a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945 ISSN 1093-6025
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G
l o s s e n: Artikel
Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten -- Tabubruch
oder späte Erinnerung? Die Vokabel von der angeblich befreienden "Streitkultur"
der Deutschen entpuppte sich auf der Tagung eher als Demonstration
für deutsche Rechthaberei und Kompromißlosigkeit. Man
trennte sich unversöhnt. Seit dem Erscheinen von Jörg Friedrichs Der
Brand, W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur und Grass'
Im Krebsgang ist in der gegenwärtigen deutschen Literatur
das Thema der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im und
nach dem Zweiten Weltkrieg unverhofft wieder in das Bewußtsein
der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Im Zentrum der
Diskussion um eine unaufgearbeitete Vergangenheit steht die Frage
nach der Legitimität ihrer Darstellung, ist doch der Weltkrieg
und der Holocaust auf deutschem Boden gewachsen. Wäre nicht
mit der Aufarbeitung der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung
indirekt eine Beschönigung der deutschen Verbrechen des nationalsozialistischen
Deutschlands verbunden? Müßte das nicht notwendig zu
einer Verdrängung oder Relativierung der deutschen Verbrechen
führen? In dieser moralischen Problematik bestand lange das
historische Tabu. Hatten noch die unmittelbar Betroffenen -- aus
unbewußter Selbstzensur oder aus Angst, die originäre
deutsche Täterschaft mit zur Sprache bringen zu müssen
-- das Thema "Deutsche als Opfer des zweiten Weltkriegs"
weitgehend tabuisiert, so traten im Jahr 2003 die Enkelkinder
dieser Generation an, über das nahezu Unaussprechliche zu
schreiben und einen Tabubruch zu wagen. Bücher von Autoren
wie Tanja Dückers, Stephan Wackwitz, Reinhard Jirgl als auch
das in diesem Jahr wieder aufgelegte Erinnerungsbuch von Anonyma
(Eine Frau in Berlin) thematisieren die Leiden von Flüchtlingen,
Ausgebombten, Heimatvertriebenen und Verschleppten.[1] Am eindringlichsten
gelingt das Wagnis dem ostdeutschen Schriftsteller Reinhard Jirgl,
der in seinem Roman ganz ohne Larmoyanz oder Revanchismus auskommt;
sein Buch ist gleichfalls von einer literarischen und inhaltlichen
Selbständigkeit, daß es auch nicht als bloße
Antwort auf die Texte von Grass oder Friedrich gelesen zu werden
braucht. Der Autor, studierter Elektroingenieur und Ex-Beleuchter
an der Ostberliner Volksbühne, der aus Zensurgründen
bis zur Wende nur für die Schublade schreiben konnte, war
Anfang der neunziger Jahre mit großen Romanen wie Abschied
von den Feinden und Hundsnächte an die Öffentlichkeit
getreten und schlug, so Helmut Böttiger, wie ein "versprengter
Meteorit in die deutsche Literaturlandschaft ein".[2] Mit den Unvollendeten ist ihm nun ein großer
literarischer Wurf gelungen, in inhaltlicher sowie formalästhetischer
Hinsicht. Iris Radisch hat den Roman in der ZEIT sogar
als die überzeugendste Schilderung der deutschen Nachkriegszeit
überhaupt bezeichnet. Zwar teile ich nicht ganz ihre Auffassung
- an Arno Schmidt kommt in dieser Beziehung niemand vorbei --
doch ihr Lob für das Buch wird vom nahezu gesamten deutschen
Feuilleton wiederholt und bestätigt.[3] Inhaltlich schildert der Roman das Schicksal von
drei Generationen alleinstehender Frauen aus einer Kleinstadt
im Sudetenland, die, wie Hunderttausende mit ihnen, nach 1945
Opfer der sogenannten Wilden Vertreibungen durch tschechische
Milizen wurden, deren Eigentum ersatzlos enteignet und unter der
tschechischen Bevölkerung aufgeteilt wurde. Das Buch setzt
ein mit dem offiziellen Befehl der neuen Machthaber an die deutschstämmige
Bevölkerung, sich in dreißig Minuten mit höchstens
acht Kilo Gepäck am Bahnhof einzufinden, wo sie auf völlig
überfüllte Züge verfrachtet wird und eine Reise
ins Ungewisse antreten muß: ohne Nahrung, Geld oder Rechte.
Hier beginnt für die beiden Schwestern Hanna und Maria und
ihre über siebzigjährige Mutter der Treck in deutsche
Gebiete jenseits der tschechischen Grenze. Nach einer langen Irrfahrt
über viele Stationen hinweg landen sie vorläufig auf
einem Bauernhof in der sowjetischen Besatzungszone, wo die Ankömmlinge,
verhungernd und von den Einheimischen gehaßt und verachtet,
vom Gutsbesitzer als Halbsklaven ausgebeutet werden. Schon hier,
sehr früh im Text, klingt das Leitmotiv des Romans an, sein
heimliches anthropologisches Motto: "Einmal Flüchtling,
immer Flüchtling" (zum letzten Mal S.223), und nach
den Erfahrungen der Vertreibung gilt für die entrechteten
Frauen die Einsicht, Menschen und Gemeinheit seien synonym (zuerst
Maria, S.9). Nach weiteren Stationen auf ihrem Leidensweg, bei
äußerster Armut, hausend in eiskalten unheizbaren Notunterkünften,
landen sie im schlimmen Winter 1947 schließlich in einer
Kleinstadt in der Altmark, wo die Schwester Hanna ironischerweise
Arbeit bei der Bahn findet, dem Transportmittel ihrer Odyssee.
Parallel zum täglichen Überlebenskampf wird -- und immer
erzählperspektivisch versetzt -- das Schicksal von Hannas
siebzehnjähriger Tochter Anna geschildert, die in einem tschechischen
Zwangsarbeitslager in menschenunwürdigen Verhältnissen
lebt, beim Transport von der Mutter getrennt wird, und der schließlich
Wochen später unter höchster Lebensgefahr, unsäglichen
Gefahren und Demütigungen illegal die Flucht über die
tschechisch-deutsche Grenze gelingt. Die Erlebnisse dieser Frauen bilden thematisch
den Handlungskern der ersten zwei Buchteile. Anna, die Tochter,
beginnt später eine Liebesaffäre mit einem blutjungen
ehemaligen Waffen-SS-Mann, der wegen seiner Tätowierung um
sein Leben fürchten muß und im Untergrund lebt, auf
dem Schwarzen Markt sein Geld verdient. Mit ihm zusammen hat sie
einen Sohn, der 1953 geboren wird, den Ich-Erzähler des dritten
und letzten Kapitels des Romans. Dieser inzwischen knapp fünfzig
Jahre alte Mann ist der letzte Überleben der Familie; er
leidet an unheilbarem Magenkrebs und gibt sich in nächtlichen
Briefen aus der Charité im Jahr 2002 Rechenschaft über
sein eigenes und das gesellschaftliche Leben in der DDR vor und
nach dem Fall der Mauer: "Alle längst tot, sie müssen
nur noch sterben." Der resignative Grundton ist für
den Erzähler das Fazit nicht nur seiner eigenen Existenz.
So endet diese Familiengeschichte in bitterer Enttäuschung,
existentieller Heimatlosigkeit und einem Gefühl ihrer Mitglieder,
schon zu Lebzeiten gestorben zu sein. Jirgl zeigt die Frauen als
letztes Strandgut des Krieges, als sekundäre Opfer einer
deutschen Politik von Rassismus und Größenwahn; und
selbst der Enkel wird noch Leidtragender im totalitären System
der DDR, einem System, daß sich als Folge des nationalsozialistischen
Wahnsinns etablieren konnte. Auch er und seine Zeitgenossen sind
noch Opfer dieser Politik. Vergessen wir aber nicht, daß der Zweite
Weltkrieg von deutschem Boden ausging und daß der Rassismus
der Nationalsozialisten von der überwiegenden Mehrheit der
deutschen Bevölkerung unterstützt wurde, die bis wohl
1940 gegen die Kriegszüge Hitlers oder die Etablierung von
Konzentrationslagern nicht viel einzuwenden hatte. Im Gegenteil
hatten die Propaganda Goebbels und die pseudo-wirtschaftlichen
Erfolge Hitlers ein erfolgreiches "brainwashing" der
Deutschen zustandegebracht. Erst zu dem historischen Zeitpunkt,
an dem sich herausstellt, daß "die eigene Täterschaft
" im Bewußtsein der Deutschen verankert ist, wird es
keinen Grund mehr geben, von einem Tabubruch bei der Darstellung
der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung zu sprechen.[4]
Erst durch das aufgeklärte Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit
im historischen Gedächtnis der Deutschen kann die Erinnerung
an die eigenen Opfer zurückkehren. Was die Intensität der Leidensschilderungen
im Roman anbelangt, so geht Jirgl in fast naturalistischer Manier
vor. Er entwickelt eine Art Ästhetik des Schreckens, eine
unter die Haut gehende Beschreibung von Angst und Grauen bei Menschen
in Grenzsituationen, eine Ästhetik freilich, die weniger
auf Karl-Heinz Bohrers Begrifflichkeiten zurückgeht, sondern
eher an Artauds "Theater der Grausamkeit" erinnert oder
an Texte des frühen Céline. So stürzt z.B. beim
Abtransport der deutschen Bevölkerung durch die Stadt zum
Bahnhof (ein erniedrigendes Spießrutenlaufen) eine graue
Frauengestalt aus der Menge und reißt einer anderen aus
Habgier die Ohrringe herunter, während das blutende Opfer
vom Strom der Ausgewiesenen weitergetrieben wird; oder es wird
einer Schlafenden auf dem Treck ruckartig der Finger gebrochen,
damit der Dieb schneller an ihren Rubinring kommt; oder wie einer
Frau, deren Haar bereits vom Feuer eines Bombenangriffes lodert,
gewaltsam der Zugang zum Luftschutzkeller verwehrt wird, woraufhin
die Insassen durch das offene Fenster zusehen, wie sie draußen
verbrennt; oder das von Anna beobachtete, fast in völliger
Stille stattfindende Massaker an SS-Männern, die auf einem
Fußballfeld zusammengetrieben, erschlagen und anschließend
dort verbrannt werden; oder wie sie, die siebzehnjährige
Tochter, bei ihrem Zwangsarbeitseinsatz auf dem Land fast jede
Nacht sexuell mißbraucht wird; oder wie ihre Tante Maria
nach einem Verhör durch einen russischen Offizier an sich
hinunterblickt und feststellt, wie sie sich aus Angst vor Schlimmerem
eingemacht hat. Sagte Maria nicht, Menschen und Gemeinheit seien
synonym? (S.9). Als Metapher für die Grausamkeit der Kreatur
kann stellvertretend die von Anna beobachtete Szene in der deutschen
Grenzstadt gelesen werden, in der ein Rudel verwilderter und halb
verhungerter Hunde einen kleineren, kranken Hund durch die Stadt
jagt, ihn stellt und dann bei lebendigem Leib zerreißt und
frißt: "Gebisse schlugen wie dreckige Sägeblätter
in Hals Flanke u Bauch - das Tier am Boden jaulte kreischend auf
-... Rasch verschlang der Haufe Fell&fleisch&pfoten den
Anblick im Staub...! Da: der spitze hohe Schrei, im klagenden
Gejaule verzitternd-, 1 Lebensfaden zerrissen, 1 Köterleben..."
(S.46). Hier ist die Brutalität eines rein darwinistischen
Überlebensprinzips, geprägt durch Haß, Gier, Zerstörung,
dem auch die Menschen in dieser Zeit verfallen, auf den Punkt
gebracht. Es gehört zu der den Roman durchwehenden
bitteren Ironie, wenn beide Schwestern Angestellte der Bahn werden
und als eine letzte Erniedrigung eine Art Ersatzheimat in der
Dachwohnung über der Güterabfertigung eines Bahnhofs
finden, einen Ort, den sie dennoch als permanent Vertriebene eines
Tages werden wieder verlassen müssen. Die Bahnhofsmetaphorik
trifft: sie verwalten lediglich ein ewiges Umherziehen und leben
mit den Geräuschen von Ankunft und Abschied der Züge.
Sie sind Überbleibsel des Krieges, die niemand will, wie
z. B. die Tochter Anna und ihren Liebhaber, den blutjungen mißgeleiteten
ehemaligen SS-Angehörigen, der durch das Miterleben brutaler
Erschießungen von Zwangsarbeitern traumatisiert wird. "Einmal
Flüchtling, immer Flüchtling" (S. 223), so summiert
Hanna ihre kollektive Existenz lakonisch. Paradox auch, wenn eben
Hitler, der nach dem Krieg von den Frauen als "Verbrecher"
bezeichnet wird, die Schuld an ihrem Elend, am Verlust der Heimat
angelastet wird: "Noch den Leichnam hätt man vierteilen
müssen" (S.9). Doch Hitler repräsentierte vor dem
Krieg für diese Personen auch die Obrigkeit, die akzeptierte
Autorität des Staats, genau wie auch für diese gläubigen
Frauen die katholische Kirche die absolute religiöse Ordnung
darstellte, die nie hinterfragt werden durfte. Dieser Untertanengeist bleibt als historischer
Widerspruch stehen, ist doch der Roman nicht nur eine individuelle
Familietragödie, sondern zur gleichen Zeit ein Stück
Archäologie deutscher Geschichte. Wie begeistert war doch
der Einmarsch in der Tschechoslowakei von den Sudetendeutschen
gefeiert worden -- der Sudetengau wieder deutsch! Man schaue sich
die entsprechenden Fotografien als Beleg an. Und die schmerzliche
Erkenntnis, daß die staatliche Macht verbrecherischen Charakter
hatte, setzt sich erst spät und widerwillig bei den Untertanen
durch, die mit einer weiteren schmerzlichen Einsicht leben lernen
müssen: nämlich wie aus Staatsräson auch in der
DDR methodisch Menschenverachtung praktiziert wird, trotz allem
offiziell gepredigten sozialistischen Humanismus. Dann erfolgt im Text die Rückkehr zum Fluchtpunkt
Berlin. Nach der Wende und dem Tod seiner Familienangehörigen
gibt der Enkel seinen ungeliebten Beruf als Zahnarzt in Ostberlin
auf und eröffnet eine Buchhandlung. Er bringt die Asche der
Schwestern nach Berlin und bestattet sie dort. Mit dieser Tat
vermag der Autor Reinhard Jirgl einen geographischen und historischen
Bogen zum Zeitpunkt und Ort des Ausgangs für die Leiden in
Europa zurückzuschlagen, indem er die Stadt Berlin zum Zeitpunkt
der Machtergreifung zu einem Fluchtpunkt für die jüngere
deutsche Geschichte rekonstruiert. Was von Berlin im Januar 1933 ausging ist nicht
nur Ursache der individuellen Familientragödie, sondern die
der Katastrophe Europas als langfristiges Resultat der in Deutschland
entfesselten Politik. Nicht nur wird mit der Fixierung des Fluchtpunktes
Berlin die zerstörte Lebenszeit der kollektiven Kriegs- und
Nachkriegsgenerationen benannt (" Die Zeit ist der einzige
Besitz des Menschen "), sondern auch noch die verpatzte Existenz
des Enkels muß als Langzeitwirkung der nationalsozialistischen
Greueltaten begriffen werden, denn auch er stirbt im Grunde flüchtend
vor seinem Leben in einer vergeblich erhofften besseren, geläuterten
Gesellschaft. Dem lakonischen Satz am Schluß: "Es geht
weiter" (S.251) fehlt das abschließende Satzzeichen
. So endet der Roman als offener, unabgeschlossener Text, als
ein Buch über ein noch nicht abgeschlossenes Kapitel deutscher
und europäischer Geschichte. Nicht nur schließt sich vom Ausgangspunkt
Berlin der existentielle Lebenskreis mit den Gräbern der
Familienmitglieder aus den entfernten Sudeten, sondern auch motivisch
wird auf den Beginn des Romans rekurriert, der mit dem Befehl
der Milizen zur Evakuierung an die deutschen Einwohner 1946 einsetzt,
sich mit höchstens 8 Kilo Gepäck in 30 Minuten am Bahnhof
einzufinden. Der Abschied ist ein endgültiger, und das Leben
aller fünf Hauptpersonen im Roman bleibt, wie es der Romantitel
andeutet, unvollendet. So weist das Ende der Geschichte wieder
zyklisch auf ihren Anfang zurück. Nun aber hat das ziellose Umherirren der Frauen,
ihre Vertreibung aus dem vermeintlichen Paradies, ihre existentielle
Heimatlosigkeit, ihre Odyssee und das Nirgends-geduldet-Sein noch
einen weiteren Referenzpunkt. Ihre Situation ruft Assoziationen
zu anderen Vertriebenen in der Menschheitsgeschichte wach, einmal
zu Ahasver, dem Inbegriff des ewigen Juden, dem Heimatlosen und
Wurzellosen, dessen Schicksal zum Sinnbild des jüdischen
Volkes umgedeutet wird. Durch diesen vom Autor intendierten Bezug
entsteht ein gebrochenes Bild dieser Deutschen, die als verführte
Opfer Hitlers gezwungen werden, das kollektive mystische und reale
Schicksal jüdischer Menschen selber erleben zu müssen. Die wohl inhaltlich bedeutendste Leistung Jirgls
bei der Darstellung von Vertreibungen aus der Heimat ist eben
die literarische Sichtbarmachung eines unendlich monumentaleren
Unrechts: der vom deutschen Nationalsozialismus verübte Genozid
an den europäischen Juden. Überall im Text stoßen
wir auf solche Entsprechungen: Die Deportationen zum Beispiel;
die gewaltsame Evakuierung der einheimischen Deutschen aus ihren
dann enteigneten Häusern, ihr Marsch durch die Stadt zum
Bahnhof, um dort in Waggons verladen und abtransportiert zu werden.
Das ist ein aus den jüdischen Ghettos nur zu bekanntes Bild.
Auch wird die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei
gezwungen, als Nationalitätsausweis weiße Armbinden
zu tragen (man denkt unwillkürlich an Judensterne im Dritten
Reich); dann die in Flammen aufgehende Frau und die Erstickungsangst
der im Keller eingeschlossenen Menschen; der brutale Raub der
Ohrringe und der gewaltsame Schmuckdiebstahl. Das geschah Millionen
in den Konzentrationslagern. Außerdem der Geruch bei der
Leichenverbrennung im Fußballstadion nach dem Mord an den
SS-Männern und auch die Urangst der in einer Scheune zusammengetriebenen
Menschen, das Gebäude könnte in Brand gesetzt werden.
Alle diese Bilder haben Shoa-Assoziationen. Später, in der
DDR, beobachtet der Enkel als zehnjähriges Kind bei einer
Viehentladung auf dem Bahnhof, wie diese Tiere gequält werden,
um sie möglichst schnell in den Schlachthof schaffen zu können.
Das ist eine weitere Auschwitz-Anspielung. In dieser Situation
nun greift das Kind einen Stein und schleudert ihn einem der brutalsten
Treiber an den Kopf, der dadurch ein Auge einbüßt und
an einer Blutvergiftung stirbt. Ein David erschlägt den Goliath:
einer der vielen biblischen Verweise im Text. So stehen die Verbrechen an den europäischen
Juden und der Zweite Weltkrieg stets unausgesprochen mit im Erzählraum
dieser deutschen Tragödie, die freilich durch die Ahasver-
und die Holocaust-Assoziationen in ihrer Bedeutung relativiert
wird. Damit erfolgt aber freilich keine Aufrechnung oder ein Wertvergleich
der Grausamkeiten, sondern es geht Jirgl in erster Linie um die
indirekte Sichtbarmachung der Ursachen für die Verbrechen,
die seit 1933 vom faschistischen Deutschland ausgingen und zu
dessen sekundären Opfern eben auch die deutschen Heimatvertriebenen
zu zählen sind. Direkte politische Kritik übt lediglich
der Ich-Erzähler im dritten Teil an den Zuständen in
der DDR, wobei deutlich wird, wie eine Stunde Null, ein radikaler
Neuanfang ausgeblieben und der "homo nuevo", der sozialistische
Mensch, nicht erschienen ist -- die Menschen haben sich nicht
gebessert. Nach der Wende zieht der Ich-Erzähler Enkel ein
Fazit: Man sei gekommen vom "kommunisten Manifest zum globalistischen
Money-Fest" (S.197). Die literarisch-ästhetische Umsetzung dieses rabenschwarzen, untröstlichen Menschenbildes hat dem Autor bei der Kritik viel Anerkennung eingebracht. Schon das dreiteilige strukturelle Verfahren verweist zurück auf die Thematik des Romans. Wird die Kapitel-Unterteilung im ersten Teil (die Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit) noch recht konventionell numerisch gekennzeichnet, so erfolgt die inhaltliche Zeitraffung im zweiten Teil ( vier Jahrzehnte DDR-Wirklichkeit ) durch Texteinschübe in Form von Orts- und Straßennamen, die jeweilige Lokalitäten anzeigen, während im dritten Teil die Orientierung im Berlin des Ich-Erzählers durch Zeit- und Datenangaben vorgenommen wird. Der Text verjüngt sich hin zu den letzten Tagen des Enkels, dem seine Lebenszeit zwischen den Fingern verrinnt: " Die Zeit ist der einzige Besitz des Menschen", eine Text-Grundierung, die an das biblische Diktum von der dem Menschen auf Erden gegebenen Zeit erinnert. Auch sprachlich hat Jirgl, neben dem ständigen
Wechsel der Erzählkoordinaten, einen ganz eigenen Kosmos
geschaffen, ein avantgardistisches Kunstwerk mit einem eigenen
Zeichen- und Verweissystem, das orthographisch und syntaktisch
bewußt gegen die Duden-Norm verstößt. Was auf
den ersten Blick für den herkömmlichen Leser chaotisch
wirkt, entpuppt sich als filigran und streng komponierter Text.
So entspricht einmal das Schriftbild den unterschiedlichen Perspektiven
und Erzählstimmen. Versalien werden für offizielle Bekanntgebungen
durch Regierung oder Militär verwendet ; kursiv wiedergegeben
sind Äußerungen von einzelnen Menschen, von Opfern
oder der Bevölkerung insgesamt. Persönliche Erinnerungen
werden durch Einrücken des Textes deutlich gemacht und behördliche
Anordnungen werden durch altdeutsche Schrift gekennzeichnet. Generell
werden bei Jirgl die Schriftzeichen zu Bedeutungsträgern
auf einem semiotischen Feld. Dazu kommen zahlreiche orthographische
Idiosynkrasien: Wortkontraktionen als Annäherung an die gesprochene
Sprache; Sprachstau oder Sprachschübe bei inhaltlichen Ausnahmesituationen;
Wegfall bzw. Neusetzung von Interpunktion (bei atemlosem Erzählen)
, so z.B. die Setzung von Ausrufezeichen vor dem betonten Wort,
als auch ironische linguistische Neuschöpfungen ("pluralistisches
Money-Fest" oder Wörter wie"vernuttst "(S.
53), " Schlau-raffenland" (S.39); wie auch Wortagglutinationen,
d.h. das Verschmelzen von Wörtern zu Neologismen. Gelegentlich wurde Jirgl vorgeworfen, seine Kunstsprache
transportiere kein Erkenntnisinteresse mehr, sei nur l'art pour
l'art. Ich sehe freilich durchaus eine integrale Beziehung zwischen
Inhalt und modernistischer Form. Jirgls eigenwillige Textgestalt
transportiert stets semantische Bedeutungen; seine Sprache wird
eigenwillig rhythmisiert und expressiv betont, immer jedoch verknüpft
mit dem jeweiligen Handlungsgeschehen und mit der psychischen
Verfassung der entsprechenden Erzählerfigur. So verweisen
z. B. die auf nahezu jeder Seite auftauchenden Worttriaden, die
in einem Wort geschriebene Dreifachnennung bestimmter miteinander
verbundener Phänome "Windsonneregen" (S.58), "SchmugglerSpioneSabotör"
(S.81) oder "MühsalUrinGier" (S. 93) inhaltlich
auf die vorherrschende Personenkonstellation im Buch: Großmutter,
Mutter, Sohn, die darüber hinaus als eine ironische biblische
Allusion, eine Trinitatis von drei Menschen bei ihrer Passions-
und Leidensgeschichte und in Verknüpfung mit den zahlreichen
Holocaust-Motiven zu sehen ist. Auf der Suche nach historischen Vorbildern für
Jirgls avantgardistische Texte haben die Kritiker immer wieder
reflexhaft auf die Prosa von Arno Schmidt verwiesen, und das wohl
nicht zu Unrecht. Der Grund dafür, daß Jirgl als legitimer
Nachfahre Schmidts gehandelt wird, hat sicher einmal mit der eigenwilligen
Orthographie beider zu tun. Schmidt hatte schon in den fünfziger
Jahren sehr kunstvoll-unkonventionell die Duden-Norm unterwandert
und wohl gar nicht wiederholbare Sprachkunstwerke verfaßt,
von denen Alfred Andersch einmal meinte: "Was Sie mit der
Sprache machen[...], wird sich erst in Jahrzehnten auf den Gesamtzustand
unserer Sprache und ihrer Literatur auswirken."[5] Jirgl
kennt Schmidts Texte sehr gut und Schmidt zu den Autoren, die
ihn zum Schreiben in eigenen Prosaformen entscheidend ermutigt
haben. Allerdings betont er: "Ich möchte [...] also
keineswegs den Eindruck eines Erbschleichers hinsichtlich Arno
Schmidts erwecken."[6 ] Auch hat er bereits im Jahr 2002 [7], also vor
der Veröffentlichung der Unvollendeten, ein Loblied
auf Schmidts Umsiedler-Prosa verfaßt, eine der zahlreichen
Arbeiten Schmidts mit eben genau der Jirglschen Vetreibungs- und
Flüchtlingsthematik, modernistische Texte, die in den reaktionären
und restaurativen fünfziger Jahren nicht eben begeistert
aufgenommen wurden. Jirgl spricht hier schon auf die existenzphilosophische
Erkenntnis seines kommenden Romans an, daß eben die Lebenszeit
der einzige Besitz des Menschen sei. Inhaltliche Gemeinsamkeiten
existieren zuhauf. Beide Autoren zeigen eine vaterlose Gesellschaft
der Nachkriegszeit, deren Mitglieder oft ohne identitätsstabilisierende
Vorbilder zurechtkommen müssen: Nobodaddy's Kinder
heißt ganz programmatisch ein Erzählband Schmidts.[8]
Doch Jirgl ist keinesfalls ein epigonaler Nachahmer Schmidts.
Seine Sprache bleibt unverwechselbar seine eigene, auch wenn er
sich wie Schmidt bewußt an die gesprochene Sprache anlehnt.
Sie ist expressiver als die Schmidts, der z.B. mit Interpunktionszeichen
allein Bedeutungen stiften kann, die vom Leser erst nicht-verbal
mitgedacht werden müssen. Man denke an die Klammeralleen
in seinen Texten, die temporal und inhaltlich zugleich gelesen
werden müssen, oder an seine etymistischen Wortschöpfungen.
Schmidts Aufforderung an seinen Leser, langsam zu lesen, dann
könne er "the time of his life" haben, denn Sprachkunst
entsteht ebenso sorgsam und bedächtig .[9] Die gleiche Voraussetzung
dürfte auch für Jirgl und die Unvollendeten gelten.
Dennoch würde ich literarische Rangunterschiede
festhalten wollen: Jirgls Roman erreicht nicht ganz den Anspielungsreichtum
und die Vielschichtigkeit von Schmidts dichteren Textgeweben,
in denen Subtexte mit Drei - und Vierfach-Bedeutungen an der Tagesordnung
sind, wie auch bei Jirgl, bei dem rabenschwarze direkt ablesbare
Ironie vorherrscht, die humorvollen und bewußt kalauernden
Passagen fehlen. Schmidts Prosa ist weniger eindeutig und daher
artistischer, denn eine Kategorie von Sprachkunst ist ja gerade,
daß sie nicht in eindeutigen Auslegungen aufgeht, sondern
vielfach interpretierbar bleibt. Weiter hat Jirgl es mit seiner
Textproduktion leichter als Schmidt, der noch nicht mit Textverarbeitungsprogrammen
das Schriftbild visuell nahezu beliebig manipulieren konnte, sondern
noch auf seiner alten Adler im wahren Sinne komponierte. Auch
das historische Faktum, daß Schmidt unmittelbar nach dem
Krieg bereits an die 1933 verschüttete Avantgarde in Deutschland
anknüpfte, zur Zeit eines dünnen Neorealismus z. B.
Bölls und Schnurres, spricht für die Größe
von Schmidts Prosa, gerade zu einer Zeit, in der deutsche Schuldprobleme
oder das Thema von Deutschen als Opfern Hitlers nicht gerade gern
rezipiert wurden. Der erkenntnisphilosophischen Erkenntnis von Jirgls
Romans freilich hätte Schmidt -- er selber war Ostflüchtling
-- wohl voll zugestimmt: "Die Lebenszeit ist der einzige
Besitz des Menschen." 1 Siehe die folgenden Bücher: Stephan Wackwitz,
Ein unsichtbares Land (Frankfurt am Main: Verlag S. Fischer,
2003); Tanja Dückers, Himmelskörper (Berlin:
Aufbau-Verlag, 2003), Anonyma, Eine Frau in Berlin (Frankfurt
am Main: Eichborn, 2003) etc. Ich zitiere nach: Reinhard Jirgl,
Die Unvollendeten (München/Wien: Carl Hanser Verlag,
2003). 2 Helmut Böttiger, "Alle längst
tot, sie müssen nur noch sterben", Literaturen
7/8 (2003): 68. 3 Zit. nach: Fachdienst Germanistik 8 (2003):
S.16. 4 Wolfgang Sofsky, Süddeutsche Zeitung.
Wiederabdruck in Kulturchronik 1 (2003): 33-34 5 Andersch an Schmidt, 19.Juli 1955. Arno Schmidt,
Der Briefwechsel mit Alfred Andersch, hrsg v. Bernd Rauschenbach.(
Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld im Haffmans Verlag
Zürich, 1985) 62. 6 Reinhard Jirgl, "Brief an Friedhelm Rathjen".
24.Februar 1998. 7 Reinhard Jirgl, "Der frühreife Mond
schob, rachitisch krumm, übern Bahndamm", Die Zeit
44/02. Online-Ausgabe. 8 Arno Schmidt, Nobodaddy's Kinder (Hamburg:
Rowohlt, 1963). 9 Arno Schmidt, "Dankadresse zum Goethepreis
1973", Der Rabe 12 (Zürich: Haffmanns Verlag,
1985): 32.
copyright: Glossen, Oktober, 2004
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