a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945 ISSN 1093-6025
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l o s s e n: Artikel
"Alle Fantasie ernährt sich von der Realität" -- Wladimir Kaminer und die interkulturelle deutsche Ethno-Szene" Einige Kurznotizen zur Biographie von Wladimir Kaminer
seien vorangestellt. Der Autor wurde 1967 in Moskau geboren, absolvierte
dort eine Ausbildung zum Toningenieur und studierte Theaterwissenschaften.
1990 wird er Wahl-Berliner, lernt innerhalb kurzer Zeit Deutsch,
und kommentiert dazu: "Das kam vom Kopf [... und nicht vom
Herzen]. Ich wollte, dass meine Geschichten gelesen werden."
[1] In der Tat wird er mit den Geschichten, die er in deutscher
Sprache schreibt, in kürzester Zeit sehr populär. Seit
dem Debüt-Hit Russendisko aus dem Jahre 2000 gibt es
bis 2003 fünf weitere Bücher des jungen Shooting Stars
aus Russland: Schönhauser Allee (2001), Militärmusik
(2001), Die Reise nach Trulala (2002), Helden des Alltags
(2002), Mein deutsches Dschungelbuch (2003), und dazu kommt
die von ihm editierte Anthologie Frische Goldjungs (2001).
[2] In den Rezensionen wird er vorrangig mit grossem Lob überschüttet
und ist inzwischen zum Bestseller-Autor aufgestiegen. [3] Zusätzlich
schreibt er für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen (seinen
Erfolg bezeichnend für unterschiedliche Blätter wie FAZ, taz, Zeit, u. v. a.). Er präsentiert im "ZDF-Morgenmagazin"
ausgewählte Orte von besonderem Interesse in Berlin, moderiert
regelmässig die SFB-Radiosendung "Multi-Kulti" und
agiert häufig im (n)ostalgischen "Kaffee Burger"
in der Berliner Torstrasse als DJ für die von ihm initiierte
und inzwischen legendär gewordene "Russendisko".
[4] Zur persönlichen Schreibmotivation erklärt
der Autor schlicht: "Ich bin aus Zufall Schriftsteller geworden."
Er erklärt diesen Zufall durch Freude an der Sache an sich:
"Ich schreibe aus Spass. Es ist meine Art, mit dem Leben klarzukommen."
Auf die Frage, welche Bedeutung Literatur für ihn habe, meint
er: "Indem man über das Leben schreibt, begreift man es
besser und kann verborgene Bereiche öffnen." Mit dem Label
"Alltagsbewältigungsprosa" kennzeichnet er seine
Texte. [5] Auf die Frage nach der Funktion seiner Literatur antwortet
Kaminer: "Für mich ist immer das Leben entscheidend"
- aber beim Vergleich seiner Texte und denen der Literaturszene-Kollegen
an der Berliner Schönhauser Allee mit den Texten gewisser Popliteraten,
geht er entschieden auf Distanz: "Bei [mir und] meinen Kollegen
handelt es sich in erster Linie um proletarisch erzogene Autoren,
um solche, die nicht durch eine Wohlstandskindheit verdorben sind
- ganz im Gegenteil zu einigen der heutigen Popliteraten. Während
wir eine eher linke Position vertreten, verbindet diese eine konservative
Gesinnung. Sie stehen für einen jungen Konservatismus, obwohl
sie sich ja jeder politischen Aussage entziehen ... ." [6]
Mit der eindeutigen Abgrenzung von materieller Saturiertheit und
linker Position gibt der Autor sich also einen sozial gefärbten
Anspruch, eine Bewusstseinsperspektive für sozial Benachteiligte.
Dazu einige Beobachtungen zu Russendisko. Der Ort ist die Metropole Berlin zu Beginn der 90er
Jahre. Thematisch setzt der Autor auf Episoden des Aufbrechens und
Ankommens. Seine männlichen und weiblichen Protagonisten verlassen
ihre (zumeist) östliche Heimat, um in Richtung Westen zu starten
und sich dort niederzulassen. Der Autor begleitet sie auf ihren
kürzeren und längeren Reisen innerhalb des neuen kulturellen
Umfeldes, er zeichnet ihre Schwierigkeiten des Überlebens und
des sich Etablierens und porträtiert häufig Charaktere
in aussergewöhnlichen Umständen, kurz, der Autor lässt
dem Lesepublikum Menschen nahe rücken, die mehr oder weniger
verzweifelt versuchen, das Überleben im Alltag zu üben.
Man trifft auf Erfolgreiche, Strauchelnde, Spieler und andere Wagemutige.
Der Autor erzählt die Geschichten konsequent aus der Ich-Perspektive
des Immigranten mit dem Blick von aussen, ironisch und humorvoll.
Da die stets kurzen Texte auf humorvolle Auflösung angelegt
sind, kann sich der linke, d. h. gesellschaftskritische Unterton,
den der Autor für sich und seine schreibende Kollegen (in Distanzierung
zu Texten von Pop-Literaten) einfordert, jedoch nicht halten. In
der Geschichte "Die Mücken sind anderswo" beispielsweise
vergleicht er das Leben in Moskau [wo die Mücken sind] mit
dem in Berlin, wo er u. a. die irritierende Anwesenheit von Neonazis
wohl kritisiert: "Natürlich hat Berlin auch Makel. Die
Nazis zum Beispiel." Letztendlich erweist sich für ihn
aber die nationale Ungebundenheit rechtsradikaler Aktivitäten,
so dass es eigentlich unwichtig ist, ob man "in Russland, in
Amerika, in Vietnam" sei. Der kontextuell ausschlaggebende
Vorteil in Berlin zu wohnen ist: "Dafür ist es hier mückenfrei."
An anderer Stelle betont er die historische Bedeutung Berlins, aber
differenziert nicht zwischen politisch bedeutsamen und trivialen
Geschehnissen, wenn er tiefgreifende Geschichtsumwälzungen
und banalen Alltag in allzu dichten Zusammenhang bringt: "...
der Mauerfall, die Wiedervereinigung, die Schliessung des Kasinos
am Europa-Center ... ." Häufig reduziert (wie hier) die
Effekt heischende Kommentierung den Text zu einer Pointe ohne Tiefgang
mittels ihrer unmittelbarern ironischen Brechung. Ähnliches gilt für die multikulturelle
Kommentierung, von der man sich aufgrund der Immigranten-Erfahrungen
des Autors mehr Details erhoffen könnte. Probleme werden angedeutet,
um anschliessend mit einem ironisch-humorvollen, oft nichtssagendem
Kommentar dekonstruiert zu werden. Dazu aus Russendisko die Geschichte
"Suleyman + Salierei." Hier führt eine Art interkultureller
Kooperation in Berlin zwischen Ausländern aus verschiedenenen
ethnischen Regionen zu zwischenmenschlicher Solidarität in
einer juristisch leicht prekären Lage: Ein Türke hilft
einem Russen vor dem polizeilichen Zugriff, als letzterer Amok durch
Berlin fährt und dabei des Türken Mercedes beschädigt.
Die Medien berichten über diesen Vorfall und dazu kommentiert
Kaminer: "So gibt eine Mediendebatte ganz nebenbei vielen Menschen
die Chance, sich neu zu sehen, nicht als Türke oder Russe oder
Äthiopier, sondern als ein Teil der grossen Ausländergemeinschaft
in Deutschland, und das ist irgendwie toll." Eine Situation,
die soziale Konflikte im Umfeld polizeilicher Macht problemlos auflösbar
erscheinen lässt, da die Beteiligten die Gabe beherzigen, angesichts
staatlicher Gewalt solidarisch miteinder umzugehen, wird auf das
Vage und Ungefähre reduziert, eben "irgendwie toll."
Eine ernsthaft-kritische Kommentierung ist nicht intendiert, denn
dadurch würde der grundlegend wohlwollend-humorvolle Erzählton
der Geschichten gebrochen. Die kurzen Texte demonstrieren Talent
für die witzige Darstellung der Figuren sowie scheinbar grenzenlose
Verständnisbereitschaft für menschliche Stärken und
Schwächen. Manche dieser kleinen Episoden enden auch im Absurden,
das der Autor einfach stehenlässt. Die Geschichte eines geflohenen
russischen Fähnrichs beispielsweise, der nach mehreren gescheiterten
Versuchen, eine Scheinehe zu arrangieren, um den Aufenthaltsstatus
in Deutschland zu erkämpfen, allabendlich nun nur noch still
in einer Diskothek in der Berliner Sophienstrasse steht, endet mit
den Worten: "Wie er damit etwas erreichen will, verriet er
mir nicht." [7] Das vertraute Territorium Berlins verlässt
der Autor mit seiner jüngsten Buchpublikation Mein deutsches
Dschungelbuch (2003). Hier sieht er sich einer doppelten Fremdheit
konfrontiert. Nicht nur betrachtet er Deutschland aus der Perspektive
des Immigranten, sondern er ist auch Berliner (Immigrant) und Grossstädter,
der sich mit den üblichen Vorurteilen des Stadtbewohners in
die Provinz begibt. Der Autor war von "Hunderten von Buchläden,
Kulturhäusern, Theatern und ländlichen Clubs" zu
Lesungen aus der Erstpublikation Russendisko eingeladen worden.
Während der Reisen stellt er fest, dass das Land "voller
Geschichten" und demzufolge das Material für neue Publikationen
in grosser Fülle gegeben ist. Während seiner Lesungen im Westen Deutschlands
zählt er es zu den Aufgaben, gegen das Vorurteil anzugehen,
Russen erschienen vorzugsweise mit (roher) Gewalt. In "From
Tübingen to Böblingen with Love" hatte, so der Autor
"... die regionale Zeitung "Schwäbisches Tageblatt"
... das Ereignis bereits angekündigt, der Artikel begann mit
den Worten: 'Der Russe kommt - das klingt für uns immer noch
furchtbar.' Na hallo, dachte ich. Anscheinend hatten die Schwaben
hier mit den Russen schlechte Erfahrungen gemacht - in den letzten
200 Jahren. Meine Geschichtskenntnisse liessen mich im Stich, trotzdem
wollte ich auf jeden Fall versuchen, meine Landsleute bei der Lokalzeitung
zu rehabilitieren. ... 'Gib einmal im Leben eine vorbildliche Russenfigur
ab, das muss dir doch gelingen,' sagte ich zu mir selbst."
[8] Das fröhliche Umher-Reisen durch deutsche Lande wird konsequent
mit Heiterkeit und grosser Offenheit für die Denkweise der
Kleinstädter kommentiert. In der FAZ begeistert sich
der Rezensent über "... urkomische Dialoge und die Einsicht,
dass womöglich ganz Deutschland Provinz sei und gar kein Zentrum
besäße." [9] Die durchwegs kurz gehaltenen Geschichten
in Dschungelbuch sind von unterschiedlicher Qualität. Einige
schildern schlicht die Ankunft, Lesung und Abfahrt, während
andere den stark ironisch-lakonischen Ansatz enthalten, für
den der Autor gerühmt und berühmt wurde. Falls angelegentlich
ein Kürzest-Exkurs in deutsche Sozialkritik unternommen wird,
geschieht das in sanftem Ton. Während einer Lesereise im Ruhrgebiet
mokiert sich der Autor zunächst über die Quadrat-Malkunst
eines ältelnden Künstlers, die er nicht versäumt
- vermutlich das Vergleichende suchend - mit der des russischen
Malers Kasimir Malewitsch zu vergleichen, um anschliessend den einzig
"noch real existierende[n] Untergrund der alten Generation
der 68er-Bewegung im Ruhrgebiet," d. h. deren Versammlungsstätte
in einem winzigen Häuschen zu karikiieren. Hier veranstalten
überalterte 68er regelmässig Sammlungen für ein Helene-Demuth-Denkmal
und gedenken der chilenischen Flüchtlinge, die nach Salvador
Allendes Sturz in den 70er Jahren Chile verliessen. Dem Autor gelingt
es, einen, die späten Ideologie-Träume kränzenden
Schleier der Heiterkeit auf die Szene zu legen, alle Anwesenden
sind sich nahe, und so kann der vor Lenins Büste platzierte
und leicht frustrierte Autor für eine positive Atmosphäre
sorgen. [10] In jedem Fall liegt der bedeutsamere Moment für
Wladimir Kaminer primär in der Begegnung mit dem Publikum selbst.
Für ihn ist Literatur ein Gespräch, an dem sowohl der
Autor als auch die Leser/innen interessiert sind. "Ich bin
kein akademischer Schriftsteller und möchte mich nicht auf
eine einzige literarische Form festlegen .... will die Distanz zwischen
Leser und Autor verkürzen. Meine Geschichten sind meine Visitenkarte.
Wie bei einer Einladung zum Gespräch oder zum Tanz soll der
Partner erreicht werden. ... deshalb sind mir Lesungen wichtiger
als meine Bücher. Es geht um Dialog, um Kontakt, um Nähe."
[11] Den Stoff für seine Literatur bezieht Wladimir
Kaminer aus dem Alltag und aus realen Erlebnissen, die ihm selbst
oder seinen Freunden widerfahren sind - oder die im erzählt
werden, denn für ihn gilt das Diktum, "alle Fantasie ernährt
sich von der Realität." Demzufolge verurteilt der Autor
"Fiktion als Selbstbetrug" und als Zeichen "fehlender
Offenheit für das Abenteuer um die Ecke". [12] Hinter
diesen Ecken findet er die neuen Berliner aus vielen Ländern,
wo andere Autoren sie bislang nicht suchten. Er skizziert ihre großen
und kleinen Geheimnisse mit wohlwollender Akzeptanz. [13] Ebenso
beobachtet er die Deutschen auf dem Lande und beschreibt sie, wie
sie sich selbst nicht sehen. Sein frischer Blick von aussen zeigt
Einsichten, die den Bewohnern nicht mehr bewusst oder längst
abhanden gekommen sind. Er präsentiert die Mitmenschen in Deutschland
keineswegs offensiv-kritisch, sondern erlaubt sich allenfalls eine
beobachtende, wohlwollend anmutende Interpretierung der Verhältnisse.
Seine Texte enthalten konsequent ein harmonisierendes Minimum an
Witz und Humor und halten den verständnisvollen Blick für
alles Menschliche offen. Das betrifft auch die (quasi) autobiographischen
Texte in "Militärmusik" - einer Sammlung von mehreren
Essays über Kaminers Jugend in Russland, in der der Autor Episoden
aus dem Alltag in der spät-sozialistischen russischen Subkultur
erzählt. Er belastet das Lesepublikum nicht mit Klagen über
die Mangelwirtschaft oder die Unfreiheit der Bewegung, sondern demonstriert
das schlitzohrige Erkämpfen von Vorteilen und das kluge Inszenieren
von Überlebensstrategien in aussergewöhnlichen Situationen.
Auch hier überwiegt das Positive: die meist vorzüglichen
und stets unterhaltenden Erinnerungen an eine glückliche Kindheit
und Jugend - trotz oder wegen Diktatur, Planwirtschaft und Abschottung
nach innen. [14] Wladimir Kaminers Erfolg ist aber nicht nur durch
seinen Status als Kult-Autor zu verstehen. In den Medien wird er
häufig als interkultureller Botschafter präsentiert, als
"Iwan Rebroff der Literatur," der "bestehende Russenängste
drastisch abbauen helfe und nachhaltig zur Völkerverständigung
beitrage". [15] Ein wesentliches Erfolgselement seiner extensiven
Lesereisen durch Deutschland bestätigt sich in der Rolle des
Vorzeige-Russen, die er mit Bravour und spielerischer Überzeugung
gern übernimmt. In der "Zeit" jubelt ein Rezensent:
"Kaminer ist das wunderbarste Beispiel gelungener Integration:
Er entdeckt Deutschland, und wir entdecken die russische Seele."
[16] Hinter dem Phänomen Kaminer steht nicht nur das Bedürfnis
eines in Deutschland lebenden Russen, sich erfolgreich zu artikulieren
- und das der Deutschen, sich auf freundlich-wohlwollend-ironische
Art wieder erkennen zu können. Hier zeigt sich auch die Wandlung
des bislang eher von Angst geprägten Interesses der Deutschen
für Russland und seine Einwohner. Die Zahl der in Deutschland
lebenden Russen - Spätaussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge,
legale und illegale Abenteurer - wird auf mehrere Millionen geschätzt.
Wladimir Kaminer ist der 'gute Russe' und stellt damit die Alternative
zu den anderen dar, den Russen, die eher noch Furcht einflössen,
da sie ein Flair des Unbekannten mit sich tragen. Einst hatte diese
Rolle Lew Kopelew, einer der prominentesten russischen Dissidenten
in Deutschland und Freund Heinrich Bölls, inne. Er konnte in
der Sowjetunion nicht weiter leben und fand in Deutschland politisches
Asyl, Freunde und materielle Unterstützung. In der Spätphase
des Kalten Krieges waren Kopelews Kommentare über seine Landsleute
an die oft einseitig informierten Deutschen im Westen gerichtet.
In dem für die Sowjetunion brüchigen Jahr 1990 dahingegen
reiste Wladimir Kaminer aus purem Spass und Lust auf Bewegungsfreiheit
nach Deutschland. [17] Er durchlief die üblichen Emigrantenstationen,
um anschliessend eine Existenz aufzubauen. Ein wesentliches Element
seiner Karriere im Westen liegt in den beschwichtigend gehaltenen
Informationen über russische Idiosynkrasien begründet,
denn etwaige Ängste vor dem ökonomisch und politisch immer
näher kommenden Nachbarn sollen nun vorzugsweise abgebaut werden.
Für dieses Vorhaben wurde er in den Medien ein gern gesehener
Propagandist für die positiven Seiten des post-sowjetischen
Russland. Die deutsch geschriebenen Bücher des russischen
Immigranten Wladimir Kaminer öffnen eine entspannte Welt, die
das Skurrile und Aussergewöhnliche ihrer Menschen, deren Lebensumstände
und Verhaltensweisen aufzeigt. Diese Welt wird mit Humor und Ironie
arrangiert und präsentiert und grenzt zuweilen an das Absurde.
Es ergibt sich aber auch eine angespannte Unruhe, denn der Leser/die
Leserin wartet auf das Tiefere oder zumindest auf eine versuchte
Tiefenreflexion. In der medialen Literaturrezeption scheint sie
jedoch keineswegs notwendig zu sein, denn ihr Mangel tut der Popularität
des Autors keinen Abbruch. Sein literarischer Erfolg ist auf zumeist
kurzen humorvollen Texten begründet, die einen gewissen Grad
an humanitärem Verständnis enthalten. Einmal wird Wladimir
Kaminer in einem Interview auf die Oberflächlichkeit seiner
Texte angesprochen. Aus seiner Perspektive sei das keineswegs kompliziert,
entgegnet er, seine Texte seien nicht oberflächlich, sondern
enthielten seine [Kaminers] Lebensweisheit: "Weisheit ist,
trotz aller Umstände locker zu bleiben, das Leben zu nehmen,
wie es ist, selbst weiterzukommen und anderen zu helfen weiterzukommen.
Das ist schon die ganze Weisheit." [18] Locker bleiben und
weiterkommen: das sind sicherlich zwei willkommene Ideale für
das Überleben im Alltag - aber wohin führt dieser Weg?
Das verrät uns der Autor nicht. Das Schaffenspotential Wladimir Kaminers hat sich
bislang als sehr beeindruckend erwiesen. In drei Jahren fand er
die Zeit, sechs Bücher zu schreiben und eines herauszugeben.
Nebenbei verantwortet er Kolumnen - mittlerweile gibt es kaum ein
deutsches Feuilleton, das seine Texte nicht in Anspruch genommen
hätte - er arbeitet für Rundfunk und Fernsehen, ist als
DJ tätig und geht auf zahlreiche Lesereisen. Sein wesentlichster
Verdienst besteht darin, dass er mit seinen Beobachtungen aus der
Hauptstadt, später aus Deutschland und Teilen Europas - den
fremden Blick auf das Vertraute gibt, in dem man sich wieder erkennen
kann, ohne sich einer unfreundlichen und damit unerfreulichen Kritik
ausgesetzt zu sehen. [19] Des Weiteren besteht sein Verdienst darin,
dass er die Feuilletons diverser deutscher Zeitungen durch witzige
und skurille Geschichten aus dem Alltag auflockert. Schliesslich
wurde er auch zu einer positiven Integrationsfigur zwischen (und
für) Russland und Deutschland, indem er bereitwillig in die
Rolle des optimistischen Kulturvermittlers schlüpfte. Letztendlich
aber mutierte er erfolgreich zum "deutschen Schriftsteller".
Während des Irak-Krieges im Frühjahr 2003 las er eine
Woche lang in Goethe Instituten in den USA und verkündete fröhlich:
"Privat bin ich Russe, von Beruf bin ich deutscher Schriftsteller.
... Ich fahre als Botschafter deutscher Kultur überall hin."
Als er auf einer Vortragsreise nach St. Petersburg als "deutscher
Schriftsteller" angekündigt wurde, gab man ihm dort Gelegenheit,
auf die Frage zu antworten, ob er denn Russisch überhaupt verstünde.
Seine Antwort lautete: "Die SU ist meine Heimat, Berlin mein
Zuhause, Russisch meine Muttersprache, deutscher Schriftsteller
mein Beruf." [20] Unter den vielen Möglichkeiten, die Welt der
Multi-Kulturen zu kommentieren, erarbeitete sich Wladimir Kaminer
das Privileg, sich zugleich als Teilnehmer und Beobachter seines
multi-ethnischen Umfeldes und dessen Bedingungen zu äussern.
Da seine Beobachtungen nicht offensiv oder zynisch sind, sondern
(generationsunabhängig ) unterhaltenden Charakter haben - und
in deutscher Sprache verfasst und vorgetragen werden - findet er
grosse Akzeptanz bei den Leser/innen seiner Texte und den Anhänger/innen
in den Medien. Seine Kommentare und Kurzstellungnahmen, die keine
tiefgreifend ausführlichen Analysen sein sollen, zielen ab
auf das Angenehme, das Harmonische und das Humorvolle. Sein Textgenre
ist auf Kurzprosa und Essays unterschiedlicher Länge konzentriert.
Das lustige Geschichtenerzählen hat bislang sein loyales Lesepublikum
fasziniert und es mag auch langzeitlich nicht an Stoff mangeln.
In jedem Fall aber ist es gut zu wissen, dass Wladimir Kaminer den
Typus des vieltalentierten, erfolgreichen und akzeptierten Immigranten
verkörpert. 1 Wladimir Kaminer, Interview mit Joachim Kronbein, Der Spiegel 2 (2003) 6. Januar 2003 copyright, Glossen Oktober 2004
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