interview

Intelligenz zwischen Teufelsforschung und Wertgesetz

In Oktober 2003 wird Alexander Kluge den Büchner-Preis entgegennehmen. Für sein Werk Chronik der Gefühle (Suhrkamp, später auch bei Zweitausendeins) hatte er 2001 den renommierten Bremer Literaturpreis erhalten. Im September dieses Jahres erscheint ein neuer Band mit 500 Geschichten bei Suhrkamp: Die Lücke, die der Teufel läßt. Darüber hat sich glossen mit dem Autor unterhalten, dem wir für die Erlaubnis des Vorabdrucks von vier Geschichten aus diesem Buch danken. (Vgl. auch die Artikel über, Interviews mit und Texte von Kluge in Glossen 16, 12 und 9)

Stollmann:
Vom „Teufel“, dem Bösen, „Gott“ haben Sie bisher eigentlich nicht gesprochen. Wieso jetzt ein Buch mit dem „Teufel“ im Titel?

Kluge:
Wenn man Geschichten erzählt, geht es nicht darum, daß man wie in einem wissenschaftlichen oder philosophischen Buch sagt, was man nach bestem Wissen und Gewissen für wahr hält, sondern man probiert, welche Gedanken man libidinös vorziehen würde. Das ist eher die Tätigkeit einer Fledermaus. Benjamin vergleicht literarische Produktion mit dem Aussenden von Ultraschallwellen. Diejenigen, die Konsistenz haben, also die von karstigen Wänden abprallen, üben dann einen Reiz auf das eigene Echolot aus. Das ist ein erprobendes Verhalten, welche Worte, welche Metaphern, welche Geschichten man faszinierender, anziehender findet als andere.

S: Nun kann man in der Zeile „Die Lücke, die der Teufel läßt“ eine Zuspitzung der bekannten Parole erblicken: „Es gibt immer einen Ausweg.“

K: Die ist von 1917.

S: Von Lenin, ja. Und jetzt geht es um die mittelalterliche Gestalt des Problems?

K: Das, wovon wir hier sprechen, ist eigentlich nicht einfach das Mittelalter, sondern die frühe Neuzeit, es ist das, was den 30jährigen Krieg hervorbringt, die Zeit der Hexenverfolgung, die Inquisition. Zu dieser Kontinuität gehören dann mindestens noch die Bauernkriege hundert Jahre vor dem 30jährigen Krieg.

Bei St. Thomas oder bei Duns Scotus im 13. Jahrhundert ist eine unglaubliche rationale Fähigkeit zu beobachten, ein Unterscheidungsvermögen, wie wir es heute gar nicht hätten. Mich hat immer stark bewegt, daß Abélard aus 33 Zeilen eines verstümmelten Textes von Aristoteles, nämlich der Vorrede zur Ethik, die aus dem Arabischen auf ihn gekommen sind, sein großes Kommentarwerk schreibt aus 12 Bänden. Und daß Otto von Freising mit 200 Rittern, also der Bruder Barbarossas, nach Frankreich zieht und zwei Jahre studiert und zwar genau diese Texte und dabei das Kommentieren lernt, die sic et non-Methode, also die früheste dialektische Methode, wird dort praktiziert. Dann ist davon nicht unabhängig der Ausbruch der mittelalterlichen Musik in unseren Breiten, und etwa zum gleichen Zeitpunkt versammelt Barbarossa ein Heer vor Bologna, aber nur zu den Zwecken der Rechtsprechung. Was er tut als Kaiser, ist, nach den Gesten, also altrömischen Quellen, Recht zu sprechen, en masse, eine Massenveranstaltung der Rechtsprechung. Das ist praktisch die Gründung der Universität Bologna. Diese gar nicht teuflischen Elemente des Hoch-Mittelalters haben mich immer interessiert.

S: Und nun gehen darüber Reformation und Säkularisation hinweg.

K: Wenn ich die Friedenspreisrede von Habermas höre und Reemtsmas Referat, dann wird dort gesagt, daß die Säkularisation in unseren Breiten oberflächlich erfolgte. Wir haben eine Scheinsäkularisation, die Aufklärung ist sozusagen zum Schein erfolgt, die Trennung von Staat und Kirche, Gemeinwesen und Glauben, ist nur halbwegs erfolgt, gierige Landesfürsten wollten Kirchengüter haben. Die Kämpfe der Religionskriege haben so viele Verhärtungen erzeugt, daß sogar die Friedensschlüsse des berühmten Westfälischen Friedens von 1648 diese Narben mitspiegeln. So daß wir im Abendland eine mißlungene Säkularisation und ein Unverständnis erzeugt haben gegenüber dem, was wir in anderen Ländern Religion nennen. Dabei ist Religion, wie Habermas das formuliert, die Ablehnung der Diskussion: ich habe in mir eine Gewißheit und die diskutiere ich nicht. Merkwürdigerweise wird diese Haltung von uns heute, also nach der Romantik, z.B. in der Liebe akzeptiert, ernst genommen. Im wesentlichen entstehen alle mörderischen Dramen und Opern daraus, daß ein Liebender sagt, ich diskutiere nicht über das, was ich fühle, sondern ich empfinde: den bzw. die oder keinen. Wieso können wir das in der Religion nicht akzeptieren, sondern empfinden es als intolerant, fundamentalstisch, teuflisch?

Und wenn dann z.B. noch im Weißen Haus ein Präsident regiert, der seine Politik auf den Kampf gegen das Böse ausrichtet, dann berühren diese und andere Ultraschallwellen meinen kleinen Mann im Ohr, so dass ich mich, statt jetzt noch einmal Kant zu lesen, der literarischen Teufelsforschung zuwende. Man muß noch einmal die Metaphern des Mittelalters prüfen, die mit so was umgehen können, die Unheimlichkeit besser ausdrücken können. Ich will natürlich nicht die theologischen Systeme nachahmen, aber ich möchte noch einmal das dort vorhandene Differenzierungsvermögen nachahmen, wenn es darum geht, das Unheimliche zu bannen und gleichzeitig von ihm zu lernen. Wenn uns dieser Aberglauben, der Reiz des Absurden, des „credo quia absurdum“ im Weißen Haus begegnet als „Politik des Unmöglichen“, möchten wir es in irgendeiner Tradition noch einmal wiedererkennen. Dort kannte man vielleicht die Gegengifte und in der Gegenwart wissen wir sie nicht.

[Geschichte: Der Teufel im Weißen Haus]

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[Geschichte: Die blaue Gefahr]

S: Sie haben neulich bemerkt, Ihre Geschichten seien um einen Satz herum konstruiert. Ist das richtig?

K: Ja. Also das ist nicht immer so, aber normalerweise hat man einen Satz, einen Ausdruck, oder einen Halbsatz, eine Fundstelle. Und hier in diesem Fall, in diesem Riesen-Passagenwerk sammelt Benjamin einen Roman ein von einem Franzosen, und der heißt „Le Peril Bleu“.

S:Das ist die Eröffnungsgeschichte zum letzten Kapitel Ihres Buches, das eben diesen Titel trägt "Die blaue Gefahr". Die vorletzte Geschichte ist dann "Der Teufel im Weißen Haus". Hier verzichten die Aliens, die mit einer nichtmenschlichen Intelligenz begabt sind, die man insofern „höher“ nennen könnte, als sie längere Zeiträume, Jahrhunderte überblicken und so längere historische Bewegungen wahrnehmen können, auf den Besuch unseres blauen Planeten.

K: ... derzeit.

S: ... ja, weil die blaue, also die menschliche Intelligenz, ihnen zu gefährlich erscheint, sie ist haltlos.

K: Ja, Mangel an Verankerung. Die Bewohner des blauen Planeten sind grundlos gierig. Aber das sind nur Messungen. Es kann auch sein, daß diese Außerirdischen sich irren, so wie sie ja die blaue Farbe, die der Planet bloß von außen hat, zur Hauptsache machen und damit die Bewohner am Grunde dieses Luftmeeres charakterisieren.

S: Das ist eine göttliche, abgehobene Perspektive auf den ganzen Planeten. Die darauf folgende Geschichte heißt "Geselligkeit transgener Mäuse", das ist nun eine Gegenperspektive, ganz von unten, da geht es darum, wie diese haltlose blaue Intelligenz mit dem Instrument der Gentechnik mit sich selbst umgeht.


[Geschichte:Geselligkeit transgener Mäuse]

K: In einem Forschungsinstitut, das Geld braucht von einem großen Konzern, der Werbungsinteressen hat.

S: Und diese Mäuse sind individuelle Wühlmäuse ...

K: Es sind zwei Rassen, die Bergmäuse und die Präriemäuse.

S: Denen durch einen genetischen Eingriff die molekulare Antenne für Östrogen, das heißt, für Sexualität genommen wird.

K: Oder zugefügt. Die Bergmäuse haben das nicht so in dieser Art, denen kann man sie hinzufügen. Normalerweise hat man den Tieren Spritzen, Mittel, Hormone gegeben. Hier geht es jetzt um etwas anderes, um eine Veränderung der Produktivität, so als ob sie bei einem Menschen die Fähigkeit, Melatonin im Hirn, also eine Eigendroge zu entwickeln, was unsere Körper und vor allen Dingen unser Gehirn pausenlos tun, verstärken.

S: Welche Funktion hat Melatonin?

K: Das schafft z.B. Ruhe, hilft einschlafen, pazifiziert. Andere, übliche Drogen haben auch diese Wirkungen, weil Hirn und Körper darauf seit Jahrtausenden eingestellt sind. Nun können Sie das verstärken und abschwächen, das können sie aber nur genetisch machen.

S: Und ist das nun „blaue Gefahr“, also haltlose Intelligenz gewissermaßen von innen, aus der Mausperspektive gesehen?

K: Es ist eigentlich nur ein Beispiel unter vielen, wie spekulative Wissenschaft praktiziert wird, aber es ist freundlich erzählt, wie Lafontaine Fabeln erzählt. Es gab einmal den Raben und den Fuchs, und hier sind es jetzt zwei Sorten von Wühlmäusen, Wissenschaftler eines Instituts, Experten, die was von Sponsorengeldern verstehen und hocherfreut sind am Ende, wenn die Aussicht besteht, daß man eventuell später Kunden nach der Art der Präriemäuse, so zurichten kann, daß sie besser kaufen. Daß sich die Antenne für Werbung verbessert, das wäre doch viel besser, als wenn wir die Werbung verbessern.

S: Es ist aber zunächst ein Interesse an Grundlagenforschung da, die um des Geldes willen mit einem unmittelbaren Marktinteresse verbunden wird.

K: Das kann man nicht anders sagen. Es ist dasselbe Interesse, das Galileo Galilei, oder Leuwenhoek, der seine Spucke betrachtet und zum erstenmal Bakterien sieht, weil er das Mikroskop erfunden hat mit den Mitteln der niederländischen Optik. Das sind eigentlich die großen Errungenschaften, aus denen unsere Wissenschaft besteht. Oder die Anatomen, die sozusagen in den Leibern von Toten nachts heimlich herumwühlen und dabei doch eine ganze Menge herausfinden, was später die Chirurgen zu Heilzwecken verwenden.

S: Sind die Sponsoren nun an der Dignität der Forschung interessiert und wollen ihren Konzern damit schmücken oder an dieser eigentlich lächerlichen Verwertung?

K: Es gibt ein Kapital, das fast unbezahlbar ist und für Geld alleine nicht zu erlangen ist, das ist das Vertrauenskapital, ein Kapital namens Vertrauen, von Marx unzureichend beschrieben, aber von ihm immer vorausgesetzt, denn ein Gemeinwesen beruht auf solchem Kapital, und die Intelligenz der Werbeindustrie würde ich nicht unterschätzen.

S: Und es geht darum, wer dieses Kapitel akkumulieren, sich aneignen kann?

K: Ja, aber diese Aneignung ist nicht so einfach wie die von Geld. 93 Prozent der Intelligenzarbeit, wie ein Arbeitszeitmesser in meinem Buch an anderer Stelle errechnet, werden in Dienstleistungen investiert, Intelligenz ist also gar nicht mehr tätig in Form kritischer Intelligenz, so wie meinetwegen Hegel, Kant, die so in ihren Studierstuben sitzen, oder wie Lichtenberg seine Satiren über die Welt verbreiten. Sondern es sind Moderatoren, Organisatioren, Lobbyisten, vor allen Dingen also in der Werbung tätig. Diese Intelligenz ist aber auch unbezähmbar, eigensinnig, das heißt, sie ist unbeherrschbar für den Träger und den Besteller dieser Intelligenz. Sie wird nämlich nicht nur immer das Bestellte produzieren, sondern ein Surplus liefern, denn sie gibt sich ja Mühe. Dieses Sich-Mühe-Geben führt dann zu einer sekundären Intelligenz, gerade in anonymen Anwendungsbereichen, wie das zum Beispiel in der Werbung, in großen Konzernen organisiert ist. Sie ist unfreiwillig und unbestellt intelligenter als es gebraucht wird.

S: Sie untersuchen hier das, was vor 30 Jahren die „reelle Subsumtion der Intelligenz unter das Kapital“ hieß. Das, legen Ihre Geschichten nahe, ist inzwischen geschehen, wehren kann man sich dagegen eigentlich nicht mehr, man muss vielmehr nüchtern analysieren, was es wirklich bedeutet.

K: Ich schließe hier an Hans-Jürgen Krahl an, den Sprecher der Frankfurter Radikalen innerhalb des SDS, der gegen Ende seines Lebens, bevor er sehr elend starb bei einem Unfall, angeleitet von den letzten Arbeiten von Adorno, diese Frage aufwarf. Wenn doch die Intelligenz eine bürgerliche Errungenschaft ist, wieso erwarten wir von ihr die Emanzipation des Proletariats? Er hat schon die Konkurrenzkämpfe seiner Genossen bemerkt, er hat bemerkt, daß sie sich in allem eigentlich als bürgerliche Charaktermasken und gleichzeitig als bemühte Sozialisten verhalten. Und man konnte nie sagen, welche Seite in diesem Kampf an diesem oder jenem Abend die Oberhand gewinnt. Wenn sich jetzt aber in einer hochindustrialisierten Gesellschaft der Besteller hineinmischt, dann steht der Intelligenzler eigentlich so wie an einem Fließband - das kann man nur nicht sehen. Diese unsichtbaren Arbeitstische der Konzernorganisation, der Börsenwirklichkeit usw., an denen Intelligenz abgesondert wird, die führen zu einer reellen Subsumtion, so daß sich jetzt der Intelligenzler vom Arbeiter in der Fabrik nicht mehr unterscheidet. Ja, es mag sein, daß bestimmte Prozesse, denen der Arbeiter gar nicht mehr unterliegt, weil die Fabriken sich dezentralisieren, PC-Heimarbeit auf dem Vormasch ist und die Arbeitsprozesse sich verändern, für den Intelligenzler jetzt überhaupt erst anfangen. Er muß sich in seiner Freizeit quälen, er muß Kinderarbeit leisten, Sie verstehen? Also alle Phänomene des industriellen Arbeitsprozesses, bei Marx beschrieben für das frühe England des 19. Jahrhunderts, würden jetzt in die Hirne einwandern und entscheiden, ob einer sich durchsetzt, oder ob er als Intelligenzler arbeitslos wird. Dies, sagt Krahl, führt aber nicht dazu, daß die Intelligenz dadurch weniger Widerstandsgeist entwickelt, sondern ein Teil wird sich unterwerfen und um so intensiver wird der andere Teil Widerstand leisten. Es entsteht also gewissermaßen ohne Willen des Intelligenzlers eine Gegenarbeit, ich würde das Eigensinn nennen, ein Widerstand, ein Partisanentum des Geistes. Er wird immer wieder etwas erfinden, was der Konzern nicht bestellte und was jetzt diese eigenartige Dialektik auslöst, die Adam Smith in Wealth of Nation beschreibt, daß die Absichten von tausend egoistischen Teufeln dennoch untergründig an der Herstellung eines Gemeinwesens arbeiten.

S: Dann wären ja wir Geisteswissenschaftler an den Universitäten sozusagen Relikte des mittleren 19. Jahrhunderts.

K: Das würde Krahl bestätigen, er würde sagen, Sie sind gerade bei der Manufaktur angekommen, Sie arbeiten noch auf Plantagen, wenn Sie so wollen, und Ihnen steht die Versklavung bevor oder aber alternativ das industrielle Zeitalter der Intelligenz, und mit Hilfe dieser großen Maschinerien wie das Internet als Ganzes sie darstellt, werden Sie noch Lust haben, als einfacher Weber, hier an der großen Industrialisierung des Bewußtseins teilzunehmen.

S: So daß „Industrialisierung des Bewußtseins“ ein strikt analytischer Ausdruck ist und es auch keinen Sinn hat, einen Weberaufstand des Geistes zu versuchen?

K: Nein. Das würde Karl Marx, wenn er diese Frage studieren würde, sagen, und das hatte Krahl erahnt, geleitet vor allen Dingen von der Negativen Dialektik von Adorno.
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[Geschichte: Was ist Wahrheit]


S: Der zentrale Gedanke in Marx’ Kapital ist das Wertgesetz. Diese Geschichte legt nahe, dass das Wertgesetz, und damit der reale Kern unserer Gesellschaft, etwas Fiktives geworden ist.

K: Die Frage, was ist Wahrheit, läßt sich weder auf eineinhalb Seiten, noch auf siebentausend Seiten linear, also direkt beantworten. Eine andere Frage ist aber beantwortbar, nämlich, was ist wirklich, wenn das Wertgesetz nicht gilt? Und das scheint mir eine sehr aktuelle und wichtige Frage zu sein - wenn der Kapitalismus an sein eigenes Gesetz nicht gebunden ist, was ist der Kapitalismus dann? Das wird aber erst richtig interessant, wenn wir nicht uns nicht nur über die betrügerischen, ausbeuterischen Konzerne empören, sondern wenn wir die subjektive Seite des Wertgesetzes betrachten. Denn es muss ja massenhafte Zustimmung sich historisch herausgebildet haben, damit dieses Wertgesetz dauerhaft angewendet werden kann und historische Prozesse bestimmt. Auch wenn ich das nicht in einer Geschichte alles fassen kann, kann man doch sagen, dass der Kapitalismus sozusagen seine Lebensflamme aus dem Warenfetisch bezieht. Der Warenfetisch ist aber in dem Herz eines jeden religiösen Menschen im sechzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert entzündet worden mit dem Funken: ich glaube nicht an diese Welt. Und um in eine andere zugelangen, entwickle ich Fleiß, Sparsamkeit und Hingabefähigkeit, also alle Tugenden, die zu einer Industrie gehören, die ich noch gar nicht kenne. Dadurch komme ich aus dem bäurischen Denken heraus und entwickle einen neuen Menschen. Das ist der einzige Fall den ich kenne, wo so etwas vor unseren Augen abläuft. Und dies geschieht mit einer kleinen Flamme im Herzen, die das Jenseits wünscht, sie ist eine sehr prekäre Flamme, denn sie läßt sich vom Lebenstrieb genauso nähren wie vom Todestrieb. Diese kleine Flamme, die dort entsteht, bringt bei den Puritanern beispielsweise auch Glutöfen an Vernichtungskraft hervor, mit der man Schlachten gewinnt, Erfindungen macht wie die Dampfmaschine, Kolonialreiche entwickelt und noch die dezentrale Verwaltung Indiens finanzieren kann. Das sind also gewaltige Seelenkräfte und die einzigen, die aufspaltbar sind und in der Aufspaltung noch Kräfte hinzugewinnen, so beschreibt das Marx. Und zu diesen Kräften gibt es jetzt ein Gleichgewicht, sozusagen das Ideal von Ricardo und Adam Smith, daß nämlich ein Wertgesetz damit sich gerade noch verträgt. Ich kann es als Geiz und als abstrakte Genußsucht analysieren, so tut es Marx, also zwei Eigenschaften die ich brauche, um kaufen und verkaufen zu können. Ich kann mich selbst verkaufen und das Liebste was ich habe verkaufen bis hin zur Ich-AG, aber ich habe dann immer noch etwas Liebstes, also z.B. meine Familie oder Gott, wofür ich das Ganze tue. Das ist das Gleichgewichtssystem in der inneren Balance-Ökonomie des modernen Menschen. Das ist im bürgerlichen Charakter zu einem ganz prekären und sehr radikalen und sehr, „fruchtbaren“ Trieb eines System geworden, eine Art Motor, ein gesellschaftliches Wesen. Das nimmt in imperialen Mächten der 30er Jahre im 20. Jahrhundert unterschiedliche Gesatlten an, also bei Chiang Kai-shek andere Gestalt als in Italien unter Mussolini oder bei Hitler. Aber auch bei Roosevelt entsteht sozusagen ein Bild der Vorstoßmöglichkeiten des menschlichen Gemeinwesens, das neu ist. Das alles muss untersucht werden, das haben wir alles noch gar nicht richtig begriffen. Inzwischen hat aber auf der Seite der Geisterwelt der objektiven Tatsachen, haben innere Entwicklungen den Kapitalismus quasi überholt, er hat selber Anker verloren.

S: So wie das z.B. Naomi Klein empirisch beschreibt – wenn ein Paar Turnschuhe in den Freihandelszonen der Dritten Welt mit 2 $ bezahlt, aber in Manhattan für 200 $ verkauft werden, dann muss man am Wertgesetz, dass nämlich Arbeit zu ihrem Wert bezahlt wird, zweifeln.

K: Ja. Jetzt muß man aber im Kopf haben, was das Wertgesetz ist, das ist ja ein sehr kompliziertes poetisches Gebilde, möchte ich mal so sagen.

S: Der Grundsatz ist, Waren verkaufen sich zu ihrem Wert, auch die Ware Arbeitskraft verkauft sich zu ihrem Wert.

K: Und der letzte Wert ist die Stunde Arbeit, die Stunde Lebenszeit, die eingeht in ein Produkt, die Grundnorm, da ändert sich die Qualität der Minuten nicht, ob ich nun ein Kaiser oder ein Bettler bin. Wenn ich etwa einen Stein umgerückt habe, einen Eimer voll geschippt habe, eine Schraube befestigt habe, dann ist das alles konkrete Lebenszeit, zwischen Geburt und Tod, also die Zeit, in der ich auch liebe oder hasse. Eine Stunde Lebenszeit ist gleich einer Stunde Lebenszeit, auf dieses Wertgesetz fällt alles nach einer Weile wieder zurück. Zwischendurch sind da Einbildungen, daß einer Milliardär wäre, oder daß einer, wie Goethe das so schön bezeichnet, die Kräfte von 60 Pferden hätte, was ja physisch, für bestimmte Autos zutrifft - er beherrscht das auf Zeit. Aber es ist letztlich doch wieder nur die Stunde, die er anwendet. Das ist etwas, was jeder Theologe genauso erklären könnte: Gott hat den Menschen eine Lebenszeit anvertraut und die kann man anwenden auf Arbeit. Und dem sind jetzt Ihre Turnschuhe so weit entronnen, daß man sagen kann, es mag das Wertgesetz gelten, aber es zeigt sich nicht mehr in der Wirklichkeit.
Meine Meinung ist aber im Grunde, daß das Wertgesetz nach wie vor gilt, das kann man gar nicht ändern, denn letztlich würden Sie in einer völlig gesponnenen, fiktionalen Welt Menschen nicht mehr zur Arbeit veranlassen können.

S: Gibt es dafür Beispiele?

K: Wenn Sie meinetwegen den Goldrush haben in San Francisco, dann ist auf eine bestimmte Zeit von Wochen, Monaten, Halbjahren das Wertgesetz aufgehoben. Denn ich kann schneller aufbrechen, andere Goldsucher ermorden und mir das aneignen, oder selbst Gold finden, als ich irgendwie in irgendwelcher Summe von Stunden irgend etwas erarbeiten kann. Einen Moment lang, wie Brecht das beschreibt in Mahagonny, scheint das Wertgesetz außer Kraft gesetzt zu sein. Das legt sich nach einem halben Jahr wieder, und es würde sich auch legen, wenn permanent Gold gefunden würde, dann würde ja der Wert des Goldes irgendwann niedersinken.

S: Dann würde der Gold- oder Geldfetisch Einbußen erleiden.

K: Ein Gegenbeispiel sind die erotischen Dinge oder z.B. die Schwangerschaft, d.h. das Wertgesetz ist als Zeitmaß für Entwicklung in der Natur verankert. Eine Schwangerschaft dauert unabänderlich neun Monate, und gegenseitge Liebe läßt sich nicht auf Befehl herstellen, sondern braucht ihre Zeit. Das können Sie nie ändern. Ich habe hier eine Szene beschrieben, wie der große Mann Napoleon von seinen Karten abgerufen wird, in ein Nebenkabinett geführt wird, wo schon eine Frau für ihn vorbereitet ist und er versucht sie jetzt zu penetrieren. Er kann das auch, er ist ein sehr potenter Mann, er hat eine sehr schnelle Phantasie. Aber er verletzt die Frau, die Natur braucht eine lange Zeit, um zärtlich zu werden, um sozusagen Säfte abzusondern.

Der Zeitdruck, der auf dem Mächtigen liegt. Die Macht, Kapital- oder politische Macht, versucht immer wieder, für Menschen dieses eben auch in der Natur verankerte Wertgesetz außer Kraft zu setzen. Man kann aber mehr als menschliche Kräfte in einer Stunde machen können, dem Menschen nicht ernsthaft auf Dauer abverlangen, mindestens geht die Kommunikation dabei zugrunde und schlimmstenfalls entstünde irgendwann ein Monstrum. Diese natürliche Begrenzung, d.h. die Realisierung des Wertgesetzes, gilt nur, wenn Menschen und ökonomische Verhältnisse miteinander interagieren. Je weniger das geschieht, desto größer die reale Unwirklichkeit, die Geisterwelt der Fakten.