Glossen 26
Ingo Schulze, Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier (Berlin Verlag 2007) 281 Seiten. Zwischen Ingo Schulzes sensationellem Bucherfolg Simple
Storys (1998)
und seinem Monumentalroman Neue Leben, der im Jahre 2005 Sechs der im Band aufgenommenen Geschichten wurden bereits separat in
früheren Jahren veröffentlicht ("Handy", 1999; "Berlin
Bolero", 1999); "Milva, als sie noch ganz jung war", 2000; "Calcutta",
2000; "Mr. Neitherkorn und das Schicksal", 2000). Der Rest
ist neu. Die bei Schulze sonst übliche Ost-Perspektive ist hier
und da immer noch vorhanden; im Vordergrund steht jedoch die positive
oder negative Auswirkung technischen Fortschritts, die Ost und West gleichermaßen
betrifft. Die sich hektisch beschleunigende Welt nervt, verunsichert,
ist nicht überschaubar. Das wirkt sich auf die Figuren aus, auch
auf den Autor, der als fiktive Figur und Ich-Sprecher in vielen der Geschichten
auftritt; letztlich wird aber auch der Leser in den Bann dieser Beunruhigung
gezogen. Handy wird zum Symbol oder Leitmotiv in einer Situation, in
der der Mensch überfordert ist, die Kontrolle verliert und keine
Antwort findet. In den meisten der dreizehn Geschichten entsteht vor
dem Leser eine Situation unbestimmbarer Bedrohung. Ein dem Band vorangestelltes
Motto von Friederike Mayröcker macht es klar: "Dann folgte
ein Tag dem anderen ohne daß die Grundfragen des Lebens gelöst
worden wären." Die meisten der Geschichten sind Paar- oder Liebesgeschichten. Sie
führen in die private Welt oder in berufliche und soziale Bereiche.
Schulze thematisiert Ehekrisen, den Verlust von Arbeitsstellen, Beförderungen, ökonomische
Bedrohungen, mißglückte Liebeserlebnisse oder das Sich-Fremdfühlen
in einem neuen sozialen oder kulurellen Klima. Es geschieht "etwas" Verstörendes",
das der Mensch nicht im Griff hat. Eine Figur aus der Geschichte "Eine
Nacht bei Boris" faßt es treffend: "Irgendetwas ist passiert,
aber du kriegst es nicht zu fassen." Dieses Vage, Diffuse führt
zu bösem Ärger, zu Überreaktionen, zu einem erschütterten
Selbstbild, aber auch zum Erkennen und Genießen großen Familienglücks
in kleinen, scheinbar banalen Geschehnissen. Schulze erzählt Geschichten,
Storys, eine Art "simple storys." Doch es fehlt das kaleidoskopartige
Ineinander und Auseinander der Personenkonstellationen, das "cross-over" und
die Ausblendung einzelner Figuren, die feste Hand des Autors. Der
Band wirkt unzusammenhängend, und so soll er -- dem technischem
Klima und der Unüberschaubarkeit entsprechend -- auch wirken.
Mangel an sinnvoller Kommunikation und das Aneindervorbeisprechen
enthüllen
das Irritierende, Unpersönliche des Computer- und Handyzeitalters,
die Abhängigkeit des Menschen von der Technik, die ihm das Leben
retten kann, die ihn aber auch hilflos macht. Trotzdem werden die dreizehn Geschichten kunstvoll zusammengehalten.
Das geschieht, indem sich der Autor Schulze selbst zur fiktiven Figur
oder zum Ich-Sprecher macht, der durch die einzelnen Prosastücke
gleitet. Er gleicht seinen Figuren, ist Leidensgenosse, wirkt verunsichert,
ratlos, überfordert und irritiert. Diesen Kunstgriff der diffusen
Autorschaft hatte Schulze bereits in Form eines Verwirrspiels in dem
Roman Neue Leben gekonnt angewendet. Auch in den dreizehn Geschichten "in
alter Manier" gilt die komplexe Regel: das beschriebene Leben des
Autors ist nicht das Leben des Autors. Alles ist Fiktion -- fast alles,
oder besser: vielleicht auch mehr. Schulzes Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier ist anspruchsvoll und lakonisch verkürzt geschrieben. Zur schnellen Lektüre oder Unterhaltung eignet sich das Buch nicht. Oft muß man nachlesen, sogar ein zweites oder drittes Mal, bevor sich ein Lesegenuß einstellt. Wer sich die Zeit nimmt, kommt auf seine Kosten, erkennt die Hand eines Meisters der Kurzprosa. Christine Cosentino |