowski begleitet das Zeitgeschehen zwar schon lange mit Skepsis, aber nicht grundsätzlich als sich in individuelle Trauer zurückziehender Elegiker. Das melancholische Naturell des Dichters und seine Neigung zu elegischer Diktion sind unverkennbar, so verwundert es nicht, daß in der kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk die Frage nach der Funktion des Elegischen gestellt wird. Gerd Labroisse setzt sich in seinem gründlichen Aufsatz zur neueren Lyrik Czechowskis ab von der Einschätzung der ostdeutschen Literaturwissenschaftlerin Ursula Heukenkamp und Wolfgang Emmerichs, des westdeutschen Autors des KLG-Artikels über Czechowski (1989), die den Rückzug ins Privat-Alltägliche und den elegischen Tonfall der Gedichte, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erschienen sind, herausstellen bzw. beklagen. Czechowski sei " - wohl endgültig - ein elegischer Nonkonformist geworden, dessen Verse zwar noch nicht die Schwärze seines älteren Freundes und Fürsprechers Günter Kunert erreicht haben, aber sich ihr immer weiter annähern", resümiert Emmerich.10 Demgegenüber betont Labroisse, "die Frage nach der lyrischen Präsentation ins Zentrum" rückend11, die konkret historische und gesellschaftsbezogene Dimension dieser neueren Gedichte Czechowskis und zeigt die kritische Haltung des Dichters am Beispiel von "In den Ruinenstädten des zweiten Weltkriegs" auf: "Bei dem auf elegischen Duktus und Traurigkeit/Trauer festgelegten Czechowski werden Aussagen dieser Brisanz nicht registriert".12 Was die weitere Entwicklung in den 90er Jahren betrifft, haben, so Labroisse, Czechowskis "Texte [...] eher eine sarkastische als eine elegische Note. Hier schreib[e] ein sehr wacher, ein bei allem Einsetzen seiner Lebens- und Schreiberfahrungen doch distanzierter Beobachter, auch wenn bisweilen Erschrecken und Bitterkeit zu spüren ist darüber, daß weiterhin nicht gelernt wird aus Geschichte/Zeitgeschichte".13 Emmerichs Einschätzung von Czechowskis lyrischem Werk ist übrigens keineswegs grundsätzlich abwertend gewesen. In der erweiterten Neuausgabe seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR von 1996 betont Emmerich, daß "Czechowskis furor melancholicus [...] weil eher beiläufig, lapidar und leise, nie aufgesetzt, nie wehleidig" wirke und Czechowski "auch in und nach der Wende [...] die wichtige lyrische Stimme geblieben [sei], die er vorher schon war."14 Überhaupt schließen Trauer und elegischer Tonfall kritische Brisanz der Zeitbetrachtung nicht aus, im Gegenteil, oft bedingen sie sich gegenseitig.

Die ihm zugesprochene Klassifizierung als "Landschafter" aus dem Kreis der "Sächsischen Dichterschule" aufgreifend und prinzipiell akzeptierend, fragt sich der Dichter in seiner Rede zur Verleihung des Preises als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim am 31. August 1990, ob diese Landschaft "vielleicht nur die Folie" gewesen sei, "auf der das geschrieben wurde, was aus der Spannung von erlebtem Leben und der geheimen Utopie von einem anderen 'besseren' Land" entstanden sei.15 Selbst sein "Grunderlebnis" der Zerstörung Dresdens, das seine "Weltanschauung und [s]ein Schreiben geprägt hat", habe "nicht unbeeinträchtigt von ideologischen Prämissen in [s]ein Bewußtsein Eingang gefunden"16:

Deshalb, so meine ich, wird kaum ein Schriftsteller der DDR - also auch ich nicht - sozusagen nahtlos aus seiner Vergangenheit heraustreten können. Die Stigmatisierungen, die das Leben im Sozialismus ihren Autoren hinterlassen hat, die es nicht vorzogen, dieses Land zu verlassen, oder die vertrieben wurden, sind ein literarisches Thema für sich. Ob Trauerarbeit oder Verdrängung - die "Idylle", die sich in der DDR mancherorts konserviert haben soll, ist nur die Kehrseite wirtschaftlicher Zurückgebliebenheit und der Landschaften in und um Bitterfeld, Espenhain, Meuselwitz oder Leuna. Lyrik, wie sie bisher in der DDR geschrieben wurde, und die auch in der BRD Erfolg gehabt hat, wird so nicht mehr möglich sein. Die Vereinigung und die mit ihr nicht ausbleibenden Enttäuschungen werden Erschütterungen auslösen und Spannungen entstehen lassen, die auch in Gedichten ausgetragen werden. Was hinter uns liegt, glauben wir zu wissen. Was vor uns liegt, wird uns unbekannt bleiben, bis wir es hinter uns haben. Zwischen Wissen und Ahnung könnte die Literatur eine Leerstelle ausfüllen.17

In Nachtspur hat Czechowski unter dem Titel "Die überstandene Wende" eine kleine Passage aus dieser Rede als fünfzeiliges Gedicht präsentiert:

Was hinter uns liegt,
Wissen wir. Was vor uns liegt,
Wird uns unbekannt bleiben,
Bis wir es
Hinter uns haben. (Nsp 148)

Das Gedicht "Historische Reminiszenz", mit genauer Angabe der Entstehung am 19. Dezember 1989, d. h. dem Tag von Bundeskanzler Helmut Kohls Besuch in Dresden, thematisiert die Täuschung und Enttäuschung durch die Machthaber des DDR-Regimes, sowie die Skepsis gegenüber den neuen Versprechungen:

Was hat man uns nicht alles eingeredet:
Daß uns Monokulturen bekömmlicher sein sollen
Als Vielfalt und daß die Versteppung der Landschaft
Erst deren wahre Schönheit
Uns offenbare. Heute, so scheint es,
Ist auch so ein Tag, wo man uns einreden will:
Nun wird alles gut!

Das Gedicht endet mit den Zeilen:

Die Dresdner Bank -
Dank sei den eisernen Kanzlern -
Zieht Bilanz in der dreimal zerstörten
Stadt an der Elbe, während das Volk
Sich zu zerstreiten beginnt um seinen Anteil
An einer Ordnung, von der niemand weiß,
Wer nun den Kopf hinhalten wird
Für die Vergangenheit des immerwährenden
Historischen Augenblicks. Demokratischer Aufbruch
Ins Niemandsland zwischen
Gestern und Morgen. (Nsp 151, 152)

Czechowskis Kommentare zur Wende schwanken zwischen solchem melancholischen Lamento und geschichtsfatalistischem Sarkasmus, was ihn jedoch nicht davon abhält, die Vergangenheit als das ihm Bleibende zu betrachten. In "Dunkler Tag", dem ersten Text des Bandes, der anläßlich des Gedenktages an die Zerstörung Dresdens vor 45 Jahren am 13. Februar 1990 entstanden ist, heißt es: "Was bleibt, ist meine Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit" (Nsp 101). In dem Gedicht "Die Fähre" (1988) findet sich die Frage: "Was ist denn geblieben / Außer den Trümmern, die mich umgeben, mir / Dem gebrannten Kind einer Zeit, / Die ich Vergangenheit nenne?" (Nsp 122) In dem Titeltext "Nachtspur" führt der Dichter weiter aus, was er unter "Vergangenheit" versteht und in welchem Sinne sie für ihn Bedeutung behält:

Der Verfall, der mich umgab und den ich beschrieb, gehört bereits zur Vergangenheit. Eigentlich müßte ich doch gerade über diese schmerzlose Ablösung von mir selbst Trauer empfinden. Aber ich fühle mich gleichgültig und kalt. Interessant ist mir die Vergangenheit nur als Landschaft der "Seele". Doch die spannt nicht, wie bei Eichendorff, ihre Flügel aus ... (Nsp 200)

Als Stoff seines Schreibens bezeichnet der Dichter dann im selben Text selbstironisch auch "das endgültig Vergangene" (Nsp 200). Angesichts des bevorstehenden 3. Oktober 1990, des offiziellen Vereinigungstages oder, wie Czechowski sagt, "des Anschlusses der DDR an die BRD" (Nsp 200) greift Czechowski zu einem Vers Stephan Hermlins aus den Jahren der französischen Résistance, um seiner Stimmung Ausdruck zu verleihen: "Die Jahre gehen, die Zeit der Wunder ist vorbei" (Nsp 200). Czechowski trauert nicht nostalgisch verlorenen DDR-Realitäten nach, sondern dem Verlust des bei aller Skepsis, Resignation und Melancholie vorhandenen Utopie-Potentials. Endgültig vergangen ist der Alptraum der Verfallserscheinungen des realen Sozialismus, aber auch die Hoffnung, wie schwach auch immer sie in den achtziger Jahren wurde, die er auf das Gegen-die-Verhältnisse-Anschreiben setzte, das Gedichte-Schreiben "[g]egen die Vergeblichkeit", wie es in dem Gedicht "Sic transit gloria mundi" heißt.18

Am Anfang des Bandes Einmischungen (2000), in dem Essays und verschiedene andere Prosatexte von 1966 bis 1999 gesammelt sind, steht der autobiographische Text "Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich", in dem Czechowski eindringlich die Frage nach seiner Identität stellt: "War ich, so frage ich mich, überhaupt jemals mit mir identisch? Oder habe ich die Identität eines DDR-Bürgers inzwischen mit der eines Bürgers der Bundesrepublik Deutschland vertauscht?"19 So etwas wie Identität kann sich für den Dichter nur in der Sprache, im Schreiben herstellen: „Also erfinde ich meine Identität! - Ich sollte mich, sagte ich mir, einem Stoff zuwenden, den ich zu beherrschen glaube, gleichgültig, ob dieser Glaube nun ein Irrglaube ist oder nicht. Ich weiß ja, daß einem, der das Leben schreibend zu bestehen hat, nichts anderes übrig bleibt, als auf das hin zu leben, was als Text vielleicht die physische Existenz überstehen wird".20 Diese Identitäts(er)findung vollzieht sich in besonderem Maße im lyrischen Genre. "Meine innere Biographie habe ich in meinen Gedichten niedergelegt", erklärt Czechowski, und besteht, obwohl wiederholt auf die Nähe seiner Gedanken- und Gelegenheitslyrik zur Prosa hingewiesen wurde, darauf, daß "die Preisgabe des Ichs im Gedicht [...] eine andere als die [sei], welche die Prosa oder der Essay hervorruft" (25, 26).21 Es fällt allerdings auf, daß der Prosatext "Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich" selbst zum Beispiel nicht nur eigene Gedichte zitiert, sondern gelegentlich geradezu die Grenzen der Genres überspielt, indem die Prosa in freirhythmische Lyrik übergeht. Die Nähe der beiden Ausdrucksformen Gedicht und Klartext sprechender Essay zeigt sich, wie das obige kleine Beispiel zeigt, gelegentlich auch darin, daß in beiden Formen nicht nur dieselben Lebenserfahrungen, Reisebeobachtungen und Gedanken thematisiert werden, sondern auch sprachliche Entsprechungen bestehen. In diesem Nebeneinander der Darstellungen kommt dem Gedicht mit seinen Möglichkeiten der Verdichtung und vielschichtigen Fiktionalisierung sicherlich die größere Bedeutung zu.

1997 erschien der Lyrikband Wüste Mark Kolmen, dessen neue Gedichte Reiseindrücke aus Italien, Westfalen und Sachsen verarbeiten.22 Zu den literarischen Begleitern des lyrischen Ich gehören Dante, Jan Skácel, Anna Achmatova, Ossip Mandelstam und Hölderlin, sowie die verstorbenen DDR-Schriftsteller Erich Arendt, Franz Fühmann und Uwe Greßmann. Wie Czechowskis jüngere ostdeutsche Dichterkollegin Kerstin Hensel beobachtet, ist der Band "von einer Art ewiger Heimkehr nach Sachsen" getragen, aber vielleicht auch gleichzeitig einer "Wegkehr" von den Gegenden der Heimat. Hensel nennt Czechowski treffend einen "Spaziergänger", und zwar in "der Wirklichkeit wie in der Dichtung".23 "Spaziergang" ist auch der Titel eines Gedichtes in der Sammlung, das einfach die melancholischen Gedanken des vereinsamten Dichters wiedergibt, wobei in der Ansammlung von Klagen eine leise selbstironische Note mitschwingt:

Wenn ich das alles
Zu Ende denke, dachte ich noch,
Während ich, verschollen
Wie andre Verschollne,
Durch den grauen
Winterwald ging, Italien
Im Rücken, vor mir
Der Abgrund: Bin ich
Der Welt abhanden
Gekommen oder
Sie mir? (WMK 91)

Der lockere Stil und die assoziative Verkettung von Beobachtung und Reflexion stießen in der westdeutschen Kritik auch auf Unverständnis. Konrad Franke zum Beispiel spricht vom "unglücklichen Glücksucher Heinz Czechowski", der mit diesem Band "eine kaum bearbeitete Materialsammlung" vorgelegt habe.24 Der Eindruck des schnell Skizzierten, Vorläufigen oder auch Bruchstückhaften entsteht sicher bei manchen der Gedichte. Diese Neigung zum Fragmentarischen findet sich auch häufig im modernen Tagebuch, das dem unbehausten Dichter als eine Art "Logbuch im Labyrinth" dient.25

Der Titel des Bandes stammt aus dem mehrstrophigen Gedicht "Entwurf einer Biografie" und bezieht sich auf eine 1813 durch Truppen Napoleons zerstörte wüste Mark in der Nähe von Leipzig. Das Gedicht endet mit einer paradoxen Geschichtsbetrachtung, indem die Rückbesinnung auf die Geschichte der heimatlichen Landschaft als Aufbruch des Dichters verstanden wird:

Die Geschichte hat uns überholt,
Grinsende Radfahrer
Auf der Straße nach Baalsdorf. Letzter Gruß
Aus der Flasche. Einziger Ort
Zum Aufbruch in die Vergangenheit:
Wüste Mark Kolmen. (WMK 35)

Eines der schönsten Gedichte der Sammlung nimmt seinen Ausgang von der Wahrnehmung des bitteren Geschmacks einer Orange, die in einer dadurch ausgelösten Reminiszenz an die Zeit der Kindheit das Bild des Geschmacksinns weiterführt und mit anderen erinnerten Sinneswahrnehmungen verknüpft. Das Kind hört schreckliche Geschichten vom Krieg und sieht den Hitlergruß des Blockwarts. Es entsteht ein eindringliches Stück erlebte Geschichte, das die Greuel der Ermordung galizischer Juden, die Zwangsarbeit russischer Frauen und die Schrecken der Bombennacht in Dresden vor Augen führt:

Die Bitterkeit auf meiner Zunge
Rührt nicht von der Orange, die ich soeben verzehrte.
Es ist eine Bitterkeit, die nicht vergeht. Für sie
Habe ich keinen Begriff. Ich glaube,
Ich hab sie als Kind während des Krieges
Mit einer Handvoll Schnee,
Die meinen Durst stillen sollte,
Zu mir genommen. Es gab
Keine Märchen, aber es war damals immer
Ein großes Geflüster um mich: die Erwachsenen
Erzählten sich hinter vorgehaltenen Händen
Vom Kriege, vom damals gewesenen Kriege,
Von Grünen Minnas und von Soldaten,
Die beinlos aus Stalingrad wiederkehrten.
Ich sah auch den Hitlergruß
Des Blockwarts und hörte,
Während ich mir das Haar schneiden ließ,
Von dem an die Wand spritzenden Blut
Galizischer Juden. Der schier endlose Zug
Der Russinnen abends den Wilden-Mann-Berg empor,
Wenn sie vom Goehle-Werk
Sich in ihr Lager zurückschleppten,
Und schließlich die Panjewagen,
Beladen mit den Toten des Bombenangriffs

Mit der Reflexion des rückblickenden Dichters kehrt das Gedicht am Schluß zu der Schnee-Metapher zurück, die die Permanenz dieser Kindheitserlebnisse in der Biographie des Dichters ebenso erfaßt wie den unstillbaren Drang, sich im Schreiben der eigenen Biographie und Geschichte zu vergewissern:

Das alles muß in dieser Handvoll
Schnee gewesen sein, die ich mir
In den Mund steckte, um meinen Durst
Zu stillen, diesen kindlichen Durst,
Der mich nie verließ, und von dem
Diese Bitterkeit auf der Zunge zurückblieb. (WMK 74)

1998 veröffentlichte Czechowski seinen Band Mein westfälischer Frieden.26 In den Rezensionen wird wiederholt der diaristische Charakter der prosanahen Gedichte hervorgehoben. Jürgen Wallmann spricht von "offen autobiographischen" Gedichten, die "eine Art lyrisches Tagebuch" ergeben27, Harald Hartung von "tagebuchhafte[n] Notate[n]"28 und Jürgen Verdofsky findet in dem Buch "[f]ast ein tagebuchähnliches Selbstvergewissern".29 Ins tagebuchähnliche Selbstgespräch sind dabei immer wieder auch poetologische Betrachtungen und literarische Anspielungen in Form von Selbstzitaten und Zwiesprache mit vergangenen und zeitgenössischen Dichtern verwoben. Ein Beispiel sei vollständig angeführt:

Gewaschen. Rasiert. Die Angst vor dem Tag
Heruntergeschluckt mit dem Trost
Des schwarzen Kaffees. Was
Ist noch zu tun? Vor allem: die Fassung bewahren,
Immer wieder versuchen,
Das Leben zu überlisten. Ach,
Diese winzigen Beiträge
Zu einer Phänomenologie
Des Bewußtseins: alle Versuche
Sind schon gescheitert,
Bevor sie begannen. Wie lange
Bin ich nicht durch den Regen gegangen? Hier
Gibt es die Bäume nicht mehr,
Die zu mir sprachen
Vor meinem Fenster aufs Hofgeviert. Auch
Wenn die Wunder ausbleiben,
Hat die Übelkeit in der Magengrube
In mir Stimme und Sitz, vergeblich
Versuche ich, mir ein Gebäude
Aus Lügen zu baun, der Selbsttrost
Ist noch immer gebührenfrei, alles andere
Kostet mich
Zopf und Kragen. (MWF 15)

Im Eingangsgedicht "Da sitze ich nun mit meinen alten Scharteken" der kleinen Sammlung Seumes Brille. Gedichte aus der Schöppinger Chronik (1999 / 2000)30, nicht zu verwechseln mit der Ausgabe gleichen Titels im Grupello Verlag (2002)31, mit der es kaum Überlappungen gibt, , klagt sich das Ich an, es unterlassen zu haben, in der DDR "alte Nazis, / Als Kommunisten verkleidet" öffentlich bloßzustellen und überhaupt "[zu] sprechen, wie mir zumute gewesen" (SBSch 5). Das Gedicht endet mit der resignativen Erkenntnis, daß damit schon früh seine Selbstfindung zum Scheitern verurteilt war: "Also war ich / Verloren schon, als ich an mich noch glaubte oder glaubte, / Noch an mich zu glauben... Es ist immer dasselbe, / Was mich behinderte, zu mir zu kommen" (SBSch 5). Sicher greift Czechowski hier ironisch das vielzitierte Wort vom Zusichselberkommen von Johannes R. Becher auf, das Christa Wolf ihrem 1968 erschienenen Roman Nachdenken über Christa T. als Motto voranstellte.

In "Abgebrochene Gespräche" werden Momente aus dem Alltag des Lebens in Schöppingen festgehalten, vom durch zu schweres Essen verursachten Magendrücken zum Schreien der Schweine, die ins Schlachthaus gefahren werden. Das Ich denkt auch hier über seine "intellektuelle Biografie" nach:

Wird von solchen Koordinaten gezeichnet
Der Rest meines Lebens vergehn?
Flüchtig, aber nicht ohne Schrecken,
Denk ich an das,
Was ich meine intellektuelle Biografie
Nennen könnte: die Namen der Paten,
Die mir Gevatter standen,
Will ich hier nicht nennen. Aber sie alle
Waren die Partner
Abgebrochener Gespräche. Der Tod
Hat Schneisen geschlagen, durch die ich
Nicht einmal voller Entsetzen gehe. Andere
Haben mir den Stuhl
Vor die Türe gesetzt.

In der Form des prosanahen Gedichtes werden Momentaufnahmen aus dem Alltag des Lebens in Schöppingen nicht nur mit solchen autobiographischen Erinnerungen und Reflexionen verknüpft, sondern auch mit poetologischen Betrachtungen über das Gedicht als Gefäß für Biographie: "Eigentlich / Ließe sich alles, was andere / In langen Biografien verankerten, / In einem Gedicht sagen" (SBSch 6). Wie es in dem resignativen Gedicht "Der Dichter" heißt, ist sowieso seine „ganze Biografie / Aufs Maß des Unerheblichen" zusammengeschrumpft (SBSch 13). Auf Christa Wolfs Frage "Was bleibt?" wisse er auch keine Antwort. Das Gedicht schließt selbstironisch: "Und ziehe es vor, / Meinen bisherigen Ungereimtheiten / Eine weitre / Hinzuzugesellen..." (SBSch 13). In "Ich saß auf meinem kleinen Balkon und sah" gedenkt das Ich „der Freunde, / Die nichts bessres zu tun hatten, / Als zu schweigen, während ich sprach, und dies / Mitzuteiln einer Akte" (SBSch 18). Czechowski grenzt sich ganz bewußt von der autobiographischen Selbstrechtfertigungsliteratur mancher seiner Dichterkollegen ab, die seit der Wende erschienen ist.

Das Grundgefühl der Einsamkeit, des Nichtheimischwerdens in der westfälischen Provinz und der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit durchzieht die Gedichte dieser kleinen "Chronik". Czechowski zitiert frei aus Hugo von Hofmannsthals "Chandos-Brief", um seinem Lebensekel metaphorischen Ausdruck zu verleihen. Wie schon im Falle von Hofmannsthals Sprachkrise signalisiert sich hier aber paradoxerweise nicht das Ende des Schreibens. Thema des kleinen Gedichtes ist die schmerzliche Trennung von Leben und Schreiben, das Scheitern der Sinnsuche im Leben, im Alltag. Für den Überdruß an den Wörtern borgt sich der Dichter im Jahr 2000 die Bildersprache des literarischen Vorbilds aus der vorigen Jahrhundertwende. Wie in Hofmannsthals Text kleidet sich die Sprachkrise somit in historisches Gewand. Der Dichter setzt sich eine Maske auf und schreibt weiter:

Leben, das wäre: ein anderes Ich zu besetzen,
Eines, das weiß, wohin der Weg geht.
Das wäre: dem zu entsagen, was nichts mehr bringt,
Dem Ekel des Alltags entkommen, den modrigen Pilzen,
Den Wörtern, dem Leichengeschmack auf der Zunge. (SBSch 25)

In dem Aufsatz "Im schalltoten Raum. Dichter im Zeitenwechsel" (1998) schreibt Czechowski:

Heute versuche ich, mir meinen Westfälischen Frieden zu erschreiben: ein kleiner Ort im Münsterland, stigmatisiert durch die "Idiotie des Landlebens", muß mir vorläufig ersetzen, was ich durch bestimmte Fügungen meiner Biographie verloren habe. Daß sich das an der Schwelle des Alters vollzieht, eine neue "Landnahme" daher nur noch bedingt möglich erscheint, gibt meinen Versuchen mitunter den Anstrich der Vergeblichkeit. Das, was mir durch den Kopf schießt, ist an dieser Stelle noch kein Thema: Einsamkeit, Alter, Krankheit, Tod, Selbstmitleid sind nur Wörter, zwischen und hinter denen sich eine Existenz verbirgt, die von Aussichtslosigkeit gekennzeichnet ist. Aber es ist, anders gesagt, nicht die Aussichtslosigkeit meines lyrischen Ichs, sondern die, hinter der noch immer Schopenhauers Verneinung des Lebens steht.

Und so Czechowski weiter:

Dem Leben an sich ist kein Sinn mehr in Hinsicht auf eine wie auch immer geartete Utopie abzugewinnen. Ob Vormoderne, Moderne, Postmoderne oder Post-Postmoderne - Gedichte entstehen noch immer aus dem Zusammenstoß des Ichs mit den Tatsachen.32

In dem Gedicht "Auf einer Brücke über die Parthe" folgt das Ich willig dem großen Vorgänger Gottsched nach Leipzig, einer Stadt, die immer noch "[w]ie ein Felsen: unbezwingbar und / Gegenwärtig" (SBSch 9) in das Leben des Dichters ragt, den es nach der Wende nach Hessen und Westfalen verschlagen hat. In den 2002 bei Grupello erschienenen jüngsten Lyrikband hat Czechowski dieses Gedicht als einziges außer dem Titelgedicht „Seumes Brille" mit aufgenommen. Hier folgt ein weiteres, das sich mit Gottsched beschäftigt und einigen Aufschluß über die Bedeutung gibt, die der Rationalist aus dem 18. Jahrhundert für Czechowski hat. Das Gedicht beginnt mit einem Hinweis auf eine Anekdote aus Goethes Dichtung und Wahrheit, die Czechowski auch in seinem Aufsatz "Das Jahr Zweitausend, Gottsched und ich" wiedergibt:

Man weiß ja, und wenn man es noch nicht weiß,
Kann man es lesen: Gottsched
Trug eine Perücke, der Aufklärer in mir
Steht Lessing näher, aber ich akzeptiere
Die Größe des Mannes, der Leipzig beherrschte,
Als wär ich
Sein Zeitgenosse und unterdrückte
In mir die Empörung
Über den Rationalismus,
Der den mir lieben
Hanswurst von der Bühne vertrieb.

Die historische Figur und die ästhetische Auseinandersetzung aus der Literaturgeschichte dienen als Folie für den autobiographischen Rückblick des Dichters, der in den folgenden Strophen seine Abnabelung von der ideologischen Vorgabe, wie sie in den frühen Jahren der DDR vor allem der übermächtige Kulturminister Johannes R. Becher verkörperte, und den eigenen widersprüchlichen kreativen Weg umreißt. Mit dem Namen Becher verknüpft ist natürlich auch die Dichterschule des Leipziger Instituts für Literatur, an dem Czechowski 1958 bis 1961 studierte. Das geschätzte Vorbild wurde hier allerdings Georg Maurer, der einer ganzen Dichtergeneration auf den Weg geholfen hat. Die Metapher der brennenden Stadt evoziert bei Czechowski auch immer das Kindheitserlebnis der Bombardierung Dresdens, das ihn entscheidend geprägt hat und nie losläßt:

Denn auch ich bin das Opfer

Einer Kadettenanstalt and stand still
Vor dem großen Johannes R. Becher.
Ach, auch ich
Bin aus der Bahn geworfen,
Die ich beschritt, als ich ging
Durch das Bühnenportal zur Feier des Tages.

Als ich erschrak und zurückblickte,
Sah ich den winkenden Mann,
Der mich, vergeblich, zurückrufen wollte.
Ich ging meine Bahn wie kein andrer.

Denn es ist kein Geheimnis,
Daß ein jeglicher nur einen Weg
Zu beschreiten hat: seinen. Jeder Tod
Sucht seinen Leib: Welch ein Gewimmel
Im Schauhaus!

Einer
Bläst die Trompete, ein andrer
Schlägt auf die Pauke. Herrlich
Wölbt sich der Hügel, die Pracht
Eines vergangnen Jahrhunderts
Leuchtet noch einmal: die
Brennende Stadt. (SB 25)

In seinem Aufsatz "Dreimal verfluchte DDR" von 1990 spricht Czechowski davon, daß er, wie die "meisten Intellektuellen der DDR [...] Opfer einer lähmenden Halbbildung" sei: "Ungenügend mit Welterfahrung ausgestattet, behütet von der Dunstglocke des real existierenden Sozialismus, stehen wir jetzt vor dem Scherbenhaufen unserer literarischen Existenz".33 Von ehemaligen Weggenossen wie zum Beispiel Volker Braun, der sich nicht weniger als Czechowski, wenn auch seinem Naturell gemäß auf ganz andere Art, mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit plagt, hat Czechowski sich völlig entfremdet. Angesichts der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 an Volker Braun läßt er sich gar zu gehässigen Attacken hinreißen. In grober Vereinfachung des komplexen literarischen und essayistischen Werkes Brauns wirft er dem prominenten Dichterkollegen vor, zu DDR-Zeiten "am Strick der Treue" gehangen zu haben und jetzt seine Rolle als sich bis zum Ende prinzipiell für den DDR-Staat abmühender Intellektueller zu verfälschen und den Zusammenbruch der DDR unaufrichtig zu kommentieren.34 In einem fünfzeiligen Gedicht adressiert er seinen jüngeren Dresdener Landsmann Thomas Rosenlöcher: "Du gehst mir auf die Nerven, Ostbarbar, / Mit deinen Foto-Posen, deinem Grinsen. / Mitten im Ostgezeter gingen wir / Einst ein gemeinsames Stück / Über den Bruchacker nahe bei Dresden" (SBSch 11). Daß sich auch hinter manchen humoristischen Texten Rosenlöchers schmerzliche Selbstbefragung verbirgt, scheint Czechowski in seiner völligen Desillusionierung und offensichtlich auch persönlichen Verletztheit zu entgehen. Verständlich allerdings, daß den zwar immer mehr zu ironischer und sarkastischer Geschichts- und Selbstbetrachtung neigenden, aber doch tiefernsten - um nicht zu sagen: humorlosen - Dichter Rosenlöchers clowneske Selbstinszenierung eher abstößt.

In der fast zwölfseitigen "Sauerländischen Elegie" (1999), einer Art Brechtscher Ballade vom armen H.C., allerdings durchgehend in Distichen gehalten, erzählt Czechowski von seinen bisherigen Reisen und Lebensstationen im westlichen Exil. "Ferner als Luxembourg-Stadt oder Brüssel sind jetzt", so klagt der Dichter, "Dresden, Halle und Leipzig. Der einst mein Freund war, verriet mich: / Selbst die Gespräche beim Wein bis in den Morgen hinein - / Mit den besten Empfehlungen anvertraut einer Akte" (Z 222). In der Gedichtgruppe unter dem Titel "Inferno", im Stil der Mittelachsengedichte von Arno Holz verfaßt, bezeichnet der Dichter das Exil, in dem er sich sieht, als eine weitere Überlebensmöglichkeit:

Auch das Exil
Ist nichts,
als eine der Möglichkeiten
zu überleben. (Z 193)

Verzweifelt klammert sich das Ich dabei immer wieder an das Schreiben als einzig sinnvolle Tätigkeit in seinem Leben, wenn es auch jegliche Hoffnung auf eine Antwort verloren hat und Schreiben als eine Art Selbstgespräch auffaßt. Im Schreiben erfaßt und vergewissert sich das Ich der Landschaften und Orte, in denen es sich - oft mehr oder weniger zufällig - aufhält, sieht sie in ihrer Geschichtlichkeit und verfolgt gern die Spuren der mit ihnen verbundenen längst verstorbenen Dichterkollegen, sich entweder direkt auf sie beziehend, wie zum Beipiel im Falle Dantes, Hölderlins oder der Droste-Hülshoff, oder ihr Werk durch gelegentliche markierte oder versteckte Zitate evozierend. Die Gedichte ähneln dabei oft Tagebuchaufzeichnungen, in denen die Beobachtungen des Spaziergängers oder Reisenden mit Reminiszenzen und Reflexionen angereichert sind:

Man muß schreiben und schreiben, gleichgültig,
Ob aus der Leere heraus oder dem Eindruck
Falscher Empörung, Versuch, dich zu konzentrieren:
Wie sich dein Leben verlaufen hat, so
Findest du dich zwischen Trümmern.
Du bekommst keine Antworten mehr,
Schreib oder schreib nicht
Mit dem Blick auf die Mitwelt. Der Text
Ist nicht mehr und nicht weniger,
Als ein Gespräch mit dir selbst, alles andere
Gleicht der Verleumdung, die du dir
Zuschreiben kannst. Weniger
Wäre mehr gewesen. Ja, du erinnerst dich
An die Ausfahrten aus großen Städten, vorbei
An Autofriedhöfen, Industriebrachen: schon damals
Fühltest du dich in der Opferrolle, die gewendete Zeit
War dir unheimlich, aber der Sprechblasenpolitik
War nur zu begegnen durch Arbeit.
Welches Gesetz hinter dem Zufall steht, fragtest du dich
Angesichts deiner Biographie, um
Dem Nichts zu entkommen, das sich
Auftrat wie die Trümmerlandschaft, die sich
Erhalten hatte über die Jahre.
[...]
Nein, du kommst nicht los
Von deiner Vergangenheit: Immer wieder
Reihen sich Bilder an Bilder, wo du auch bist. Vielleicht
Gab es Oasen des Glücks, kleine Inseln,
Von denen du sprachst, als du noch
An die Zukunft glaubtest, die man versprach.
[...]
Du schreibst und du schreibst,
Um den Preis des flüchtig Vergehenden. Unwiderruflich
Und umstandslos fändest du immer noch Wörter,
Geeignet, dein selbstloses Sein zu beschreiben:
Am Bettelstab der Gewohnheit bist du gegangen:
Stiftungen, Stipendien und Preise. Wo aber war er, dein Platz
In deinen Jahren? Heute, Gestern und Morgen
Sind Synonyme, an denen vergeblich du festmachtest,
Was dich beunruhigte, jetzt, wo du dir über die Schulter siehst,
Erkennst du den überschrittenen Abgrund. Denn die Sache selbst
Findet im Gegensatz zu deinem Leben
Kein Ende. Der du deinen Lehrern entkamst
Und der Festlegung auf eine Schule, jetzt
Hast du erreicht, was du wolltest: Du bist in der Kälte
Des Universums, die dich umgibt. Was außer dir ist,
Betrifft dich nicht mehr, dein Zustand
Entspricht deinem Zustand. In diesem
Gleichgewicht kannst bleiben, solang du noch lebst ... (Z 203, 205, 206)

Das lyrische Ich hat den Dialog mit seiner Umwelt aufgegeben und adressiert nur noch sich selbst. Die autobiographische Selbstvergewisserung in der Form des prosanahen Gedichtes, das Czechowski selbst als Tagebuchersatz versteht, hat für den Dichter sicher auch eine Art therapeutische Funktion. Wie Peter Boerner am Beispiel Franz Kafkas aufzeigt, löste sich der Dichter "im Tagebuch von der Not seiner Alpträume, bekannte hier immer wieder die 'schreckliche Unsicherheit' seiner 'innern Existenz'": "Wie der Schiffbrüchige an die Planke klammerte er sich an seine täglichen Aufzeichnungen und suchte in ihnen den Zusammenhang des Daseins, der ihm im realen Erlebnis ständig zu entgleiten drohte: 'Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es' (16. Dez. 1910)."35 Der Lyriker Czechowski findet ähnlich seinen Halt im Schreiben, paradoxerweise im immer wieder neu ansetzenden "Aufbruch in die Vergangenheit".

Anmerkungen

1 Heinz Czechowski, Die Zeit steht still. Ausgewählte Gedichte (Düsseldorf: Grupello, 2000). Im folgenden zitiert als Z und Seitenzahl.
2 Günter Kunert, "Wo wir nicht sind, ist Leere. Neue Gedichte von Heinz Czechowski", Die Welt 8. April 2000: 6.
3 Wolfgang Emmerich, "Heinz Czechowski", Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold (München: edition text und kritik, 1978ff.).
4 "Heinz Czechowski", DDR-Schriftsteller sprechen in der Zeit. Eine Dokumentation, hrsg. v. Gerd Labroisse und Ian Wallace, German Monitor No. 27 (Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1991): 177.
5 Vgl. Jürgen Serke, "Heinz Czechowski: Gefangen in den Ruinen des Anfangs", Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR (München: Piper, 1998).
6 Heinz Czechowski, Nachtspur: Gedichte und Prosa 1987 - 1992 (Zürich: Ammann, 1993). Im folgenden zitiert als Nsp mit Seitenzahl.
7 Gerhard Wolf, "Der eigenen Spur treu", Neue Zeit 3. Juni 1993: 2.
8 DDR-Schriftsteller sprechen in der Zeit 179.
9 Heinz Czechowski, "Wasser & Feuer", Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. August 2002: 35.
10 Emmerich, "Heinz Czechowski".
11 Gerd Labroisse, "Verwortete Zeit-Verflechtungen. Zu Heinz Czechowskis neuen Texten", Im Blick behalten: Lyrik der DDR. Neue Beiträge des Forschungsprojekts DDR-Literatur an der Vrije Universiteit Amsterdam, hrsg. v. Gerd Labroisse und Anthonya Visser, German Monitor No. 32 (Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1994) 48.
12 Labroisse, "Verwortete Zeit-Verflechtungen. Zu Heinz Czechowskis neuen Texten".
13 Labroisse, "Verwortete Zeit-Verflechtungen" 83.
14 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe (Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1996) 513.
15 Heinz Czechowski, "Wer von der Geschichte nichts mehr erwartet, erwartet nichts mehr von sich", Freibeuter 46 (1990): 5.
16 Czechowski, "Wer von der Geschichte nichts mehr erwartet, erwartet nichts mehr von sich" 5.
17 Czechowski, "Wer von der Geschichte nichts mehr erwartet, erwartet nichts mehr von sich" 5, 6.
18 Heinz Czechowski, An Freund und Feind. Gedichte (München, Wien: Hanser, 1983) 111. Vgl. meinen Aufsatz "Sonnenhang und Nachtspur: Reiner Kunzes und Heinz Czechowskis poetische Positionen im Zeitgeschehen um die Wende", Germanic Review 70.4 (1995), dessen Abschnitt über Nachtspur hier in gekürzter und überarbeiteter Form übernommen wurde.
19 Heinz Czechowski, Einmischungen. Schriften 1 (Düsseldorf: Grupello, 2000) 8.
20 Einmischungen 10.
21 Einmischungen 25, 26.
22 Heinz Czechowski, Wüste Mark Kolmen. Gedichte (Zürich: Ammann Verlag & Co., 1997). Im folgenden zitiert als WMK und Seitenzahl.
23 Kerstin Hensel, "Wegkehr nach Sachsen. Heinz Czechowski sucht nach dem Innen im Außen", Neues Deutschland 20. März 1997: 1.
24 Konrad Franke, "Wüste rings umher. Gedichte vom unglücklichen Glücksucher Heinz Czechowski", Süddeutsche Zeitung 23. August 1997: IV.
25 Siehe Peter Boerner, Tagebuch, Sammlung Metzler 85 (Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1969) 65.
26 Heinz Czechowski, Mein Westfälischer Frieden. Ein Zyklus 1996-1998 (Köln: Bücher der Nyland-Stiftung, 1998). Im folgenden zitiert als MWF und Seitenzahl.
27 Jürgen P. Wallmann, "Czechowskis westfälischer Frieden", Deutschland Archiv 32.2 (1999): 320, 321.
28 Harald Hartung, "Schrittmachers Ich. Heinz Czechowski schließt seinen Westfälischen Frieden", Frankfurter Allgemeine Zeitung 13. Februar 1999: 42.
29 Jürgen Verdofsky, "Der Dichter opfert sein bürgerliches Leben. Heinz Czechowskis Zyklus 'Mein Westfälischer Frieden'", Berliner Zeitung 15. Mai 1999.
30 Heinz Czechowski, Seumes Brille. Gedichte aus der Schöppinger Chronik (1999 / 2000), Zeitzeichen. Literatur im Grauen Hof. Eine Lesereihe des Aschersleber Kunst- und Kulturvereins (Aschersleben: Verlag UN ART IG, 2000). Im folgenden zitiert als SBSch und Seitenzahl.
31 Heinz Czechowski, Seumes Brille. Gedichte (Düsseldorf: Grupello Verlag, 2002). Im folgenden zitiert als SB und Seitenzahl.
32 Einmischungen 90.
33 Einmischungen 78.
34 Einmischungen 206.
35 Boerner, Tagebuch 63.